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Endlich ging die Sonne auf und beleuchtete das Dschungel, die Baumgruppen und den Wald. Die Löwen waren verschwunden, bevor die ersten Strahlen am Horizont aufleuchteten. Staß befahl Kali, Feuer zu machen, und Mea, die Sachen aus dem Ledersack zu nehmen und möglichst schnell die kleine Nel in trockene Kleider zu hüllen. Er selbst nahm die Flinte, um das Lager zu besichtigen und die Verheerungen anzusehen, die der Gewittersturm und die zwei nächtlichen Mörder angerichtet hatten.
Gleich hinter der Zeriba, von der nur die Pfähle übriggeblieben waren, lag das erste Pferd, fast bis zur Hälfte aufgefressen, hundert Schritte weiter das zweite, kaum angefressene, und gleich hinter diesem das dritte, mit aufgeschlitztem Bauch und zerschmettertem Schädel. Alle drei boten einen schaudererregenden Anblick, denn sie lagen da mit vor starrem Entsetzen weit geöffneten Augen und gefletschten Zähnen. Die Erde war zerstampft, und ganze Blutlachen füllten die vertieften Stellen. Staß erfaßte eine solche Wut, daß er in diesem Augenblick fast wünschte, es möchte sich hinter irgendeinem Hügel der Mähnenkopf eines von dem nächtlichen Schmaus satten und bequem gewordenen Räubers zeigen, damit er ihm eine Kugel schicken könnte. Aber er mußte die Rache auf eine spätere Zeit verschieben, denn jetzt gab es genug anderes zu tun. Man mußte die übrigen Pferde aufsuchen und einfangen.
Staß nahm an, daß sie sich im Walde versteckt hätten, ebenso wie Sabà, dessen Leiche nirgends zu sehen war. Die Hoffnung, daß der treue Gefährte all ihrer Leiden den Raubtieren nicht zum Opfer gefallen war, beglückte sein Herz so, daß er wieder besseren Mutes wurde, um so mehr, als er den Esel auch wiederfand. Das kluge Langohr hatte sich nicht einmal die Mühe genommen, weit hinweg zu fliehen; es hatte sich einfach in das Innere der Zeriba geflüchtet und war da in den Winkel gekrochen, den der Termitenhügel und der Baum bildete. Und dort, mit in Sicherheit gebrachtem Kopf und Flanken, hatte es ruhig alles Weitere abgewartet, bereit, einen Überfall von hinten mit einem heldenmütigen Schlage der Hinterbeine abzuwehren. Aber die Löwen hatten den Esel gar nicht bemerkt; als daher die Sonne aufgegangen und die Gefahr vorüber war, hatte er es für ratsam gehalten, sich hinzulegen, um sich von den dramatischen Eindrücken der Nacht auszuruhen.
Beim Umkreisen des Lagers fand Staß schließlich in dem aufgeweichten Boden Abdrücke von Pferdehufen. Die Spuren führten zuerst zum Wald und schwenkten dann zum Hohlweg ab. Das war günstig; denn die Pferde in der Schlucht einzufangen, war nicht schwierig. Einige Schritte weiter sah er im Grase eine Fessel liegen, von der sich eins der Tiere auf der Flucht befreit hatte. Dieses Pferd war aller Wahrscheinlichkeit nach so weit fortgelaufen, daß man es fürs erste verloren geben mußte. Dagegen bemerkte Staß die zwei anderen Tiere hinter einem niedrigen Felsen, nicht in der Schlucht selbst, sondern an ihrem Abhange. Das eine wühlte umher, das andere pflückte junges, hellgrünes Gras. Beide sahen sehr abgemattet aus, wie nach einer langen Reise. Aber das Tageslicht hatte auch bei ihnen die Furcht verscheucht, denn sie begrüßten Staß mit einem kurzen, freundlichen Wiehern. Das Pferd, das sich umherwälzte, sprang auf die Beine, wobei Staß sah, daß es sich auch der Fesseln entledigt hatte. Zum Glück hatte es anscheinend lieber bei seinem Kameraden bleiben wollen, als in die Ferne fliehen.
