Anonym
Der Heliand
Anonym

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Gefahr des Reichtums

                                                Da kam dem Lehrenden
Ein junger Mann entgegen   und fragte Jesum Christ:
»Guter Meister,   was muß ich tun,
Damit ich das Himmelreich   erhalten möge?«
Er hatte sich Erbgüter   in Überfluß gewonnen,
Großen Schatzeshort,   obgleich er milden Sinn
Barg in der Brust.   Da sprach Gottes Geborner:
»Was nennst du mich gut?   Das ist niemand hienieden:
Der ist es allein,   der alles erschuf,
Welt und Wonne.   Wenn du den Willen hast,
Daß du in Gottes Licht   gelangen möchtest,
So halte hier   die heilige Lehre,
Die im Alten Bunde   geboten ward:
Keinen Menschen morde;   schwöre nicht Meineid,
Fliehe den Ehebruch   und falsches Zeugnis,
Hader und Hinterlist;   sei nicht hartes Herzens,
Neidisch und gehässig;   Notraub meide
Und alle Untat;   sei den Eltern gut,
Vater und Mutter,   und den Freunden hold,
Dem Nächsten geneigt:   so genießest du
Des Himmelreiches,   wenn du das halten willst
Und Gottes Lehre folgen.«   Da sprach der junge Mann:
»Das hab ich alles geleistet,   wie du jetzt mich lehrst
Und warnend weisest.   Davon wich ich niemals
Seit meiner Kindheit.«   Da sah ihn Christ
Mit den Augen an:   »Eines gebricht dir doch
Wohl an den Werken:   wenn du den Willen hast,
Daß du in Demut   dienen möchtest
Deinem himmlischen Herrn,   so nimm deinen Hort,
Veräußre alle   deine Erbgüter,
Die teuern Schätze,   und heiß' sie verteilen
Unter die Armen:   so hast du immerdar
Einen Hort im Himmel.   Dann halte dich zu mir
Und folge meiner Fährte:   so hast du Frieden fürder.«
Da schufen Christi Worte   dem kindjungen Manne
Zu heftige Sorge:   es härmt' ihm den Sinn
Und sehrt' ihm das Herz.   Des Schatzes hatt er viel,
Des Wohlstands gewonnen:   er wandte sich wieder.
Dies war ihm unleicht   im Innern der Brust,
In seiner Seele schwer.   Da sah ihm nach
Christ, der Allwaltende,   und wider die Jünger
Sprach er, die guten:   »Zu Gottes Reich
Ist dem Reichen nicht leicht   emporzugelangen.
Einen Elefanten mag man,   ob unmäßig groß,
Durch ein Nadelöhr,   wie eng es sei,
Sanfter schieben,   als die Seele zum Himmel kommt
Des Überreichen,   der hier einzig hat
Wunsch und Willen   auf Weltschätze gewandt,
Herz und Mut,   und Gottes Macht nicht ansieht.«

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