Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Einige Zeitlang konnte Staß vor Ermattung und Erregung kein Wort hervorbringen. Er stand, schwer atmend, vor dem auf dem Bett ruhenden Mann, der gleichfalls schwieg und ihn mit einem fast an Bewußtlosigkeit grenzenden Erstaunen ansah. Schließlich rief er:
»Nasibu, bist du es?«
»Ich bin hier, Herr«, antwortete der kleine Neger.
»Siehst du jemand? Und wer ist es, der vor mir steht?«
Aber bevor der Kleine noch antworten konnte, fand Staß die Sprache wieder.
»Herr,« sagte er, »ich heiße Stanislaus Tarkowski. Ich und die kleine Miß Rawlison sind aus der Gefangenschaft der Derwische entflohen, und wir halten uns im Dschungel versteckt. Aber Nel ist schwerkrank, daher flehe ich dich um Hilfe für sie an.«
Der Unbekannte sah, mit den Augen blinzelnd, eine Zeitlang auf den Knaben, dann rieb er sich seine Stirn mit der Hand.
»Ich sehe nicht nur, ich höre auch«, sprach er wie zu sich selbst. »Das ist keine Täuschung! – Was willst du? Hilfe? Ich brauche ja selbst Hilfe, ich bin verwundet.«
Plötzlich aber raffte er sich auf, und wie aus einer Erstarrung oder aus Fieberträumen erwachend, schien ihm das Bewußtsein wiederzukommen, und mit freudigem Glanz in den Augen rief er:
»Ein weißer Knabe! – Ich sehe noch einen Weißen. – Ich begrüße dich, wer du auch sein magst. Du sprichst von irgendeiner Kranken. Was verlangst du von mir?«
Staß wiederholte, daß Nel jene Kranke sei, die Tochter des Herrn Rawlison, einer der Direktoren beim Kanalbau, und daß sie schon zwei Fieberanfälle gehabt hätte und sterben müsse, wenn sie kein Chinin bekäme, um dem dritten vorzubeugen.
»Zwei Anfälle, das ist schlimm«, entgegnete der Unbekannte. »Aber Chinin kann ich dir geben, so viel du willst. Ich habe noch einige Gläser, die mir doch nichts mehr nützen können.«
Nach diesen Worten befahl er dem kleinen Nasibu, ihm eine große Blechbüchse zu reichen, die ohne Zweifel die Reiseapotheke bildete. Er nahm zwei große Gläser heraus, die mit weißem Pulver gefüllt waren, und händigte sie Staß ein.
»Das ist die Hälfte von dem, was ich habe. Es wird beinahe für ein Jahr ausreichen.«
Staß hatte die größte Lust, einfach vor Freude aufzuschreien, und er dankte dem Kranken mit solcher Begeisterung, als wenn es sich um sein eigenes Leben gehandelt hätte.
Der Fremde nickte einige Male mit dem Kopfe und sagte:
»Schon gut, schon gut. Ich heiße Linde und bin ein Schweizer, aus Zürich. Vor zwei Tagen hatte ich einen Unglücksfall, ein Wildeber (Ndiri) hat mich schwer verwundet.«
Dann wandte er sich zu dem Schwarzen.
»Nasibu, stopfe mir die Pfeife!
In der Nacht habe ich immer hohes Fieber, und es dreht sich mir ein wenig im Kopfe. Aber die Pfeife klärt mir die Gedanken auf. Du sagtest doch, daß ihr aus der Gefangenschaft der Derwische entflohen seid, und daß ihr euch im Dschungel versteckt haltet? Habe ich recht verstanden?«
»Ja, Herr, so sagte ich.«
»Und was beabsichtigt ihr nun zu tun?«
»Wir wollen nach Abessinien fliehen.«
»Ihr werdet den Mahdisten in die Hände fallen, deren Abteilungen sich an der ganzen Grenze herumtreiben.«
»Wir können ja aber nichts anderes unternehmen.«
»Ach, noch vor einem Monat hätte ich euch helfen können. Jetzt aber hänge ich selbst von der Gnade Gottes und dieses schwarzen Knaben ab.«
Staß sah ihn mit Verwunderung an.
