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Kali war der erste, der auf Staß' Schreien hinzukam, ihm folgten die zwei Schützen, die die vorherige Wache ablösen sollten, und etwas später die anderen Wa-hima und Samburu. Alle schrien aus vollem Halse und umstanden heulend den Platz des Verbrechens. Es war ihnen weniger um den Mord und um die Getöteten zu tun, als um den Rest des Wassers, den inzwischen der ausgeglühte Dschungelboden schon eingesogen hatte. Einige Neger warfen sich auf die Erde und gruben sich Erdklümpchen mit den Fingern heraus, um die Lippen mit der nassen Erde zu befeuchten. Andere riefen, daß böse Geister die Wache getötet und die Säcke zerschnitten hätten. Aber Staß und Kali wußten, was sie davon zu denken hatten. – Unter den um den Grashaufen heulenden Negern fehlten M'Kunje und M'Pua. In dem, was sich hier abgespielt hatte, lag mehr als der Mord zweier Wächter und der Diebstahl von Wasser. – Die zerschnittenen zurückgelassenen Säcke zeugten davon, daß es ein Racheakt und zugleich das Todesurteil für die ganze Karawane war. Die Priester des »bösen Mzimu« hatten ihre Rache genommen an dem guten. Sie hatten sich gerächt an dem jungen König, der ihre Schurkereien aufgedeckt und ihnen nicht länger erlaubt hatte, die unwissenden Wa-hima zu betrügen. – Die Flügel des Todes schwebten ausgebreitet über der ganzen Karawane wie die des Habichts über einer Taubenschar.
Kali erinnerte sich zu spät, daß er, mit seinen eigenen sorgenvollen Gedanken beschäftigt, vergessen hatte zu befehlen, die Zauberer zu fesseln, was er nach ihrer Flucht jeden Abend getan hatte. Es war klar, daß die zwei wachehaltenden Schützen sich mit der den Negern angeborenen Sorglosigkeit hingelegt hatten und eingeschlafen waren. Das erleichterte den beiden Schuften die Arbeit, und ließ sie ungestraft entfliehen.
Es währte ziemlich lange, bis sich die Verwirrung einigermaßen gelegt hatte, und die Leute sich wieder zu fassen vermochten. Jedoch die Verbrecher konnten noch nicht weit sein, weil der Erdboden, unter den zerschnittenen Säcken noch feucht, und das Blut der Gemordeten noch nicht völlig erstarrt war. Staß gab den Befehl, die Flüchtlinge zu verfolgen, nicht nur um sie zu bestrafen, sondern um die zwei letzten Wassersäcke zu retten. Kali bestieg ein Pferd, nahm einige Schützen mit sich und brach auf. Im ersten Augenblick wollte sich Staß der Verfolgung anschließen, dann aber bedachte er, daß er Nel nicht angesichts der Gereiztheit und Erregung, die die Neger beherrschte, allein zurücklassen konnte, und er blieb. Er empfahl nur Kali, Sabà mitzunehmen.
Er selbst blieb schon deshalb, weil er einen Aufruhr, hauptsächlich unter den Samburu, befürchtete. Aber darin hatte er sich geirrt. Die Neger sind im allgemeinen leicht aufbrausend, oft aus geringfügigem Anlaß, aber wenn ein großes Unglück hereinbricht und besonders, wenn die unerbittliche Hand des Todes über ihnen schwebt, ergeben sie sich gänzlich passiv in ihr Schicksal, – nicht nur diejenigen, die der Islam das Aussichtslose eines Kampfes mit dem ihnen bestimmten Schicksal gelehrt hat, sondern auch alle anderen. Weder Furcht noch Martern können sie in solchen Augenblicken aus dieser starren Ergebenheit reißen. So war es auch jetzt. Als die erste Erregung vorüber war und sie sich mit dem Gedanken, daß sie sterben müßten, in ihren Herzen völlig vertraut gemacht hatten, legten sie sich auf die Erde, um den Tod zu erwarten. Aufruhr stand also nicht zu befürchten, aber es fragte sich, ob sie morgen aufstehen und ihre Reise fortsetzen würden. Staß ergriff bei ihrem Anblick ein tiefes Mitleid mit ihnen.
