Anonym
Der Heliand
Anonym

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Die Ehebrecherin

                  Noch ließ man ihn nicht ledig:   sie ließen ein Weib
Vor dem Volk herbeibringen,   die ein Verbrechen begangen,
Gar frechen Frevel:   Die Frau war
Im Ehbruch ertappt   und des Todes schuldig:
Das Leben sollte sie   verlieren darum,
Ihr Alter enden:   so verordnete das Gesetz.
Da legten die Falschen   ihm die Frage vor
Mit boshaften Worten,   was sie dem Weibe tun sollten,
Sie am Leben lassen   oder am Leibe strafen,
Oder was er für die Tat   ihr erteilen wolle:
»Du weißt, wie unserm Volke   Moses befohlen hat
Mit weisen Worten,   die Weiber sollten
Durch Eheverletzung   das Leben verwirken:
Zu Tode geworfen   werden sie von dem Volk
Mit starken Steinen.   Hier steht nun eine,
Auf der Tat ertappt:   was erteilst du ihr?«
Die Widersacher wollten ihn   mit Worten fangen,
Denn wenn er lehrte,   sie sollt am Leben bleiben,
Ihre Seele schützend,   sollten die Juden sagen,
Er widersetze sich   dem Gesetz ihrer Väter,
Dem Landrecht der Leute;   und ließ' er sie am Leben strafen,
Das Weib vor der Menge,   so wollten sie sagen, die Milde
Berg' er nicht in der Brust,   die Gottes Gebornem zieme.
So sollte, was er auch sagte,   der Sohn des Herrn
Seiner Worte wegen   gescholten werden,
Wenn er sein Urteil erteilte.   Aber der teure Herr
Wußte der Männer   Mutgedanken wohl,
Ihren widrigen Willen,   und erwiderte so
Vor den Anwesenden all:   »Wer von euch sich aller
Frevel frei weiß,   der trete vor sie
Und schleudre, der erste,   aus seinen Händen
Den Stein auf sie.«

                                    Da standen die Juden,
Dachten und sannen:   der Degen keiner wußte
Auf seinen Ausspruch   die Antwort zu finden.
Die Männer gedachten   ihrer Meingedanken,
Ihrer Sündenschuld:   so sicher wußte sich keiner,
Daß er nach den Worten   zu werfen getraute
Den Stein auf die Frau.   Sie ließen sie stehen
Allein an dem Ort,   und abseits alsobald
Gingen die gramharten   Judenleute,
Einer nach dem andern,   bis ihrer keiner aushielt
Des feindlichen Volkes,   der fürder gedachte
Der Ehebrecherin   das Alter zu kürzen.

Da fragte die Frau   das Friedenskind Gottes,
Aller Gebornen bester:   »Wo blieben die Juden,
Deine Widersacher,   die dich verklagen wollten?
Haben sie dir heute   keinen Harm getan,
Kein Leid, die Leute,   die dir ans Leben wollten,
Dich schwer versehren?«   Da sagte das Weib,
Nein, niemand hab ihr   durch des Nothelfers
Heilige Hilfe   irgend Harm getan,
Ihrem Laster zu Lohne.   Da sprach der Leute Herr,
Der allwaltende Christ:   »So will ich auch dir nichts tun,
Geh heil von hinnen.   Im Herzen nur sorge,
Daß du hinfort nicht wieder   in Sünde verfällst.«
So hatt ihr geholfen   das heilige Gotteskind,
Ihr Leben gefriedet.


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