»Und dieses Lager?«
»Das ist ein Lager des Todes.«
»Und jene Neger?«
»Jene Neger schlafen und werden nicht mehr erwachen.«
»Das verstehe ich nicht.« –
»Sie haben die Schlafkrankheit In der letzten Zeit ist festgestellt worden, daß diese Krankheit den Menschen durch den Stich der Tse-tse-Fliege beigebracht wird, die Pferde und Rinder tötet. Jedoch ruft ihr Stich nur in gewissen Gegenden die Schlafkrankheit hervor. Während des Aufstandes des Mahdi war die Ursache der Krankheit noch nicht bekannt.. Diese Leute stammen alle aus der Umgegend der großen Seen, wo diese schreckliche Krankheit fortwährend herrscht, und alle sind ihr verfallen, außer denen, die vorher an den Pocken gestorben sind. Nur dieser Knabe ist mir übriggeblieben.«
Erst jetzt fiel es Staß auf, daß kein einziger von den Negern sich bewegt oder auch nur gezuckt hatte, als er sich in die Schlucht hinabließ, und daß alle während dieser ganzen Unterhaltung schliefen, die einen mit an den Felsen gelehnten, die anderen mit auf die Brust herabhängenden Köpfen.
»Sie schlafen und werden nie wieder aufwachen?« fragte Staß, als wenn er das, was er soeben gehört, noch nicht recht begriffen hätte.
Linde aber fuhr fort:
»Ach, eine Totenkammer ist dieses Afrika!«
Die weiteren Worte unterbrach das Getrappel von Pferden, die durch irgend etwas im Dschungel erschreckt, auf ihren gefesselten Beinen an den Rand der Schlucht gerannt kamen, um den Menschen und dem Lichte näher zu sein.
»Das ist weiter nichts, es sind nur die Pferde!« ließ sich der Schweizer weiter vernehmen. »Ich habe sie den Mahdisten fortgenommen, die ich vor mehreren Wochen geschlagen habe. Es waren ihrer dreihundert, vielleicht noch mehr. Aber sie besaßen meist nur Speere, meine Leute hingegen hatten Remingtongewehre, die nun nutzlos dort an der Wand lehnen. Wenn dir Waffen fehlen oder Patronen, so nimm dir, soviel du willst. Nimm auch ein Pferd, auf ihm kannst du schneller zu deiner Kranken zurückkehren. – Wie alt ist sie denn?«
»Acht Jahre«, antwortete Staß.
»Noch ein Kind also. – – Nasibu soll dir auch für sie Tee, Reis, Kaffee und Wein geben. – Nimm von den Vorräten, was du brauchen kannst, und morgen komm und hole dir neue.«
»Ich komme sicherlich wieder, um dem Herrn nochmals aus ganzem Herzen zu danken, und ihm zu helfen, womit ich kann!«
Linde sagte darauf:
»Wie gut tut es, schon allein ein europäisches Gesicht wiederzuschauen. Wenn du früher kommst, so werde ich noch mehr bei Besinnung sein. Jetzt erfaßt mich das Fieber wieder, denn ich sehe dich doppelt. Stehen denn zwei vor mir? Nein, nein, ich weiß ja, daß du nur allein bist, und daß es nur das Fieber macht. – Ach, dieses Afrika – –«
Und er schloß die Augen.