Kali kehrte noch in derselben Nacht zurück; er legte zwei zerfetzte Säcke vor Staß nieder, in denen sich nicht ein Tröpfchen Wasser befand.
»Großer Herr!« sagte er, »Madi apana!«
Staß wischte die mit Schweiß bedeckte Stirn ab und fragte:
»Und M'Kunje und M'Pua?«
»M'Kunje und M'Pua tot«, antwortete Kali.
»Hast du befohlen, sie zu töten?«
»Löwe oder Wobo hat sie getötet.«
Und der junge König erzählte, was vorgefallen war. Sie hatten die Leichen der beiden Verbrecher ziemlich weit vom Lager entfernt auf der Stelle gefunden, wo sie der Tod ereilt hatte. Mit zerschmettertem Schädel, zerfleischten Schultern und abgefressenem Rücken lagen beide dicht beieinander. Kali nahm an, daß sie, als sich vor ihnen ein Löwe oder ein Wobo im Mondenschein zeigte, beide auf die Erde gefallen waren, um das Tier um Schonung anzuflehen. Aber das schreckliche Tier hatte sie dennoch getötet und, nachdem es seinen Hunger gestillt, das Wasser in den Säcken gewittert und sie daher zerfetzt.
»Gott hat sie gestraft,« sagte Staß, »und die Wa-hima werden sich davon überzeugen, daß der ›böse Mzimu‹ niemand zu retten vermag.«
Und Kali wiederholte: »Gott hat sie gestraft, aber wir haben kein Wasser!«
»Weit vor uns habe ich im Osten Gebirge gesehen. Dort muß Wasser sein.«
»Kali weiß das auch, aber es sind noch viele Tage bis dahin.« Schweigen folgte diesen Worten.
»Herr,« ließ sich Kali später wieder vernehmen, »möge der ›gute Mzimu‹, möge Bibi den großen Geist um Regen oder um einen Fluß bitten!«
Staß antwortete nichts, er ging fort. Vor dem Zelt erblickte er die weiße, kleine Gestalt Nels. Das Geschrei und das Geheul der Neger hatten sie schon vor langer Zeit aus dem Schlafe geweckt.
»Was gibt's denn, Staßchen?« fragte sie, indem sie ihm entgegeneilte.
Er legte seine Hände auf ihr Köpfchen und sagte ernst:
»Nel, bete zu Gott um Wasser, sonst müssen wir alle untergehen!«
Und das kleine Mädchen hob ihr blasses Gesicht gen Himmel, sah unverwandt auf die silberne Scheibe des Mondes und flehte den um Rettung an, der im Himmel die Sterne leitet und auf Erden den Wind nach der Wolle des Lammes richtet.
Nach einer schlaflosen, lauten und unruhigen Nacht stieg die Sonne am Horizont auf, und es wurde plötzlich heller Tag. Auf den Gräsern lag nicht ein Tropfen Tau, am Himmel war keine einzige Wolke. Staß befahl den Schützen, alle zu versammeln, und hielt eine kurze Ansprache. Er erklärte ihnen, daß es unmöglich sei, zu dem Fluß zurückzukehren, da ja, wie sie selbst wissen, fünf Reisetage und fünf Nächte sie von ihm trennten. Dagegen wisse niemand, ob sich in der entgegengesetzten Richtung Wasser befände. Vielleicht sei nicht weit entfernt eine Quelle, ein Flüßchen oder auch nur eine Lache. Bäume seien zwar nicht zu sehen, aber es komme oft vor, daß auf freien Ebenen, wo der Sturm den Samen fortwehen kann, selbst am Wasser keine Bäume stehen. Gestern hätten sie große Antilopen und Strauße gesehen, die gen Osten flohen, was ein Beweis dafür sei, daß sich dort irgendeine Tränkstelle befinden muß. »Deshalb, wer kein Dummkopf ist und kein Hasenherz in der Brust hat, sondern das eines Löwen oder Büffels, der wird mit mir vorwärts gehen, wenn auch unter Durst und Qualen. Es ist besser, als hier zu liegen und auf die Geier oder Hyänen zu warten!«
So schloß er seine Rede, und er wies dabei mit der Hand auf einige Geier, die schon ihre unheilverkündenden Kreise um das Lager zogen.