Staß ließ beide Pferde am Felsen und ging den Abhang zur Schlucht hinab, um sich zu überzeugen, ob es noch weiter möglich sei, den Hohlweg entlang zu reiten. Und er sah, daß das Wasser des abfallenden Bodens wegen schon abgeflossen, und der Grund schon fast trocken war. Nach einiger Zeit lenkte ein weißer Gegenstand, der sich am gegenüberliegenden Abhang in den herunterhängenden Kletterpflanzen festgesetzt hatte, seine Aufmerksamkeit auf sich. Es stellte sich heraus, daß es das Zeltdach war, das der Wind bis dahin getragen und so fest in das Dickicht gepreßt hatte, daß das Wasser es nicht fortreißen konnte. Das Zelt sicherte Nel, wie es auch war, doch einen besseren Schutz als eine schnell aus Zweigen zusammengezimmerte Laube, und Staß war daher über das Wiederfinden des Verlorengeglaubten sehr erfreut.
Noch mehr aber vergrößerte sich seine Freude, als aus einer von Lianen fast verdeckten Felsennische Sabà heraussprang; in seinen Zähnen hielt er irgendein Tier, dessen Kopf und Schwanz zu beiden Seiten seines Maules heraushingen. Der mächtige Hund kletterte im Nu nach oben und legte Staß eine gestreifte Hyäne mit gebrochenem Rückgrat und abgenagten Beinen zu Füßen. Dann wedelte er mit dem Schwanze und bellte fröhlich, als wenn er sagen wollte:
»Ich gebe zu, ich habe mich den Löwen gegenüber feige benommen, aber auch ihr saßet auf dem Baume wie Wildvögel. Du siehst nun aber, daß ich die Nacht nicht müßig verbracht habe!«
Und er war so stolz auf seine Tat, daß Staß ihn kaum dazu bewegen konnte, das übelriechende Tier auf der Stelle liegen zu lassen und nicht Nel zum Geschenke zu bringen.
Als sie beide zurückkehrten, brannte schon im Lager ein helles Feuer, und im Topf kochte das Wasser, in dem Durrakörner, zwei Wildvögel und ein geräucherter Streifen des Gnufilets gar gekocht wurden. Nel war schon in trockenen Kleidern, sah aber so elend und blaß aus, daß Staß sehr erschrocken war. Er nahm ihre Hand, um sich zu überzeugen, daß sie keine Hitze hatte, dann fragte er:
»Nel, was ist dir?«
»Nichts, Staßchen, nur schlafen möchte ich sehr gern.«
»Das glaube ich! Nach einer solchen Nacht! Gott sei Dank hast du kühle Hände. Ach, was war das für eine Nacht! Es ist begreiflich, daß du schlafen willst. Ich möchte es auch. Aber du fühlst dich doch nicht krank?«
»Der Kopf tut etwas weh.«
Staß legte ihr die Hand auf die Stirn. Das Köpfchen war ebenso kühl wie die Hand. So war es nur die Folge der außerordentlichen Erschöpfung und Schwäche. Staß atmete erleichtert auf und sagte:
»Iß etwas Warmes und leg dich gleich schlafen. Du wirst bis zum Abend schlafen. Heute ist das Wetter wenigstens gut, und es wird nicht so wie gestern werden.«
Nel aber sah ihn erschrocken an.
»Aber wir werden doch nicht hier übernachten?«
»Hier nicht, denn hier liegen die toten Pferde. Wir werden einen anderen Baum wählen oder in den Hohlweg reiten und dort eine Zeriba bauen, wie sie die Welt nicht gesehen hat. Du wirst so ruhig schlafen wie in Port Said.«
Aber sie faltete ihre Händchen und begann ihn unter Tränen zu bitten, daß sie weiterreisen möchten, da sie an dieser schrecklichen Stelle nicht ein Auge zumachen und sicher erkranken würde. Und sie bat so flehentlich und schaute ihm immer wieder in die Augen.
»Wie, Staßchen? Gelt, Staßchen?«
Und schließlich willigte er in alles ein.
