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35

Dienstag, den 4. Juni, gingen Esch und Huguenau über den Marktplatz. Es war Regenwetter. Beleibt und rundlich, mit offenem Überrock, stolzierte Huguenau einher. Wie ein Sieger, dachte Esch giftig.

Als sie beim Rathaus einbogen, begegnete ihnen eine traurige Eskorte: gefesselt, flankiert von zwei Mann mit aufgepflanztem Seitengewehr, vielleicht vom Bahnhof oder vom Gerichtsgebäude kommend, wurde ein deutscher Soldat ins Gefängnis geführt. Es war Regenwetter, die Tropfen klatschten dem Mann ins Gesicht, und um sie wegzuwischen, mußte er von Zeit zu Zeit die aneinandergeschlossenen Hände heben und sein Gesicht an ihnen reiben; das war eine ungeschickte und zugleich rührende Gebärde.

»Was ist's mit dem?« fragte Esch den ebenfalls etwas betroffenen Huguenau.

Huguenau zuckte die Achsel, murmelte etwas von Raubmord und Kinderschändung: »Oder er hat einen Pfarrer erstochen … mit einem Küchenmesser.«

Esch wiederholte: »Mit einem Messer erstochen.«

»Wenn's ein Deserteur ist, wird er erschossen«, schloß Huguenau den Fall ab, und Esch sah das Kriegsgericht in dem wohlbekannten Schwurgerichtssaal tagen, sah den Stadtkommandanten als Gerichtsherrn, hörte dessen mitleidslosen Urteilsspruch und sah, wie der Mann im klatschenden Regen in den Gefängnishof geführt wird, und wie er angesichts des Exekutionspeletons zum letzten Male sein Antlitz, auf dem Wasser, Tränen und kalter Schweiß zusammenfließen, an den gefesselten Händen abwischt.

Esch war ein Mensch impetuoser Haltungen; die Welt schied sich ihm in Schwarz und Weiß, schien ihm von einem Spiel böser und guter Kräfte beherrscht. Aber seine Impetuosität schob ihm oftmals die Person vor die Sache, und er war schon nahe daran, nicht den kalten grausamen Militarismus, sondern den Major für die Unmenschlichkeit, die an dem armen Deserteur verübt werden würde, verantwortlich zu machen, und schon wollte er zu Huguenau sagen, daß der Major ein Schwein sei, – als es plötzlich nicht stimmte: plötzlich kannte man sich nicht aus, denn plötzlich war es unfaßbar, daß der Major und der Verfasser jenes Artikels identisch sein sollten.

Der Major war kein Schwein, der Major war etwas Besseres, der Major war plötzlich von der schwarzen auf die weiße Seite der Welt gerückt.

Esch hatte den Leitartikel in aller Deutlichkeit vor Augen, und die zwar nicht völlig klaren, doch edlen Gedanken des Majors waren für ihn klar und groß, dünkten ihn wie ein Teil des höheren Auftrags, für die Freiheit und Gerechtigkeit der Welt zu sorgen, und das war um so bemerkenswerter, als er darin einen Teil seiner eigenen Aufgabe und das Ziel wiederfand, allerdings so sehr zu erhöhtem und lichtem und gelöstem Ausdruck verwandelt, daß er alles, was er selber hiezu gedacht oder getan hatte, nun als dumpf, eng, alltäglich und kurzsichtig empfand. Esch blieb stehen: »Man muß zahlen«, sagte er.

Huguenau war unangenehm berührt: »Sie haben leicht reden, Sie werden nicht erschossen.«

Esch schüttelte den Kopf, machte eine wegwerfende und ein wenig hoffnungslose Handbewegung: »Wenn es bloß darauf ankäme, … auf die Anständigkeit kommt es an … wissen Sie, daß es eine Zeit gegeben hat, in der ich einem Freidenkerverein beitreten wollte!«

»Und wenn schon«, sagte Huguenau.

»Sie sollten nicht so reden«, sagte Esch, »an der Bibel ist doch was dran. Lesen Sie nur mal den Artikel des Majors.« »Feiner Artikel«, sagte Huguenau.

»Also?«

Huguenau dachte nach: »Noch einen Artikel wird er uns kaum schreiben, … jetzt müßte man etwas anderes bringen … aber das muß ich natürlich wieder alleine machen, Ihnen fällt ja rein gar nichts ein. Und dabei wollten Sie eine Zeitung herausgeben!«

Esch sah ihn verzweiflungsvoll an; mit so einem Stück Fleisch war offenbar nicht weiterzukommen, der Kerl verstand nicht oder wollte nicht verstehen. Esch hätte ihn gern verdroschen. Er schrie ihn an: »Wenn Sie der Engel sein sollten, der zu ihm getreten ist, um ihm zu dienen, dann bin ich schon lieber der Teufel.«

»Wir sind alle keine Engel«, philosophierte Huguenau.

Esch gab es auf; sie waren ohnehin schon daheim.

Im Flur spielte Marguerite mit ein paar Jungen aus der Nachbarschaft. Sie schaute böse auf, weil man sie störte, aber Esch kehrte sich nicht daran, packte sie und setzte sie sich auf den Nacken, hielt sie an den Beinen fest.

»Achtung auf die Türen«, rief er und duckte sich an der Schwelle.

Huguenau kam hinterdrein.

Als sie die Treppe hinaufklommen und Marguerite, hoch über dem Geländer schwebend, auf den sonderbar vergrößerten Hof und den schwankenden Garten hinabblickte, bekam sie Angst; sie griff mit ihren harten Kinderfäusten nach Eschs Stirn, versuchte, sich in seinen Augenhöhlen festzukrallen.