Eine Viertelstunde später befand sich Staß auf dem Rückwege aus diesem sonderbaren Lager des Schlafes und des Todes; aber jetzt war er zu Pferde. Es war noch tiefe Nacht. Doch er achtete nun nicht mehr auf irgendwelche Gefahren, denen er in dem hohen Grase begegnen konnte. Er hielt sich in der Nähe des Flusses, da er annahm, daß beide Schluchten auf ihn hinauslaufen mußten. Der Rückweg war übrigens bedeutend leichter, da in der Stille der Nacht das Getöse des Wasserfalles zu ihm drang, auch hatten sich die im Westen stehenden Wolken zerstreut, und außer dem Licht des Mondes leuchtete ihm das Zodiakallicht sehr gut. Der Knabe schlug die Flanken des Pferdes mit den breiten Enden des arabischen Steigbügels, und er flog dahin, als könne er sich jeden Augenblick Hals und Nacken brechen, und fortwährend sprach eine Stimme in seinem Innern: »Was scheren mich die Löwen und Panther! – Ich habe Chinin für meine Kleine!« Und er betastete immer wieder mit der Hand die Gläser, um sich zu überzeugen, daß er es auch wirklich noch besitze, und daß dies alles kein Traum sei. Vielerlei Gedanken und Bilder flogen ihm durch den Kopf. Er sah den verwundeten Schweizer, für den er ein großes Gefühl der Dankbarkeit hegte, und den er um so herzlicher bemitleidete, da er ihn zuerst während der Unterhaltung für einen Verrückten gehalten hatte. Er sah den kleinen Nasibu mit seinem kugelrunden Schädel, die Reihen der schlafenden »Pagazi« und die Läufe der an den Felsen gelehnten und im Feuerschein blitzenden Remingtongewehre. Er war so gut wie überzeugt davon, daß jenes Gefecht, von dem Linde sprach, gegen Smains Abteilung stattgefunden hatte – und es war ihm ein eigentümliches Gefühl zu denken, daß vielleicht auch Smain dabei gefallen war.
Alle diese Vorstellungen mischten sich bei ihm mit dem unaufhörlichen Gedanken an Nel. Er stellte sich ihr Erstaunen vor, wenn sie morgen ein ganzes Gläschen mit Chinin sehen würde, und daß sie ihn fast für einen Zauberer halten müßte. »Ach,« dachte er bei sich, »wenn ich feige gewesen und jenem Rauch nicht nachgegangen wäre, ich hätte es mir mein ganzes Leben lang nicht verzeihen können.«
Nach Verlauf von weniger als einer Stunde wurde das Geräusch des Wasserfalles immer deutlicher, und aus dem Gequake der Frösche erriet Staß, daß er sich nicht weit ab von dem Kiesboden befand, auf dem er früher die Wasservögel geschossen hatte. Beim Scheine des Mondes erkannte er sogar die in der Ferne stehenden Bäume. Jetzt hieß es, wachsam sein, denn jene übergetretenen Wasser bildeten die einzige Tränkstelle für die ganzen Tiere der Gegend, weil die Flußufer zumeist abschüssig und wenig zugänglich waren. Aber es war schon spät, und die Raubtiere hatten sich augenscheinlich schon nach ihrer nächtlichen Jagd in die Felsenhöhlen zurückgezogen. Das Pferd, das die frischen Spuren von Löwen oder Panthern witterte, schnaubte ein wenig, doch er gelangte glücklich vorbei und erblickte etwas später auf der Höhe der Landzunge die große, schwarze Silhouette »Krakaus«. Zum erstenmal hatte er in Afrika die Empfindung der Heimkehr.
Er rechnete damit, daß er alle schlafend finden werde, aber er hatte seine Rechnung ohne Sabà gemacht, der so zu bellen begann, daß selbst Tote davon erwachen konnten. Im gleichen Augenblick stand auch Kali vor dem Baume und rief:
Es lag mehr Freude als Staunen in seinen Worten, denn sein Glaube an Staß' Macht war so groß, daß er nicht allzusehr überrascht gewesen wäre, wenn Staß aus dem Nichts ein Pferd geschaffen hätte.
Da die Neger ihre Freude durch Lachen zu äußern pflegen, so begann Kali sich mit den Händen auf die Hüften zu schlagen und wie ein Wahnsinniger in Lachen auszubrechen.
»Fessele dieses Pferd!« sagte Staß, »nimm die Vorräte herunter, mache Feuer an und bereite kochendes Wasser.«
Dann ging der Knabe in den Baum. Nel war auch aufgewacht und rief nach ihm. Staß schlug den Leinenvorhang zurück und erblickte im Lichte der Laterne ihr blasses Gesicht und ihre mageren Händchen, die auf dem Plaid lagen, das sie bedeckte.