»Gut, wir reiten durch den Hohlweg,« sagte er, »weil es dort schattig ist. Versprich mir aber, daß du es mir sagen wirst, sobald du keine Kraft mehr hast oder dich schlecht fühlst.«
»Es wird mir nicht an Kraft fehlen, ich werde Kraft genug haben. Du wirst mich an dem Sattel festbinden, und ich werde unterwegs vortrefflich schlafen.«
»Nein, ich werde auf dasselbe Pferd steigen und dich halten. Kali und Mea werden auf dem anderen reiten, und der Esel wird das Zelt tragen.«
»Gut, gut!«
»Gleich nach dem Essen wirst du dich etwas schlafen legen. Wir können sowieso nicht vor Mittag aufbrechen, denn es gibt noch viel zu tun. Die Pferde müssen eingefangen, das Zelt eingepackt und das andere Gepäck untergebracht werden. Einen Teil der Sachen müssen wir hierlassen, weil wir jetzt nur noch zwei Pferde besitzen. Damit werden ein paar Stunden verstreichen, und du wirst inzwischen ausschlafen und dich kräftigen. Heute wird es eine Gluthitze geben, aber unter dem Baume kann es dir an Schatten nicht fehlen.«
»Und du? Und Mea und Kali? Es ist mir peinlich, daß ich allein schlafen soll, während ihr anderen euch abplagt.«
»Für uns wird sich auch noch Zeit finden. Beunruhige dich nur nicht um mich. Ich schlief in Port Said zur Zeit der Prüfungen oft ganze Nächte nicht, wovon mein Vater selbst nichts wußte. – Meine Kameraden schliefen auch nicht. Aber ein Mann ist keine so kleine Fliege wie du. Du hast gar keinen Begriff davon, wie du heute aussiehst – ganz wie aus Glas. Es sind nur die Augen und das Haar geblieben. Vom Gesicht keine Spur!«
Er sprach scherzend, aber im Innern fürchtete er sehr für das kleine Mädchen, denn in dem hellen Tageslicht sah Nels Gesicht einfach krank aus, und zum erstenmal war es ihm ganz klar, daß, wenn es so weiterginge, die arme Kleine unterwegs sterben würde. Bei diesem Gedanken fingen die Beine unter ihm an zu zittern, denn er fühlte plötzlich, daß er im Falle ihres Todes weder leben noch nach Port Said zurückkehren könnte.
»Was sollte ich dann noch tun?« fragte er sich.
Er wandte sich einen Augenblick ab, um Nel nicht den Schmerz und die Furcht um sie in seinen Augen lesen zu lassen. Dann schritt er zu den unter dem Baum hingelegten Sachen, warf die Filzdecke zurück, mit der der Patronenkasten bedeckt war, öffnete diesen und begann etwas zu suchen.
Er hatte in einem kleinen Glasfläschchen das letzte Chininpulver aufgehoben und es wie seinen Augapfel gehütet für ›die schwarze Stunde‹, d. h. für den Fall, daß Nel am Fieber erkrankte. Aber jetzt war er überzeugt, daß nach einer solchen Nacht der erste Anfall zweifellos kommen mußte, und er beschloß, ihm zuvorzukommen. Er tat es mit schwerem Herzen in dem Gedanken, was später werden sollte, und er wäre bei diesem letzten Pulver in Tränen ausgebrochen, wenn sich das für einen Mann und Karawanenführer geziemt hätte.
Um seine Erregung zu verbergen, setzte er eine sehr strenge Miene auf, und indem er zu Nel zurückkehrte, sagte er:
»Nel, nimm vor dem Essen den Rest Chinin ein.«
Sie aber fragte:
»Und wenn du Fieber bekommst?«
»So schüttle ich mich eben. Nimm, sage ich dir!«
Sie nahm ohne weiteren Widerstand das Pulver, denn seitdem er die Sudanesen getötet hatte, fürchtete sie ihn ein wenig, trotz aller Fürsorge, mit der er sie umgab, und aller Güte, die er ihr bewies. Dann setzten sie sich zum Essen, und nach der nächtlichen Erschöpfung schmeckte ihnen die Brühe aus Wildvögeln vorzüglich. Nel schlief sogleich nach dem Mahl für mehrere Stunden ein.
Staß, Mea und Kali bereiteten inzwischen alles zur Weiterreise der Karawane vor. Sie holten das Zeltdach aus der Schlucht, sattelten die Pferde, beluden auch den Esel und vergruben unter den Wurzeln des Nabakbaumes alle die Sachen, die sie nicht mitnehmen konnten. Sie sehnten sich während der Arbeit zwar alle sehr nach Ruhe, aber aus Furcht, die Zeit zu verschlafen, erlaubte sich Staß und den anderen nur abwechselnd ein kurzes Schläfchen.