Nach diesen Worten standen die Wa-hima, den Kali mitzugehen befahl, fast alle auf, denn sie wagten es nicht, sich der schrecklichen königlichen Gewalt zu widersetzen. Aber viele der Samburu, deren König Faru am Basso-Narok geblieben war, wollten sich nicht mehr erheben, und sie sprachen zueinander: »Warum sollen wir dem Tode entgegengehen, wenn er selbst zu uns kommt?«
Die Karawane brach daher fast um die Hälfte kleiner zur Weiterreise auf. Aber alle waren von Anfang an schon sehr ermattet, denn seit vierundzwanzig Stunden hatten sie keinen Tropfen Wasser, noch irgendeine andere Flüssigkeit zu sich genommen. Sogar in einem kälteren Klima wäre das bei der Arbeit eine unerträgliche Qual, wieviel schlimmer aber war es hier bei dieser glühenden afrikanischen Hitze, wo sogar diejenigen, die reichlich trinken, das Wasser so schnell ausschwitzen, daß sie es als Schweiß fast in demselben Augenblicke wieder von der Haut abwischen können. Es war leicht vorauszusehen, daß viele Leute unterwegs vor Erschöpfung und vom Sonnenstich fallen würden.
Staß schützte Nel so gut wie er nur konnte vor der Sonne, er erlaubte ihr nicht, auch nur einen Augenblick den Kopf aus dem Palankin hinauszustecken, dessen Dach er mit einem Stück weißen Perkal bedeckt hatte, um es möglichst dicht zu machen. Aus dem Wasserrest, den er noch in der Gummiflasche hatte, bereitete er ihr kräftigen Tee, den er ihr kalt und ohne Zucker zu trinken gab, denn süßer Tee macht durstig. Nel drang unter Tränen in ihn, daß er auch trinken möchte, er aber setzte nur die Flasche, in der kaum mehrere Fingerhüte voll Wasser waren, an den Mund und bewegte die Kehle, als wenn er trinke. In dem Augenblick, als er die Feuchtigkeit an seinen Lippen fühlte, schien es ihm, als wenn ein Feuer in seinem Magen und in seiner Brust flammte, und daß er tot hinfallen müßte, wenn er es nicht löschte. Rote Flecken fingen an vor seinen Augen herumzufliegen, und in den Kinnbacken fühlte er einen durchdringenden Schmerz, wie von tausend Nadelstichen. Seine Hand zitterte so, daß er beinahe die letzten Tropfen verschüttet hätte; er selbst fing nur zwei bis drei Tropfen mit der Zunge auf, den Rest verwahrte er für Nel.
Wieder verfloß ein Tag voll entsetzlicher Leiden und Entbehrungen, dem zum Glück eine kühlere Nacht folgte. Aber am nächsten Morgen war es schon bei Tagesanbruch erschreckend heiß. Kein bißchen Wind war zu spüren. Wie ein böser Geist vernichtete die Sonne mit lebendigem Feuer die ausgedörrte Erde. Die Ränder des Horizonts waren ganz weiß. Soweit das Auge blickte, war nicht einmal eine Euphorbie zu sehen. – Nichts – nur die versengte, leere Ebene, die mit schwarzgesengten Gräsern und Heidekraut bedeckt war. Von Zeit zu Zeit grollte in weiter, weiter Ferne ein Donner, der aber angesichts des klaren Himmels kein Gewitter, sondern anhaltende Dürre verkündete.
