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Es geschah selten genug, daß Hanna Wendling in die Stadt kam. Sie haßte den Weg, und nicht nur die staubige Landstraße, was schließlich zu verstehen gewesen wäre, sondern auch den Pfad längs des Flusses. Dabei waren es kaum 25 Minuten und auf der Straße gar nur eine Viertelstunde. Im Grunde hatte sie den Weg niemals leiden mögen, selbst zu jener Zeit nicht, als sie Heinrich noch täglich aus der Kanzlei abgeholt hatte. Später gab's das Auto, allerdings nur für ein paar Monate, denn dann kam der Krieg. Heute hatte Dr. Kessel sie in seinem Einspänner zur Stadt mitgenommen.
Sie machte Einkäufe. Ihr neues Kleid reichte bloß bis zum Knöchel und sie spürte die Blicke der Menschen auf ihren Füßen. Sie besaß ein gutes Gefühl für die Mode, hatte es immer besessen, sie spürte die Mode, so wie einer zur bestimmten Stunde aufwacht und nicht auf die Uhr zu schauen braucht. Modejournale waren für sie stets nur eine nachträgliche Bestätigung. Und daß ihr die Leute auf die Füße blickten, das war auch wie eine Bestätigung. Es gibt natürlich viele Menschen, welche pünktlich aufzuwachen verstehen, und viele Frauen mit gutem Gefühl für die immanente Logik der Mode gibt es, der Mensch aber, dem solche Fähigkeit zu eigen ist, hält sich zumeist für den einzigen dieser Art. So war Hanna Wendling jetzt ein bißchen stolz, und wenn sie auch bloß ahnte, daß der Stolz unberechtigt war, so machte sich dennoch ein Anflug schlechten Gewissens bemerkbar angesichts all der abgezehrten Frauen, die vor dem Bäckerladen Polonaise standen. Allein wenn man bedachte, daß mit ein wenig Sinn für das Modische eine jede dieser Frauen sich den Rock kürzen könnte, da es ja fast gar keine Kosten verursacht – das Stubenmädchen war damit in einer Stunde fix und fertig gewesen, trotz des frischen Besatzes –, so war hinwiederum der Stolz nicht unberechtigt, und weil Stolz gute Laune erzeugt, so kam es, daß Hanna Wendling sich weder über die schwarzen Fingernägel des Grünwarenhändlers ärgerte, noch über die Fliegen, die im Laden herumtanzten, und für den Augenblick machte es ihr auch kaum etwas aus, daß ihre Schuhe staubig waren. Wie sie so durch die Straßen schlenderte und einmal bei dem, ein andermal bei jenem Schaufenster stehenblieb, hatte sie zweifelsohne jenes mädchen- oder nonnenhafte Aussehen, das man – im Kriege war diese Beobachtung häufig zu machen – an Frauen finden wird, die längere Zeit von ihren Männern getrennt sind und ihnen die Treue halten. Doch weil Hanna Wendling jetzt ein wenig stolz war, hatte sich ihr Gesicht entschleiert, und jener undefinierbare zarte Schleier, der wie ein Vorbote dämmernden Alterns auf solchen Gesichtern liegen kann, war von unsichtbarer Hand weggezogen worden: das Antlitz glich einem ersten Frühlingstag nach einem allzu langen Winter.
Dr. Kessel, der Visiten in der Stadt absolvierte, um hierauf ins Lazarett hinauszufahren, sollte sie wieder zu Hause absetzen; sie hatte sich mit ihm bei der Apotheke verabredet. Als sie hinkam, stand der Einspänner bereits dort, und Dr. Kessel plauderte mit Apotheker Paulsen. Was von Apotheker Paulsen zu halten war, das brauchte man Hanna Wendling nicht zu sagen, ja, sie besaß vielleicht die über diesen Einzelfall hinausgehende Erkenntnis, daß alle Männer, die sich von ihren Frauen betrogen wissen, eine besondere und besonders hohle Galanterie gegenüber anderen Frauen an den Tag legen; und trotzdem war sie geschmeichelt, als er mit den Worten: »Welch charmanter Besuch, wie ein holder Frühlingstag«, ihr entgegenstürzte. Denn so radikal Hanna Wendling sonst Menschen in Bausch und Bogen abzulehnen und abzutun pflegte, heute, da sie sich gelöst und frei fühlte, war sie selbst den Komplimenten eines hohlen Apothekers zugänglich, – es war ein Pendeln von einem Extrem ins andere, ein Schwanken zwischen völliger Verschlossenheit und völliger Gelöstheit, eine Maßlosigkeit der Haltung, wie sie bei verkrampften Menschen vorzukommen pflegt und die sicherlich nicht die Maßlosigkeit der Renaissancepäpste ist, wohl aber die Haltlosigkeit und die Insignifikanz eines bürgerlichen Menschen, dem die Wertinstinkte fehlen. Zumindest ließe sich behaupten, daß es Mangel an Wertinstinkt war, der jetzt Hanna Wendling, die auf der roten Plüschbank in der Apotheke Platz genommen hatte, dazu veranlassen konnte, den Apotheker Paulsen mit freundlichen Blicken anzustrahlen und seiner Lyrik einen Gehalt zu verleihen, an den sie zugleich glaubte und nicht glaubte. Ja, sie war Dr. Kessel, den die Pflicht ins Lazarett rief, ausgesprochen böse, weil er zum Aufbruch mahnen mußte, und als sie neben ihm in dem Wagen saß, hatte sich der Schleier wieder über ihr Gesicht gebreitet.
Einsilbig war sie auf dem Weg, einsilbig zu Hause. Sie verstand wieder einmal nicht, warum sie sich so sehr wehrte, für die Dauer des Krieges ins Frankfurter Vaterhaus zurückzukehren. Daß in dem kleinen Städtchen die Verköstigung leichter durchzuführen war, daß sie die Villa nicht allein stehen lassen durfte, daß die Luft hier dem Jungen zuträglicher sein sollte, das waren Scheingründe, die bloß dazu dienten, den seltsamen Zustand der Entfremdung zu bemänteln, einer Entfremdung, die sich nicht wegleugnen ließ. Menschenscheu war sie, das hatte sie auch zu Dr. Kessel gesagt; »menschenscheu« wiederholte sie, und während sie es aussprach, war es, als ob Heinrich dafür verantwortlich zu machen wäre, genau so, wie sie ihm vorwarf, daß der Messingmörser aus der Küche an die Metallsammlung abgeliefert worden war. Selbst auf den Jungen erstreckte sich diese geheimnisvolle Entfremdung. Wenn sie in der Nacht aufwachte, kostete es Mühe sich vorzustellen, daß der Junge im Nebenzimmer schlief und daß dies ihr Kind sein sollte. Und wenn sie ein paar Töne am Klavier anschlug, so war es nicht mehr ihre Hand, die es tat, sondern es waren fremde unbewegliche Finger geworden, und sie wußte, daß sie sogar die Musik verlieren werde. Hanna Wendling ging ins Badezimmer, um den Stadtvormittag von sich abzuwaschen. Dann betrachtete sie sich sorgsam im Spiegel, suchend, ob dies noch ihr Gesicht sei. Sie fand es, fand es aber so seltsam überschleiert, und obwohl ihr dies eigentlich gefiel, machte sie dennoch Heinrich dafür verantwortlich.
Im übrigen ertappte sie sich jetzt öfters dabei, daß ihr sein Name nicht zuhand war und daß sie ihn dann auch für sich so nannte, wie sie ihn vor den Dienstboten zu bezeichnen pflegte: Dr. Wendling.