Anonym
Der Heliand
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Das Gleichnis vom Weinberge

                                So lehrte die Leute   mit lichtvollen Worten
Der Gebornen bester;   der Bilder sagt' er viel
Und manche der Menschheit,   der mächtige Herr.
So, sagt' er auch, sammelte   ein seliger Mann einst
Männer am Morgen   und verhieß ihnen Miete,
Der Herr des Hauses,   gar holden Lohn,
Denn jedem von ihnen   gab er am Abend
Eine Silbermünze.   So sammelt' er viel
Der Werkner im Weinberg   und wies jedem sein Werk
In der Frühe schon an.   Andre kamen am Vormittag,
Nach Mittag erst manche   der Männer zum Werk,
Andre noch zur None,   um die neunte Stunde
Des sommerlangen Tages,   und zuletzt noch einige
Um die eilfte Stunde.   Als der Abend kam,
Die Sonne sich senkte,   da sandte der Herr
Seinen Amtmann hin   zu den Arbeitsleuten,
Daß er männiglich   seine Miete zahle,
Den Arbeitslohn.   Zuerst hieß er denen geben,
Die von den Leuten   die letzten gekommen
Waren in den Weinberg,   und so wollt er auch,
Daß den Liedlohn jene   zuletzt empfingen,
Die zuallererst   sich eingestellt
Zum Werk in dem Weinberg.   Die erwarteten gewiß,
Daß man größern Lohn   ihnen geben werde
Für ihre Arbeit.   Allein man gab
Allen Leuten gleich.   Gar leid war das,
Ein Ärger allen   den Erstgekommenen:
»Wir kamen bei Tagesanbruch   und ertrugen viel
Und mancherlei Mühe,   unmäßige Hitze
Beim Sonnenschein,   und sollen nicht mehr
Als die andern haben,   die nur eine Stunde
Beim Werke waren!«   Da hielt sein Wort bereit
Der Herr des Hauses:   »Ich verhieß euch nicht mehr
Für euer Werk zu Lohn.   In meiner Gewalt muß es stehn,
Allen den gleichen   Lohn zu bezahlen,
Eures Werkes Wert.« –

                                          Der waltende Christ
Meinte doch mehr damit,   obwohl er vor den Männern
Von dem Weingarten nur   nach seinen Worten sprach,
Wie zu ungleicher Zeit   die Arbeiter kamen
Zu dem Werk im Weinberg,   so von der Welt dereinst
Der Helden Kinder   an das herrliche Licht
In der Gottesau.   Mancher beginnt sich dazu
Schon in der Kindheit zu rüsten   und erkiest sich dazu
Willigen Mut:   er meidet das Weltliche
Und verläßt die Lust,   sein Leib verlockt ihn
Nicht zu wüstem Leben,   er lernt Weisheit
Und Gottes Gesetz   und scheut der Gramgeister,
Der feindlichen, Fallstrick:   das fährt er fort, beständig
In diesem Licht zu leisten,   bis da kommt seines Lebens,
Seines Alters Abend,   daß er aufwärts wandert.
Da wird ihm seine Arbeit   dann all gelohnt,
Mit Gutem vergolten   in Gottes Reiche.
Das waren die Werkner,   die im Weingarten
In der Frühe, die ersten,   arbeitsam
Beim Werke waren   und weiter förderten
Die Arbeit bis zum Abend.   Andere kamen zur Mittagszeit,
Die hatten den Morgen   müßig verbracht,
Die Zeit verzettelt!   So zaudert der Toren mancher,
Der abgeirrten,   der nach allerlei Dingen
In der Jugend jagt   und mit Selbstruhm die Jagd sich,
Die leidige, lohnt,   mit viel losen Worten,
Bis die kindischen Jahre   ihm verkommen sind
Und die Gnade Gottes   den Jüngling mahnt
Freudig in seiner Brust:   dann fängt er an sich zu bessern
In Worten und Werken   und wendet zum Frommen
Sein Leben bis zu Ende.   Für das alles wird ihm Lohn,
Für die guten Werke,   in Gottes Reiche.
Mancher läßt von Meintat   erst mitten im Leben,
Von schweren Sünden,   strebt nach seligen Dingen,
Beginnt durch Gottes   Kraft nun gute Werke,
Bessert böse Reden,   läßt die bittre Tat
Sich im Herzen gereuen:   so kommt ihm Hilfe von Gott,
Daß ihn der Glaube geleitet,   solang sein Leben währt.
So fährt er dahin   und empfängt den Dank,
Guten Lohn von Gott;   es gibt nicht bessern.
Mancher fängt erst später an,   als erfahrener Mann
Auf des Alters Neige:   dann wird seine Übeltat
In diesem Licht ihm leid,   die Lehre Gottes
Ermahnt sein Gemüt,   milder wird sein Herz,
Güte durchdringt ihn,   und Vergeltung empfängt auch er,
Das hohe Himmelreich,   wenn er von hinnen scheidet,
Den gleichen Liedlohn,   wie er den Leuten ward,
Die zur None des Tages,   um die neunte Stunde
In den Weingarten   zu wirken kamen.
Mancher bringt es hoch hinauf   und büßt die Sünde nicht,
Häuft Übel auf Übel,   bis ihm der Abend naht,
Das Alter seine Wonne raubt:   so beginnt er Weh zu fürchten,
Sorgt um seine Sünde,   gedenkt, was er Schlimmes verübte,
Solang er der Jugend genoß:   dann kann er nicht mehr gutmachen
Die traurigen Taten,   sondern schlägt alle Tage
Die Brust mit beiden Händen,   weint bittre Tränen
Mit lautem Schluchzen   und bittet den lieben Herrn,
Den mächtigen, ihm mild zu sein.   Der mag ihn nicht verzweifeln lassen,
So barmherzig ist der Herrscher der Welt,   will keinem hienieden
Den Wunsch verweigern:   der Waltende gibt auch ihm
Das heilige Himmelreich,   und geholfen ist ihm auf ewig.
Alle sollen sie Gnade finden,   obwohl sie zur gleichen Zeit
Nicht kommen, die Kinder der Menschen:   der kraftreiche Herr will
Allen Leuten lohnen,   die an ihn geglaubt haben.
Ein Himmelreich gibt er   allen Völkern,
Allen Leuten zu Lohn.   Das lehrt' uns der mächtige Christ,
Der Gebornen bester,   als er bildlich sprach
Von dem Weingarten,   zu dem die Werkleute kamen
Zu ungleicher Frist,   und doch all empfingen
Den vollen Liedlohn:   so sollen alle Lebenden
Von Gottes Güte   Vergeltung empfahen,
Sehr lieblichen Lohn,   auch die zuletzt gekommen sind.


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