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An der äußeren Grenze der Stadt machten sie Halt, vor einem Hause, das zuvor einem italienischen Kaufmann gehört hatte und nach dessen Ermordung während des Sturmes auf die Stadt bei der Verteilung der Beute an Nur-el-Tadhil gekommen war.
Die Frauen des Emirs nahmen sich der vor Ermüdung kaum noch lebendigen Nel in ziemlich menschlicher Weise an. Und obwohl in ganz Chartum Mangel an Lebensmitteln herrschte, fanden sie für das kleine Dzanem Liebkosung = Schäfchen, Seelchen. noch einige getrocknete Datteln und ein wenig Reis mit Honig, wonach sie die Kleine in die obere Etage führten und schlafen legten.
Staß, der bei den Pferden und Kamelen nächtigte, mußte sich mit einem Zwieback begnügen, Wasser fand er hingegen reichlich, da die Fontäne im Garten durch einen merkwürdigen Zufall nicht zerstört worden war. Trotz der ungeheuren Ermüdung konnte der Knabe lange nicht einschlafen, schon der Skorpione wegen, die fortwährend auf der Filzdecke, auf der er lag, herumkrochen, dann aber auch, weil er sich sehr beunruhigte, von Nel jetzt getrennt zu werden und nicht mehr persönlich für sie sorgen zu können. Diese Unruhe teilte sichtlich auch Sabà, der umherschnupperte und von Zeit zu Zeit laut aufheulte, worüber die Soldaten sehr ärgerlich waren. Staß beruhigte ihn, so gut er konnte, weil er fürchtete, daß man dem Hunde sonst etwas antun könnte. Zum Glück hatte die riesige Dogge so große Bewunderung bei dem Emir und den Derwischen erregt, daß niemand Hand an sie legte.
Auch Idrys schlief nicht in dieser Nacht. Seit dem gestrigen Tage fühlte er sich schlecht, und dann hatte er durch sein Gespräch mit Nur-el-Tadhil sehr viele Illusionen verloren, so daß die Zukunft wie durch einen dichten Vorhang verdeckt vor ihm lag. Er war froh, daß sie morgen nach Omdurman übersetzen würden, von dem sie nur noch durch den Weißen Nil getrennt waren. Er hoffte, dort Smain zu finden, aber was dann weiter? – Während der Reise hatte er sich alles klar und weit herrlicher vorgestellt. Sein Glaube an den Propheten war ein ganz aufrichtiger, und es hatte ihn um so mehr zu ihm gezogen, als er ja aus dem gleichen Stamme war. Aber er war auch wie alle Araber habsüchtig und ehrgeizig. Er hatte von Kriegszügen gegen die »Türken«, von eroberten Städten und reicher Beute geträumt, und nun begann er, nach dem, was er von Nur-el-Tadhil gehört, zu fürchten, daß alle seine Taten in den weit größeren Ereignissen verschwinden würden wie der Regentropfen im Meer. »Vielleicht«, dachte er mit Bitterkeit, »wird niemand beachten, was ich vollbracht habe, und Smain wird nicht einmal froh darüber sein, daß ich ihm die Kinder gebracht habe.« Und in diesem Gedanken grämte er sich. Der morgige Tag mußte seine Befürchtungen zerstreuen oder bestätigen, und daher erwartete er ihn mit Ungeduld.
Gegen sechs Uhr früh ging die Sonne auf, und eine Bewegung erhob sich unter den Derwischen. Bald erschien Tadhil und befahl, sich zur Reise zu rüsten. Er kündete gleichzeitig an, daß sie den Weg bis zur Überfahrtsstelle zu Fuß zurücklegen und neben seinem Pferde hergehen sollten. Zu Staß' Freude brachte Dinah Nel von der oberen Etage herunter. Dann gingen sie durch die ganze Stadt den Wall entlang bis zu der Stelle, wo die Fährboote lagen. Tadhil ritt zu Pferde voran, Staß führte Nel an der Hand, hinter ihnen gingen Idrys, Gebhr und Chamis mit der alten Dinah und Sabà, und dann folgten dreißig Soldaten des Emirs. Der Rest der Karawane blieb in Chartum.