Gegen Mittag, als die Glut am stärksten war, mußte man Rast machen. Die Karawane legte sich in dumpfem Schweigen auf den Erdboden. Es zeigte sich, daß ein Pferd gefallen war, und einige zehn Pagazi unterwegs liegen geblieben waren. Niemand dachte daran, während der Ruhezeit zu essen. Die Neger hatten eingefallene Augen und aufgeplatzte Lippen, die von getrocknetem Blut bedeckt waren. Nel atmete so schwach wie ein Vogel. Staß gab ihr daher die Gummiflasche, und indem er ihr zurief: »Ich habe getrunken, habe getrunken!« rannte er nach der anderen Seite des Lagers; denn er fürchtete, wenn er bliebe, so würde er ihr das Wasser fortnehmen oder verlangen, daß sie es mit ihm teile. – Das war vielleicht seine größte Heldentat während der ganzen Reise. Er selbst fing nun an, fürchterliche Qualen zu erleiden. Unentwegt tanzten rote Flecken vor seinen Augen, und in den Kinnladen fühlte er einen so starken Druck, daß er sie nur mit großer Anstrengung öffnen und schließen konnte. Die Kehle war ihm trocken, wie ausgebrannt, kein Speichel im Munde, die Zunge wie Holz. Erst jetzt begann für ihn und die anderen der Anfang der bevorstehenden Martern.
Immerfort hörte man am fernen Horizont das Grollen des Trockenheit kündenden Donners. Gegen drei Uhr, als die Sonne sich nach Westen zu neigen begann, stellte Staß die Karawane wieder auf die Beine und zog mit ihr gen Osten. Jetzt waren es kaum noch siebzig Mann, die ihm folgten, und auch von diesen legte sich von Zeit zu Zeit einer hin, um nicht wieder aufzustehen. Die Hitze hatte sich um einige Grade verringert, aber es war dennoch schrecklich heiß. In der unbeweglichen Luft schwebte es wie von Kohlendunst. Die Leute konnten kaum noch atmen, und auch die Tiere litten unsagbar. Eine Stunde nach dem Aufbruch fiel wieder ein Pferd, auf seiner heraushängenden Zunge stand nicht ein Tropfen Schaum. King, der an das trockene afrikanische Dschungel gewöhnt war, litt anscheinend weniger, aber er begann boshaft zu werden. Seine kleinen Augen funkelten in einem sonderbaren Glanz. Staß und hauptsächlich Nel, die von Zeit zu Zeit mit ihm sprachen, antwortete er mit einem glucksenden Laut, aber als Kali an ihm ahnungslos vorüberging, räusperte er sich drohend und schlug so mit dem Rüssel nach ihm, daß er ihn getötet hätte, wenn der Knabe nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen wäre.
Kalis Augen waren blutunterlaufen, die Adern am Halse angeschwollen und seine Lippen wie bei den anderen Negern aufgeplatzt. Gegen fünf Uhr trat er zu Staß und sprach mühsam mit matter Stimme:
»Großer Herr, Kali kann nicht weitergehen. Möchte es doch Abend werden.«
Und Staß überwand den heftigen Schmerz in seinen Kinnladen und antwortete mit Anstrengung:
»Schön, halten wir an. Die Nacht wird Linderung bringen.«
»Wird den Tod bringen«, flüsterte der junge Neger.
Die Neger warfen ihre Lasten ab, aber ihr im höchsten Maße erhitztes und eingedicktes Blut ließ sie nicht Ruhe finden. Sie legten sich diesmal nicht gleich auf die Erde. Ihre Herzen, ihre Pulsadern in den Schläfen, Händen und Füßen schlugen so heftig, als wenn sie jeden Augenblick bersten wollten. Ihre Haut, die auf ihrem ganzen Körper eingetrocknet und zusammengeschrumpft war, begann schmerzhaft zu jucken, in ihren Knochen empfanden sie eine unerhörte Unruhe, und ihre Eingeweide brannten wie Feuer. Einige gingen unruhig zwischen den Gepäckstücken auf und ab, andere sah man in einiger Entfernung bei den roten Strahlen der untergehenden Sonne in einer Reihe zwischen den trockenen Grasbüscheln herumgehen, als wenn sie irgend etwas suchten. Das währte so lange, bis ihre Kräfte völlig erschöpft waren. Dann fielen sie einer nach dem andern zur Erde, wo sie in Zuckungen verfielen. Kali kauerte neben Staß und Nel, rang mit offenem Munde nach Luft und rief zwischen zwei Atemzügen flehentlich:
»Bwana Kubwa, Wasser!«
Staß sah ihn mit stierem Blick an und schwieg.
