Anonym
Der Heliand
Anonym

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Zacharias im Tempel

                Nun war die Zeit gekommen,   die bezeichnet hatten
Wohlweise Männer,   daß Gottes Weihtum
Zacharias versähe.   Da sammelte die Menge
Zu Jerusalem sich   der Judenleute
In weiter Weihestatt,   wo sie den Waltenden
Dienstlich bitten   sollten in Demut,
Den Herrn, seiner Huld,   daß der Himmelskönig
Des Leids sie erließe.   Die Leute stunden
Um das heilige Haus.   Der Gehehrte ging
Ein in das Innerste:   doch außen um den Tempel
Harrten die andern   all der Hebräer,
Bis der Vielerfahrne   gefördert hätte
Des Waltenden Willen.   Wie da den Weihrauch trug
Der Alte durch das Haus,   um den Altar gehend
Mit dem Rauchgeräte,   dem reichen Gott zu dienen
(Fromm vollführt' er   das frone Werk
In Gottes Jüngerschaft   eifrig und gern
Und mit lauterm Herzen,   wie man dem Herren soll
Gerne dienen),   ein Grauen kam ihm da,
Ein Schrecken im Tempel:   er sah einen Engel
Gottes am Weihort,   der wandte das Wort an ihn,
Hieß den Vielerfahrnen   nicht furchtsam sein,
Vertrauen sollt er.   »Dein Tun ist«, sprach er,
»Dem Waltenden wert   und deine Worte,
Zu Dank ihm dein Dienst,   da du andächtig bist
Zu des Einigen Kraft.   Sein Engel bin ich,
Gabriel geheißen,   der vor Gott immer steht,
Des Allwaltenden Antlitz,   wenn sein Auftrag mich nicht
In die Welt will senden.   Nun schickt er mich dieses Wegs,
Dir zu verkünden,   daß dir ein Knabe soll
Von deinem würdigen Weibe   geboren werden
An diese Welt,   ein wortbegabter.
Der soll im Leben   nicht Lautertrank trinken
Noch des würzigen Weins:   so ward das Geschick
Ihm vom Schöpfer gemessen   und der Macht Gottes.
Auch soll ich dir sagen,   er werd ein Gesinde sein
Des Himmelskönigs.   Drum haltet ihn wohl,
Erzieht ihn zärtlich:   der Zierde viel
In Gottes Reiche   will er ihm geben.«
Auch sprach er noch,   den Namen Johannes
Sollte haben der Sohn:   »So solltet ihr heißen
Das Kind, wenn es käme:   denn Christs Gefährte
Würd es einst werden   in dieser Welt,
Seines eigenen Sohns«,   und sprach, daß sie schleunig
Hierher auf seine Botschaft   beide kämen.

Da hub Zacharias an   und sprach zu dem hehren
Gottesengel;   er begann sich der Dinge
Zu wundern, der Worte.   »Wie war das möglich
Mit uns im Alter?   Es ist uns allzu spät
Zu solchem Gewinne,   wie deine Worte lauten.
Wir zählten beide   nur zwanzig Winter
Unseres Alters,   als ich das Weib mir nahm;
Zusammen nun sind wir   siebenzig Winter
Bank- und Bettgenossen,   seit ich zur Braut sie erkor.
Solange wir jung waren,   erlangten wir es nicht,
Daß uns ein Erbwart   zu eigen würde,
Neben uns zu nähren:   nun wir bei Jahren sind,
Bracht uns das Alter   um alle Tatkraft,
Ist das Gesicht uns schwach,   säumig der Gang,
Das Fleisch entfallen,   voll Falten die Haut,
Unser Wuchs geschwunden   und welk der Leib,
Ist unser Aussehn   viel übler als vordem,
Mut und Macht geringer,   als wir so manchen Tag
Waren in dieser Welt.   Drum dünkt es mich Wunder,
Wie das nach deinen Worten   werden möge.«

Da härmt' es im Herzen   den Himmelsboten,
Daß er seiner Werbung   so sich wunderte
Und des nicht gedachte,   daß ihn der heilge Gott
So alljung mochte,   wie voreinst er war,
Wiederum wandeln,   wenn er nur wollte.
Zur Strafe beschied er ihm,   daß er kein Wort mehr sprechen,
Mit dem Munde melden   mochte, »bevor dir
Dein altes Ehgemahl   den Erben brachte
Kindjung geboren   von guter Gestalt
Wonnig zu dieser Welt:   dann sprichst du wieder,
Hast der Stimme Gewalt,   darfst nicht mehr stumm sein
Ferner wie zuvor.«   Das erfüllte sich sofort
Und wurde Wahrheit,   wie es am Weihort sprach
Des Allwaltenden Engel.   Der alte Mann ward
Der Sprache beraubt,   obwohl er spähen Sinn
Noch barg in der Brust.

                                          Bis an den Abend
Hielt vor dem Heiligtum   die harrende Menge,
Verwundert, warum doch   der würdige Mann,
Der vielerfahrne,   so lang am Fronaltar
Das Opfer verziehe,   wie kein andrer getan,
Wenn er im Weihtum   des Waltenden Dienst
Versehen sollte.   Da schritt der Erfahrene
Daher aus dem Heiligtum.   Die Helden drängten sich
Mächtig näher:   ihre Neugier war groß,
Was er wohl Sicheres   sagen würde
Und Wahres weisen.   Doch kein Wort mocht er sprechen,
Den Leuten berichten;   nur mit der rechten Hand
Winkt' er der Menge,   daß sie des Waltenden
Lehre leisteten.   Die Leute dachten wohl,
Er habe ganz gewiß   irgendeine göttliche
Erscheinung gesehen,   könn er es auch nicht sagen
Noch weisen in Wahrheit.   Da hatt er des Waltenden
Opfer verrichtet,   wie ihm der Reihe nach
Das Amt geordnet war.


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