»Ruhe da droben«, kommandierte Esch, »Achtung auf die Tür.« Aber es nützte nichts, daß er sich bückte: Marguerite machte sich steif, warf den Oberkörper zurück, bumste mit dem Kopf gegen das Türsims und begann zu heulen. Esch, der von altersher gewohnt war, weinende Frauen durch körperliche Berührung zu beschwichtigen, ließ das Kind in Kußhöhe herabgleiten, doch nun strampelte es, fuhr ihm wieder in die Augen, so daß er wohl oder übel es zu Boden stellen und laufen lassen mußte. Marguerite wollte entwischen, aber da stand Huguenau und machte Anstalten, sie abzufangen. Er hatte mit Vergnügen zugeschaut, wie die Kleine von Esch wegstrebte, und wenn sie nun statt dessen bei ihm geblieben wäre, so wäre das eine große Genugtuung gewesen. Freilich, da er nun ihr finsteres Gesicht sah, wagte er nicht, sie aufzuhalten, vielmehr spreizte er die Beine und sagte: »Hier ist das Tor.« Die Kleine begriff, lachte und kroch auf allen vieren durch das Tor.

Eschs Augen waren ihr gefolgt: »Die könnte einen umbringen wie nichts«, es klang wie Rührung, »so ein kleiner schwarzer Racker.« Huguenau saß ihm gegenüber: »Na, Ihren Geschmack scheint sie ja ganz gut zu treffen … aber ich muß mir jetzt doch bald einen eigenen Schreibtisch hier reinstellen.« – »Ich kann's nicht hindern«, brummte Esch, »wäre sowieso an der Zeit, daß Sie sich um die Redaktionsgeschäfte kümmerten.« Huguenaus Gedanken waren noch bei dem Kinde: »Die Kleine sitzt ja auch immer hier herum.« Esch lächelte ein wenig: »Kinder sind ein Segen und eine Plage, Herr Huguenau, aber das verstehen Sie nicht.« – »Das werde ich schon noch kapieren, daß Sie in das Kind vernarrt sind … warum würden Sie denn sonst ein fremdes kleines Biest adoptieren wollen.« – »Eigenes oder fremdes ist wurscht, das habe ich Ihnen bereits einmal gesagt.« – »Gar so wurscht ist das nicht, wenn ein anderer das Vergnügen gehabt hat.« – »Sie verstehen das nicht«, schrie Esch und sprang auf.

Er lief einigemal im Zimmer hin und her, dann ging er zu der Ecke, in der die Zeitungspakete aufgestapelt lagen, holte sich ein Blatt, es war die Festnummer, und begann, den Artikel des Majors zu studieren.

Huguenau sah ihm interessiert zu. Esch hielt den Kopf mit beiden Händen, seine kurzen grauen Haare standen borstig zwischen seinen Fingern, – er hatte ein leidenschaftliches, fast ein asketisches Aussehen, und Huguenau, der eine dunkel und unbehaglich aufsteigende Erinnerung abwehren wollte, sagte mit munterer Stimme: »Passen Sie auf, Esch, wie wir mit der Zeitung noch hochkommen werden.« Esch antwortete: »Der Major ist ein guter Mensch.« – »Ja«, sagte Huguenau, »aber denken Sie lieber darüber nach, was man aus dem Blatt machen könnte«, er war zu Esch hingetreten und, als wollte er ihn aufwecken, tippte er ihm auf die Schulter, »der Kurtriersche, der muß noch in Berlin und in Nürnberg verlangt werden, und im Hauptwachecafé in Frankfurt, Sie kennen doch Frankfurt, auch dort muß er aufliegen, … ein Weltblatt muß er werden.«

Esch gab nicht acht. Er wies mit dem Finger auf eine Stelle des Artikels: »So denn Werke niemand fromm machen und der Mensch muß fromm sein, ehe er Werke tut, … wissen Sie, was das heißt? daß es nicht auf das Kind ankommt, sondern auf die Gesinnung, fremdes oder eigenes ist wurscht, hören Sie, ist wurscht!«

Huguenau war irgendwie enttäuscht: »Ich weiß nur, daß Sie ein Narr sind und daß Sie die Zeitung auf den Hund gebracht haben mit Ihren Gesinnungen.« Sagte es und verließ den Raum.

Die Türe war schon lange zugefallen, und Esch saß noch immer da, starrte auf die Türe, saß und grübelte. Klar war's ja nicht, aber mit der Gesinnung konnte der Huguenau immerhin recht haben. Nichtsdestoweniger schien es, als dürfte jetzt Ordnung werden. Die Welt war geteilt in Gut und Böse, in Soll und Haben, in Schwarz und Weiß, und wenn es auch vorkommen mochte, daß ein Buchungsfehler unterlief, so war er auszumerzen, und man wird ihn ausmerzen. Esch war ruhiger geworden. Friedlich ruhten seine Hände auf den Knien, er saß ruhig, blickte durch geschlossene Lider auf die Türe, sah durch geschlossene Lider das ganze Zimmer, welches nun seltsam in eine Landschaft überging – oder war es eine Ansichtskarte? – und nun wie ein Kiosk war unter grünen Bäumen, Bäumen des Badenweiler Schloßbergs, er sah das Antlitz des Majors, und es war das Antlitz eines Größeren und Höheren. Und Esch saß so lange, daß voll Verwunderung er nicht mehr wußte, wo er hingeraten war, und nur mit Mühe fand er zu seiner Lektüre zurück. Zwar hätte er den Artikel Satz für Satz auswendig hersagen können, doch er zwang sich, weiterzulesen, und er wußte nun wieder, wohin er auf dieser Welt gehörte. Denn die Betrachtungen des Majors, die an das deutsche Volk gerichtet waren, hatten auf einen, wenn auch nicht bedeutenden Teil der Nation ihre Wirkung ausgeübt, und dieser Teil war eben Herr Esch.

 


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