Staß, der sich tüchtig umsah, konnte nicht begreifen, wie eine so stark befestigte Stadt fallen könnte, die in der vom Weißen und Blauen Nil gebildeten Gabel lag, also von drei Seiten von Wasser umgeben und nur vom Süden her zugänglich war. Erst später erfuhr er von christlichen Gefangenen, daß der Fluß zu der Zeit so gesunken war, daß er breite Sandstellen zeigte, die den Sturm auf die Wälle erleichtert hatten. Die Belagerten waren, als sie die Hoffnung auf Entsatz verloren hatten und durch Hunger erschöpft waren, nicht mehr imstande gewesen, dem Ansturm der wie toll gewordenen Wilden zu widerstehen, – so hatte man die Stadt genommen und die Einwohner massakriert.
Die Spuren des Kampfes waren, obwohl schon ein Monat darüber hingegangen, überall längs des Walles zu sehen. Im Innern der Stadt ragten die Ruinen der zerstörten Häuser empor, an denen sich die erste Wut der Eroberer ausgelassen hatte; die Gräben lagen voller Leichen, an deren Beerdigung niemand dachte. Bis zu der Überfahrtsstelle zählte Staß ihrer mehr als vierhundert. Dennoch war die Luft nicht dadurch verpestet worden, da die Sonne des Sudans sie alle zu Mumien eintrocknete. Sie sahen alle grau wie Pergament aus, so gleichmäßig grau, daß man die Leichen von Europäern, Ägyptern und Negern nicht unterscheiden konnte. Zwischen den Leichen wimmelte es von kleinen, grauen Eidechsen, die sich vor den vorübergehenden Menschen schnell unter die menschlichen Überreste verbargen und oft in die Mundhöhlen oder zwischen die ausgetrockneten Rippen schlüpften.
Staß führte Nel so, daß sie von diesem scheußlichen Anblick so wenig wie möglich zu sehen bekam; er riet ihr, die Augen der Stadt zuzuwenden. Aber auch dort gingen Dinge vor sich, die die Seele des kleinen Mädchens mit Schrecken erfüllten. Der Anblick der gefangenen »englischen« Kinder und ebenso der Sabàs, den Chamis an einer Leine führte, zog die Aufmerksamkeit der Menge auf sich, die sich immer mehr vergrößerte, je näher man der Bootsstelle kam. Das Gedränge war schließlich so groß, daß man oft stehen bleiben mußte. Schrecklich tätowierte Gesichter beugten sich über Staß und Nel. Einige von den Wilden brachen bei ihrem Anblick in Gelächter aus und schlugen sich vor Freude mit den Händen auf die Hüften, andere verwünschten sie, und wieder andere brüllten wie wilde Tiere, fletschten die weißen Zähne und verdrehten die Augen, bis schließlich einige zu drohen begannen und gegen die Kinder ihre Messer zückten. Nel, fast bewußtlos vor Angst, schmiegte sich dicht an Staß an, der sie so gut wie möglich zu decken suchte, da er selbst die Überzeugung hatte, daß für sie beide die letzte Stunde geschlagen hätte.
Zum Glück wurde der Andrang der vertierten Menge schließlich auch Tadhil über. Einige zehn Soldaten schlossen auf seinen Befehl die Kinder ein, während die übrigen ohne Erbarmen mit den Karbatschen auf das heulende Gesindel einschlugen. Die Schar zerstreute sich nun vorne, sammelte sich aber von neuem hinter der Abteilung, die sie unter wilden Rufen bis zu den Booten begleitete.
Staß tröstete Nel, indem er ihr versicherte, daß die Derwische aufhören würden zu drohen, sobald sie sich an ihren Anblick gewöhnt haben würden, und daß Smain sie beide, insbesondere sie, behüten und beschützen werde, da, falls ihnen etwas Schlimmes zustoße, er ja niemand zum Austausche für seine Kinder habe. Das war wohl wahr, aber die vorherigen Überfälle hatten das kleine Mädchen so erschreckt, daß sie Staß' Hand nicht für einen Augenblick freigab und immer wie im Fieber vor sich hin sprach: »Ich fürchte mich, ich fürchte mich!« Staß wünschte von ganzem Herzen, möglichst schnell an Smain ausgeliefert zu werden, der sie seit langem kannte und ihnen in Port Said stets eine große Zuneigung erzeigt oder wenigstens erheuchelt hatte. Jedenfalls war Smain nicht mehr so wild wie die anderen sudanesischen Dangalen, und die Gefangenschaft in seinem Hause konnte sich immerhin erträglich gestalten.