Es war so gegen zwei Uhr, als sie sich weiter auf den Weg machten. Staß nahm Nel vor sich aufs Pferd, Kali und Mea ritten auf dem anderen. Sie ritten jedoch nicht gleich in die Schlucht, sondern zwischen dem Wald und den Abhängen entlang. Das junge Dschungel war durch diese eine Regennacht ordentlich in die Höhe geschossen, der Boden unter ihm sah jedoch schwarz aus und wies Feuerspuren auf. Man konnte annehmen, daß Smain mit seiner Abteilung hier durchgezogen, oder daß ein fernes Feuer durch den Sturm hierhergetragen worden war, und sich das trockene Dschungel entlang ausgebreitet hatte, bis es auf den feuchten Wald gestoßen und dann in einem schmalen Streifen zwischen Wald und Schlucht weitergezogen war. Staß untersuchte, ob sich nicht auf diesem schmalen Streifen irgendwelche Spuren von Smains Lager oder Hufabdrücke fänden, aber mit Freuden überzeugte er sich davon, daß nichts Ähnliches zu sehen war. Kali, der sich auf so etwas gut verstand, behauptete beharrlich, daß das Feuer durch den Wind herübergetragen worden sei, und daß mindestens schon zehn Tage darüber vergangen wären. »Das beweist,« bemerkte Staß, »daß Smain mit seinen Mahdisten schon Gott weiß wo ist, und daß wir auf keinen Fall mehr in seine Hände fallen werden.«
Dann begannen er und Nel die interessanten Pflanzen zu betrachten, da sie bisher noch nie einen Tropenwald so in der Nähe gesehen hatten. Sie ritten jetzt am Rande des Waldes entlang, um mit den Köpfen im Schatten zu sein. Die Erde war feucht und weich und mit dunkelgrünem Moos, Gras und Farnen bedeckt. Hier und da lagen alte, morsche Stämme, die wie mit einem Teppich von niedlichem Knabenkraut Anselia africana. und bunten, schmetterlingähnlichen Blumen mit bunten Staubbeuteln in der Mitte ihrer Kronen bedeckt waren. Wo die Sonne hindrang, war der Boden mit anderen wunderhübschen Blumen geschmückt; winzige, goldgelbe Blüten, die mit den beiden Blumenblättern, die sich zu den Seiten eines dritten gebildet hatten, einem Tierchen mit langen, spitz zulaufenden Ohren glichen Lissohilosio.. An anderen Stellen wuchsen wilde Jasminsträucher im Walde, um die sich feine Kletterpflanzen mit rosigen Blüten gewunden hatten. Die flachen, kleinen Schluchten und Vertiefungen waren mit zu einem undurchdringlichen Dickicht verwachsenen Farnen gefüllt, die sich bald flach ausbreiteten, bald bis zu den ersten Baumästen hinaufstreckten, mit Stämmen, die wie Spinnrocken umwickelt waren, und die an ihren Enden zu feinen, grünen Spitzen ausliefen. Die verschiedenartigsten Bäume zeigten sich ihren Blicken: Dattelpalmen, Raphien, fächerartige Palmen, Sykomoren, Brotbäume, Euphorbien, allerlei Arten von Senezionen und Akazien. Bäume mit dunklem, glänzendem Laub wuchsen dicht neben anderen mit hellen, blutroten Blättern, Stamm an Stamm, so daß ihre mit purpurroten und gelben Kerzenblüten gezierten Zweige sich ineinander verwickelt hatten. In einiger Entfernung konnte man von den Baumstämmen überhaupt nichts sehen, da sie von der Erde bis zur Kronenspitze ganz mit Kletterpflanzen bedeckt waren, die von Baum zu Baum krochen, W und M bildeten und wie Lamberquins, Gardinen und Bettvorhänge herunterhingen. Kautschuklianen erstickten erbarmungslos in tausend Schlangenwindungen die Bäume und verwandelten sie in Pyramiden, die mit den weißen Blüten wie mit Schnee bedeckt aussahen. Um die großen Lianen wanden sich kleinere, und das Gewirr war so groß, daß sich schließlich beinahe Mauern bildeten, durch die weder Mensch noch Tier hindurchdringen konnte. Nur stellenweise, wo sich Elefanten durch das Dickicht gearbeitet hatten, deren Kräften nichts zu widerstehen vermag, waren tiefe in Windungen laufende Gänge entstanden.