»Wie fühlst du dich, Kleines?« fragte er heiter.
»Gut, und ich habe ganz fest geschlafen, bis Sabà mich aufweckte. Aber warum schläfst du nicht?«
»Weil ich fort war.«
»Wo denn?«
»In der Apotheke.«
»In der Apotheke?«
»Ja, nach Chinin.«
Dem kleinen Mädchen hatten zwar die Chininpulver, die sie früher eingenommen hatte, durchaus nicht geschmeckt, aber da es Chinin für ein unfehlbares Mittel gegen alle Krankheiten der Welt hielt, so seufzte es nur und sagte:
»Ich weiß wohl, daß du kein Chinin besitzt.«
Staß hob eins der Gläser an das Licht der Laterne und fragte voller Stolz und Freude:
Nel traute ihren Augen nicht; er aber sprach schnell und strahlend:
»Jetzt wirst du gesund werden! Ich werde gleich eine große Dosis in die Schale einer frischen Feige wickeln, und du wirst sie herunterschlucken, und was du zum Nachtrinken bekommst, das sollst du dann sehen! – Was siehst du mich denn an wie ein Wundertier? – Ja, ich habe sogar noch ein zweites Glas. Beide habe ich von einem weißen Mann erhalten, dessen Lager vier Meilen von hier entfernt liegt. Von dort komme ich her. Er heißt Linde und ist verwundet. Und er hat mir viele gute Sachen gegeben. Den Rückweg habe ich zu Pferde gemacht, aber hingegangen bin ich zu Fuß. Denkst du, daß es angenehm ist, in der Nacht durch das Dschungel zu wandern? Brrr! Ein zweites Mal würde ich es um nichts auf der Welt tun – – es sei denn um Chinin!«
Mit diesen Worten verließ er das erstaunte kleine Mädchen und begab sich in das »Herrenzimmer«. Er wählte aus dem Feigenvorrat die kleinste, höhlte sie aus und schüttete Chinin in die Mitte. Doch er achtete darauf, daß die Dosis nicht größer war als jene, die er in Chartum erhalten hatte. Dann trat er aus dem Baum heraus, schüttete Tee in ein Gefäß mit Wasser und kehrte mit der Medizin zu Nel zurück.
Die Kleine hatte während der ganzen Zeit darüber nachgedacht, was eigentlich vorgefallen war. Sie war sehr neugierig, wer jener Weiße sei, und woher Staß von ihm gehört hatte. Würde er zu ihnen kommen und würden sie zusammen weiterreisen? Sie zweifelte nun, nachdem Staß Chinin erhalten hatte, nicht mehr daran, daß sie gesund werden würde. Aber dieser Staß! – Geht einfach in der Nacht durch das Dschungel, als wenn es gar nichts wäre! Trotz der großen Bewunderung, die Nel für Staß hegte, hatte sie bisher alles, was er für sie tat, als etwas ganz Selbstverständliches hingenommen; es war ihr eine ganz natürliche Sache, daß ein älterer Knabe für ein jüngeres Mädchen sorgte. Jetzt aber kam es ihr so recht zum Bewußtsein, daß sie ohne seine Fürsorge schon längst umgekommen wäre, daß er sich unermüdlich um sie kümmerte, ihr alle ihre Launen befriedigte und sie so beschützte, wie es kein anderer Knabe in seinem Alter gewollt und gekonnt hätte. – Und ihr kleines Herz war ganz von Dankbarkeit für ihn erfüllt.
Als Staß dann wiederkam und sich mit der Medizin über sie beugte, umfaßte sie mit ihren dünnen Ärmchen seinen Hals und drückte ihn herzlich:
»Staßchen, du bist sehr gut zu mir!«
Er entgegnete nur:
»Wen habe ich sonst, um gut zu ihm zu sein? Das ist ausgezeichnet! Nimm nur die Medizin!«
Jedoch aus seinen vor Befriedigung leuchtenden Augen sah man, daß er sehr froh war. Und voller Freude und Stolz wandte er sich zur Öffnung und rief:
»Mea, jetzt bring mal Bibi den Tee!«