»Bwana Kubwa, Wasser!«
Und nach einiger Zeit: »Kali sterben!« – –
Plötzlich näherte sich ihm Mea, die aus unbekannten Gründen den Durst am leichtesten ertrug und am wenigsten von allen litt. Sie setzte sich neben ihn, umschlang seinen Hals mit ihren Armen und sprach mit leiser, melodischer Stimme: »Mea will mit Kali zusammen sterben!«
Dann herrschte lange tiefes Schweigen.
Inzwischen war die Sonne untergegangen, und Nacht bedeckte die Gegend. Der Himmel wurde dunkelblau. Im Süden erglänzte das Sternbild des südlichen Kreuzes, und allmählich funkelten Scharen von Sternen am Himmelszelt über der Ebene. Der Mond stieg empor und sättigte die Finsternis mit seinem bläulichen Lichte, während sich im Westen die schmale und blasse Abendröte des Zodiakallichtes erstreckte. Ein Leuchten und ein bläulichroter Schimmer erfüllte die Luft, die dadurch einem unergründlich tiefen Schlunde glich, und noch immer stärker überflutete der Glanz die ganze Landschaft. Der Palankin, den man von Kings Rücken herunterzunehmen vergessen hatte, und die Zelte leuchteten wie weiß getünchte Häuser in hellen Nächten. Die Welt versank in Schweigen, und tiefer Schlaf umfing die Erde.
Und in dieser Stille, in dieser Ruhe der Natur heulten die Menschen vor Schmerz und warteten auf den Tod. Auf dem silbrigen Hintergrunde der Dunkelheit zeichnete sich die riesige Gestalt des Elefanten scharf ab. Die Mondstrahlen beleuchteten außer den Zelten die weißen Kleidungsstücke Staß' und Nels, die dunklen, zwischen den Heidekrautbüschen ganz zusammengeschrumpften Körper der Neger und die verstreut umherliegenden Gepäckstücke. Vor den Kindern saß, auf die Vordertatzen gestützt, Sabà mit zum Monde gerichtetem Kopf, und sein schmerzliches Heulen durchdrang die Stille der Nacht.
In Staß' Seele lebten nur noch wenige Gedanken, die sich alle in die dumpfe, verzweifelte Vorahnung verwandelten, daß es diesmal keine Hilfe gäbe, daß alle diese grenzenlosen Mühen und Entbehrungen, diese Leiden, die er ertragen, daß alle diese willensstarken und mutigen Taten, die er während der Reisen von Medinet nach Chartum, von Chartum nach Faschoda und von dort bis zu dem unbekannten See vollbracht hatte, nichts genützt hätten, und daß das unerbittliche Ende des Kampfes und des Lebens sich nahte. Und es war ihm um so schrecklicher, daß dieses Ende jetzt kam, wo sie sich auf der letzten Strecke ihrer Reise befanden, wo sie ihrem Ziel, dem Ozean, verhältnismäßig so nahe waren. Ach! er würde die kleine Nel nicht mehr an die Küste bringen, er würde sie nicht auf dem Schiff nach Port Said führen, sie nicht Herrn Rawlison übergeben und würde selbst nicht in seines Vaters Arme fallen und aus seinem Munde hören, daß er wie ein tapferer Junge, wie ein echter Pole gehandelt habe! Alles zu Ende, zu Ende! In einigen Tagen werden die Sonnenstrahlen tote Körper beleuchten und sie austrocknen wie die Mumien, die in Ägypten in den Museen den ewigen Schlaf schlafen. –
Die Hitze und die Qualen begannen seine Gedanken zu verwirren. Vorboten des Todes, Visionen und Halluzinationen überfielen ihn. Er hörte deutlich die Stimmen der Sudanesen und Beduinen, wie sie den dahinjagenden Kamelen »yalla, yalla!« zuschrien. Idrys und Gebhr erschienen ihm, der Mahdi lächelte ihm zu und fragte mit seinen wulstigen Lippen: »Willst du aus dem Quell der Wahrheit trinken?« – – Dann sah ihn der Löwe auf dem Felsen an, Linde gab ihm eine Glasdose mit Chinin und sprach: »Beeile dich, beeile dich, denn sonst stirbt die Kleine!« Und schließlich erblickte er nur noch das bleiche, so sehr geliebte Antlitz und zwei kleine Händchen, die sich ihm entgegenstreckten.