Es war nur die Frage, ob man Smain in Omdurman antreffen würde. Soeben sprach auch Idrys mit Nur-el-Tadhil darüber, da diesem schließlich eingefallen war, daß er, als er vor einem Jahre auf Befehl des Kalifen Abdullah fern von Chartum in Kordofan weilte, von einem gewissen Smain gehört hatte. Man erzählte, dieser Smain habe die Derwische gelehrt, aus Kanonen, die man den Ägyptern genommen, zu schießen; später sei er ein großer Sklavenjäger geworden. Nur-el-Tadhil empfahl Idrys, auf folgende Weise den Emir ausfindig zu machen:
»Wenn du am Nachmittag die Stimme der Umbai Große Trompete aus Elfenbein. hörst, so begib dich mit den Kindern auf den Gebetplatz, zu dem der Prophet jeden Tag kommt, um den Gläubigen ein Beispiel der Frömmigkeit zu geben und sie in ihrem Glauben zu befestigen. Dort wirst du außer der geheiligten Person des Mahdi alle Edlen sehen, sowie drei Kalifen, auch die Paschas und die Emire. Unter den Emiren wirst du dann Smain finden.«
»Und was soll ich dann tun? Und wo soll ich mich bis zum Nachmittag aufhalten?«
»Bleibe bei meinen Soldaten.«
»Und du, Nur-el-Tadhil, wirst uns verlassen?«
»Ich werde mich zum Kalifen Abdullah begeben, um seine Befehle entgegenzunehmen.«
»Ist das der größte Kalif? Ich komme von weit her, und obwohl die Namen der Führer auch bis zu meinen Ohren drangen, so könntest du mir doch jetzt ausführlicher von ihnen berichten.«
»Abdullah, mein Anführer, ist das Schwert des Mahdi.«
»Möge Gott ihn zum Sohn des Sieges machen!«
Hierauf herrschte für einige Zeit Stillschweigen, und die Boote glitten ruhig den Fluß entlang. Man vernahm nur das Knarren der Ruder am Bootsrande und von Zeit zu Zeit das Plätschern des Wassers, das von einem Krokodilschwanz herrührte. Viele dieser Reptilien waren jetzt vom Süden her nach Chartum geschwommen, wo sie an den zahlreich im Fluß treibenden Leichen gute Nahrung fanden. Denn nicht nur von den Leichen der Ermordeten wimmelte es im Flusse, sondern auch von solchen, die an den unter den Mahdisten und ihren Gefangenen herrschenden Krankheiten gestorben waren. Zwar hatten die Kalifen befohlen, das Wasser nicht zu verpesten, aber dieses Gebot wurde nicht beachtet. Und so schwammen die Leichen derer, die die Krokodile nicht aufzufressen vermochten, mit nach unten gekehrten Gesichtern oft bis zum sechsten Katarakt oder weiter bis nach Berber hinunter.
Idrys aber hatte jetzt an anderes zu denken, und nach einiger Zeit fragte er wieder:
»Heute früh haben wir nichts zu essen vorgefunden. Es ist fraglich, ob wir es bis zur Gebetsstunde aushalten können. – Und von wem werden wir später zu essen bekommen?«
»Du bist ja kein Gefangener,« antwortete Tadhil, »du kannst zum Markt gehen, wo die Händler ihre Vorräte auslegen. Dort wirst du getrocknetes Fleisch, manchmal auch Hirse finden, aber nur für schweres Geld, denn wie ich dir schon sagte, herrscht in Omdurman Hungersnot.«
»Inzwischen aber werden böse Menschen mir die Kinder rauben und sie umbringen.«
»Die Soldaten werden sie beschützen. Oder, wenn du einem von ihnen Geld gibst, so wird er dir Lebensmittel holen.«
Idrys, der lieber nahm als gab, gefiel dieser Rat nicht sonderlich. Aber noch bevor er eine Antwort fand, landeten die Boote am Ufer.
Omdurman gewährte einen anderen Anblick als Chartum. Dort sah man gemauerte, zweistöckige Häuser, ein Schloß des Gouverneurs, Mudirie genannt, in dem der heldenhafte Gordon seinen Tod fand, ferner eine Kirche, ein Hospital, ein Missionsgebäude, ein Arsenal, eine große Kaserne für die Soldaten und eine Menge kleinerer und größerer Gärten mit herrlicher tropischer Vegetation.