Vogelgesang, der die europäischen Wälder so traut und angenehm macht, war nicht zu hören. Dagegen ertönten von den Baumkronen her die seltsamsten Rufe, die bald dem Schall einer Säge glichen, bald Paukenschlägen, bald dem Klappern der Störche, bald dem Knarren rostiger Türen, bald einem Händeklatschen, bald dem Miauen von Katzen oder auch einer lauten und erregten menschlichen Unterhaltung. Von Zeit zu Zeit erhob sich über den Bäumen eine kleine Schar grauer, grüner und weißer Papageien oder eine Gruppe grell befiederter, leise und in Wellenlinien fliegender Pfefferfresser. Auf dem schneeweißen Hintergrunde der Kautschuklianen huschten stellenweise wie kleine Waldgeister Traueräffchen entlang, die bis auf den weißen Schwanz, die beiden weißen seitlichen Streifen und den weißen Backenbart kohlrabenschwarz sind.
Die Kinder schauten mit Staunen auf diesen jungfräulichen Wald, den vielleicht noch nie das Auge eines weißen Menschen gesehen hatte. Sabà tauchte alle paar Augenblicke im Dickicht unter, von wo man sein fröhliches Gebell hörte. Die kleine Nel fühlte sich nach dem Chinin, dem Essen und dem Schlaf gekräftigt. Ihr Gesichtchen belebte sich wieder und nahm etwas Farbe an, ihre Augen blickten fröhlicher in die Welt. Alle paar Minuten fragte sie Staß nach den Namen der verschiedenen Bäume und Vögel, und er antwortete ihr, so gut er konnte. Endlich erklärte sie, daß sie vom Pferde steigen möchte, um viele Blumen zu pflücken.
Staß lächelte aber und sagte:
»Damit dich die Siafu dort fressen.«
»Was sind denn das, die Siafu? Sind sie schlimmer als der Löwe?«
»Schlimmer und nicht schlimmer. Es sind Ameisen, die fürchterlich beißen. Es wimmelt von ihnen auf allen Zweigen, von denen sie auf den Rücken der Menschen herabfallen wie ein Feuerregen. Aber sie treiben sich auch auf dem Boden umher. Versuch nur, vom Pferde zu steigen und in den Wald zu gehen, und du wirst gleich Luftsprünge machen und quieken wie ein Äffchen. Man kann sich eher vor einem Löwen als vor ihnen schützen. Manchmal ziehen sie in einer langen Kette weiter, und dann geht ihnen alles aus dem Wege.«
»Aber du würdest auch gegen sie Rat wissen.«
»Ich, versteht sich.«
»Aber wie?«
»Mit Hilfe von Feuer oder siedendem Wasser.«
»Du weißt dir auch immer zu helfen!« sagte sie mit tiefer Überzeugung.
Staß schmeichelten diese Worte sehr, und in dünkelhaftem und zuversichtlichem Tone antwortete er daher:
»Wenn du nur gesund bleibst; im übrigen kannst du dich auf mich verlassen.«
»Ich habe sogar keine Kopfschmerzen mehr.«
»Gott sei Dank! Gott sei Dank!«
So plaudernd, ritten sie an dem Wald vorüber, der nur mit der einen Seite die Schlucht berührte. Die Sonne stand noch hoch am Himmel und brannte sehr, da das Wetter herrlich und kein einziges Wölkchen am Himmel zu sehen war. Die Pferde trieften von Schweiß, und Nel begann, sehr über die Hitze zu klagen. Daher bog Staß an einer dazu geeigneten Stelle in den Hohlweg ein, wo die westliche Felswand schon tiefe Schatten warf. Dort war es frischer, und auch das Wasser vom gestrigen Regenguß, das sich in den Vertiefungen gesammelt hatte, war verhältnismäßig kühl.
Über den Köpfen der kleinen Reisenden flogen fortwährend von einem Felsenabhang der Schlucht zum andern Pfefferfresser mit purpurroten Köpfen, blauen Brüsten und gelben Flügeln. Und Staß erzählte Nel, was er über die Lebensgewohnheiten dieser Tiere gelesen und behalten hatte.
»Weißt du,« sagte er, »es gibt Pfefferfresser, die sich zur Brutzeit einen hohlen Baum suchen, in den das Weibchen ihre Eier legt. Sie setzt sich dann darauf, und das Männchen verschmiert die Öffnung mit Lehm, so daß nur ihr Kopf zu sehen ist. Und erst wenn die Kücken aus den Eiern herauskommen, pickt das Männchen mit seinem großen Schnabel den Lehm weg und gibt dem Weibchen die Freiheit wieder.«
»Und was ißt es während dieser Zeit?«
»Das Männchen füttert es. Es fliegt immer umher und bringt ihm allerlei Beeren.«
»Und erlaubt es ihr auch zu schlafen?« fragte Nel mit sehr schläfriger Stimme.