Plötzlich zuckte er zusammen und kam für wenige Augenblicke wieder zum Bewußtsein, denn ein leises, stöhnendes Flüstern Nels drang an sein Ohr:
»Staßchen! – – Wasser!« – –
Wie zuvor Kali, so erwartete auch sie nur von ihm Rettung.
Aber da er ihr zwölf Stunden vorher die letzten Tropfen gegeben hatte, so sprang er jetzt auf, und mit einer Stimme, in der ein Ausbruch von Schmerz, Verzweiflung und Mitleid zitterte, rief er:
»O Nel! Ich habe nur so getan, als ob ich trinke! Seit drei Tagen hatte ich nichts mehr im Munde!«
Und er ergriff verzweifelt mit den Händen seinen Kopf und floh, um nicht ihre Qualen zu sehen. Er rannte blindlings zwischen den Gräsern und dem Heidekraut umher, bis ihn die Kräfte völlig verließen und er auf einen verdorrten Busch niederfiel. Er war ohne Waffe. Ein Leopard, ein Löwe oder eine große Hyäne hätte eine gute Beute an ihm gefunden. Aber nur Sabà kam herbeigerannt, schnupperte an ihm herum und begann wieder zu heulen, als wenn er für ihn um Hilfe riefe.
Aber niemand kam zu Hilfe! Nur der stille, gleichgültige Mond schaute von oben auf ihn herab. Lange Zeit hindurch lag der Knabe wie tot. Ein kühler Windhauch, der plötzlich von Osten herüber wehte, brachte ihn erst wieder zu sich. Staß richtete sich hoch und versuchte nach einiger Zeit aufzustehen, um zu Nel zurückzukehren.
Der kühle Wind wehte zum zweitenmal. Sabà hörte auf zu heulen. Er wandte sich nach Osten und bewegte seine Nüstern. Plötzlich schlug er in dumpfem Baß noch einmal an, dann noch einmal, und darauf lief er vorwärts. Eine Zeitlang hörte man ihn nicht, aber dann ließ sich sein Gebell in der Ferne wieder vernehmen. Staß erhob sich schwankend auf seinen erstarrten Beinen und blickte dem Hunde nach. Die vielen Reisen, der lange Aufenthalt im Dschungel, die Notwendigkeit, alle Sinne in fortwährender Spannung zu halten, und die ständigen Gefahren hatten den Knaben gelehrt, auf alles, was sich vor ihm abspielte, scharf acht zu geben. Daher begann er instinktiv und gewohnheitsmäßig, trotz der Qualen, die er augenblicklich empfand, und trotz seiner halben Bewußtlosigkeit, das Gebahren des Hundes zu beobachten. Nach einiger Zeit kehrte Sabà wieder zu ihm zurück, sonderbar erregt und unruhig. Mehrmals richtete er seine Augen zu Staß empor, lief dann rings um ihn herum, rannte wiederum witternd und bellend im Heidekraut umher, kehrte nochmals zurück, und indem er schließlich Staß an seinem Anzug packte, fing er an, ihn nach der dem Lager entgegengesetzten Seite zu zerren.
Staß kam völlig zu sich.