Omdurman selbst glich mehr einem großen Lager von Wilden. Das Fort, das sich an der nördlichen Seite der Ansiedlung erhob, war auf Gordons Befehl zerstört worden. Sonst sah man in der Stadt, soweit das Auge reichte, runde, kegelförmige Hütten, die aus Hirsestroh erbaut waren. Enge, dornige Hecken trennten diese Hütten voneinander und von der Straße. Hier und da bemerkte man auch Zelte, die sicherlich bei den Ägyptern erbeutet waren. Zuweilen stellten auch einige Palmenmatten unter einem auf Bambusstäben befestigten Stück schmutzigen Stoffes eine ganze Wohnung dar. Die Einwohner verbrachten ihre ganze Zeit im Freien, sie zündeten dort ihr Feuer an, sie kochten, lebten und starben im Freien und gingen nur unter Dach, wenn es regnete oder ganz besonders heiß war. Daher herrschte auf den Straßen ein solches Gewimmel, daß es der Abteilung sehr schwer wurde, sich durch die Menge Bahn zu brechen.
Omdurman war zuvor nur ein kleines Dörfchen gewesen, jetzt aber drängten sich mit den Gefangenen über zweihunderttausend Menschen darin zusammen. Diese Zusammenrottung beunruhigte sogar den Mahdi und seine Kalifen, da Hungersnot und Krankheiten in erschreckender Weise drohten. Deshalb sandte er von hier aus ununterbrochen Heeresabteilungen, die neue Gegenden und Städte, die bisher noch treu zur ägyptischen Regierung standen, erobern sollten.
Beim Anblick der weißen Kinder erschollen auch hier feindliche Rufe, aber der Pöbel bedrohte sie wenigstens nicht mit dem Tode. Vielleicht wagte er es nicht unter den Augen des Mahdi, vielleicht auch war er schon zu sehr an den Anblick von Gefangenen gewöhnt, da man alle gleich nach der Eroberung von Chartum nach Omdurman geschickt hatte.
Aber Staß und Nel sahen dennoch die Hölle auf Erden vor sich. Sie sahen Europäer und Ägypter, die, mit Karbatschen blutig geschlagen, hungrig, durstig und gebückt unter den Lasten, die sie tragen mußten oder unter schweren Wassereimern dahinschlichen. Sie sahen, wie einst im Wohlleben erzogene Frauen und Kinder jetzt um eine Handvoll Durra oder um ein Stück gedörrten Fleisches bettelten, mit Lumpen bedeckt, abgemagert, Gespenstern ähnlich, mit vor Elend schwarz gewordenen Gesichtern und irren Augen, aus denen Entsetzen und Verzweiflung starrten. Sie sahen, wie das Gesindel bei dem Anblick der Gefangenen in Lachen ausbrach, wie es nach ihnen stieß und sie schlug. Überall bot sich ihren Augen ein Anblick dar, der sie sich in Widerwillen und Grauen abwenden ließ.
In Omdurman wüteten auf schrecklichste Weise Typhus, Dysenterie und am schlimmsten die Blattern. Mit Geschwüren bedeckte Kranke lagen vor den Eingängen der Hütten und verpesteten die Luft. Gefangene trugen in Leinwand gehüllte Leichen eben Verstorbener, die sie außerhalb der Stadt im Sand beerdigten, worauf dann die Hyänen erst ihre endgültige Bestattung vollzogen. Über der Stadt schwebte eine Schar von Geiern, die Trauerschatten auf den weißen Sand warfen. Als Staß dies alles sah, vermeinte er, daß es für ihn und Nel am besten wäre, so schnell wie möglich zu sterben.
Jedoch auch in diesem Meer von Elend und menschlicher Bosheit blühte zuweilen wie ein bleiches Blümchen auf faulem Morast die Barmherzigkeit empor. In Omdurman lebten eine Anzahl Griechen und Kopten, die der Mahdi verschont hatte, weil er sie brauchte. Diese gingen nicht nur frei umher, sondern sie trieben Handel und verschiedene andere Dinge, einige von ihnen, besonders die angeblich den Glauben gewechselt hatten, waren sogar Beamte des Propheten, und das verhalf ihnen unter den wilden Derwischen zu einem bedeutenden Ansehen.
Einer dieser Griechen hielt die Militärabteilung an und begann, die Kinder auszufragen, woher sie kämen. Mit Staunen hörte er, daß sie soeben angekommen und aus Fayum entführt worden seien. Er versprach ihnen, dem Mahdi von ihnen zu erzählen und sich fernerhin nach ihnen zu erkundigen. Mitleidig schüttelte er den Kopf über Nel und gab jedem der Kinder eine große Handvoll getrockneter wilder Feigen und einen Silbertaler mit dem Bilde Maria Theresias. Danach befahl er den Soldaten, sich nicht zu erlauben, dem kleinen Mädchen etwas zuleide zu tun und verabschiedete sich, indem er auf englisch wiederholte: » Poor little bird!«