»Was ist das?« dachte er. »Entweder ist Sabà vor Durst verrückt geworden, oder er wittert Wasser. – Aber nein! – Wenn Wasser in der Nähe wäre, so würde er hinlaufen, um zu trinken, und er hätte eine feuchte Schnauze. Ist es aber sehr weit von hier, so würde er es nicht wittern! – Wasser hat keinen Geruch. – Zu einer Antilope zieht er mich nicht, denn er wollte am Abend nicht fressen. – Zu Raubtieren auch nicht. – – Wohin also?« – Und plötzlich begann sein Herz in der Brust wie ein Hammer zu schlagen. – »So hat der Wind vielleicht den Geruch von Menschen herübergeweht? – Vielleicht liegt in der Ferne irgendein Negerdorf? – Vielleicht ist einer der Drachen angelangt am – – O Christus, barmherziger! – O Christus!« – – –
Der neu erwachte Hoffnungsschimmer gab ihm Kraft, und er lief zum Lager, trotz des Widerstandes des Hundes, der ihm fortwährend in den Weg lief.
Im Lager fiel sein Blick auf Nels weißschimmernde Gestalt, und ihre schwache Stimme schlug an sein Ohr. Dann stolperte er über den auf der Erde liegenden Kali, aber er achtete auf nichts. Als er das Gepäckstück erreicht hatte, in dem die Raketen waren, riß er es auseinander, nahm mit zitternden Händen eine heraus, band sie an einen Bambusstock, den er in eine Erdspalte hineinsteckte, schlug Feuer und zündete die aus dem Rohr heraushängende Schnur am unteren Ende an.
Einige Augenblicke später flog eine rote Schlange zischend und knatternd in die Höhe. Staß hielt sich mit beiden Händen an dem Stab fest, um nicht umzusinken, und seine Augen bohrten sich in die Ferne. Das Blut in seinen Adern an den Schläfen und an den Handgelenken hämmerte; sein Mund bewegte sich in heißem Gebet. Seine ganze Seele, seinen letzten Atemzug sandte er zu Gott.
Eine Minute verging, eine zweite, dritte, vierte. – Nichts und wieder nichts. Die Arme des Knaben fielen kraftlos herunter, sein Kopf neigte sich zur Erde, und eine unsagbare Wehmut durchflutete seine gequälte Brust.
»Vergebens! Vergebens!« flüsterte er. »Ich werde hingehen, mich zu Nel setzen und mit ihr zusammen sterben.«
Da plötzlich, weit, weit, auf dem silbernen Hintergrunde der Mondnacht schoß jäh ein Feuerband in die Höhe und löste sich oben in goldene Sternchen auf, die langsam wie große Tränen wieder zur Erde fielen. –
Und es geschah, daß die vor kurzem halbtoten Menschen um die Wette davonrannten, indem sie über die Heidekraut- und Grasbüschel herübersprangen. Der ersten Rakete folgte eine zweite, dritte. Dann trug der Wind ein schwaches Klopfen herüber, in dem man leicht ferne Schüsse erraten konnte. Staß befahl, aus allen Remingtongewehren zu feuern. Und von da an hörte die mit Karabinern geführte Verständigung nicht mehr auf und wurde immer deutlicher. Der Knabe bestieg ein Pferd, das wunderbarerweise auch wieder zu Kräften gekommen war, hielt Nel vor sich und sauste die Ebene entlang, dem rettenden Schall entgegen. Neben ihm her lief Sabà, und hinter ihnen trompetete King.
Die beiden Lager waren durch einen Raum von mehreren Kilometern getrennt, da man sich aber von beiden Seiten zu gleicher Zeit entgegeneilte, so dauerte der Weg nicht lange. Bald waren die Karabinerschüsse nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Noch eine Rakete stieg in die Luft empor, aber nicht weiter als in einer Entfernung von mehreren hundert Schritten. Dann blitzten viele Lichter auf, die bald darauf durch eine kleine Bodenerhebung wieder verdeckt wurden. Als Staß sie aber hinter sich hatte, befand er sich sogleich vor einer Reihe von Negern, die brennende Fackeln in ihren Händen hielten.
An der Spitze der Neger gingen zwei Europäer mit englischen Helmen auf den Köpfen und Karabinern in den Händen.
Mit einem Blick erkannte Staß in ihnen den Hauptmann Glen und Doktor Clary. – –