Staß lächelte.
»Wenn Frau Pfefferfresser es so gern möchte, wie du in diesem Augenblick, dann erlaubt er es ihr.«
In der kühlen Schlucht verfiel das kleine Mädchen in unbesiegbare Schläfrigkeit, denn die Ruhezeit vom Morgen bis zum zeitigen Mittag war nicht ausreichend gewesen. Staß wünschte sehnlichst, ihrem Beispiele folgen zu können, aber er mußte Nel halten, weil er fürchtete, daß sie sonst herabstürzen würde. Auch war es für ihn äußerst unbequem, nach Herrenart auf dem flachen, breiten Sattel zu sitzen, den Hatim und Seki-Tamala noch in Faschoda für die Kleine hergerichtet hatten. Er wagte jedoch nicht, sich zu bewegen, und ließ das Pferd möglichst langsam gehen, um sie nicht zu wecken.
Inzwischen hatte Nel sich zurückgelehnt und war, ihr Köpfchen an Staß' Schulter gestützt, fest eingeschlafen. Aber sie atmete so gleichmäßig und ruhig, daß er aufhörte, sich über das letzte Chininpulver zu sorgen. Er bemerkte, als er ihrem Atem lauschte, daß die Gefahr des Fiebers für diesmal gebannt war, und er begann zu überlegen:
»Der Hohlweg steigt fortwährend an, und jetzt sogar ziemlich steil. Wir sind also immer höher gestiegen und in eine immer trockenere Gegend gelangt. Jetzt heißt es, einen hochgelegenen, gut geschützten Platz zu finden, mit fließendem Wasser in der Nähe. Dort müssen wir es uns bequem machen, der Kleinen eine Ruhepause von vierzehn Tagen gönnen, vielleicht auch die ganze Frühlingsregenzeit abwarten. Wohl keine andere hätte auch nur den zehnten Teil all dieser Strapazen ausgehalten! Jetzt aber muß sie sich ausruhen. Eine andere hätte nach einer solchen Nacht sofort Fieber bekommen; sie aber schläft vortrefflich! Gott sei Dank!«
Diese Gedanken versetzten ihn in eine ausgezeichnete Stimmung. Er schaute auf Nels an seine Brust gelehntes Köpfchen und sagte heiter, nicht ohne ein gewisses Staunen zu sich selbst: »Merkwürdig, wie ich diese kleine Fliege liebe! Freilich, ich mochte sie ja immer gern; aber jetzt habe ich sie noch viel lieber!«
Und da er sich diese sonderbare Empfindung nicht erklären konnte, kam er zu der Annahme, daß es daher käme, weil er mit ihr gemeinsam so viel gelitten und während dieser Zeit stets für sie gesorgt hatte.
Inzwischen bewegten sie sich Schritt für Schritt schweigend vorwärts, und Staß hatte mit größter Behutsamkeit seinen Arm um die Taille dieser »Fliege« gelegt, damit sie nicht herabfalle und sich das Näschen stoße. Kali ritt hinterher und murmelte Loblieder auf Staß.
»Der große Herr Gebhr töten! Löwen und Büffel töten! Yah! Der große Herr noch viel Löwen töten! Yah! Viel Fleisch! Viel Fleisch! Yah! Yah!«
»Kali,« fragte Staß leise, »machen die Wa-hima Jagd auf Löwen?«
»Wa-hima Löwen fürchten, aber Wa-hima tiefe Gruben graben, und wenn Löwe nachts hineinfällt, lachen Wa-hima.«
»Was macht ihr dann?«
»Wa-hima werfen viele Spieße, daß Löwe wie ein Igel aussieht. Dann ihn aus der Grube herausholen und aufessen. Löwe gut schmecken!«
Und nach seiner Gewohnheit streichelte er sich den Bauch.
Staß gefiel diese Art zu jagen nicht sonderlich. Er fragte daher Kali aus, welche anderen Tiere es im Lande der Wa-hima gäbe. Und sie unterhielten sich weiter von Antilopen, Straußen, Giraffen und Nashörnern, bis das Getöse eines Wasserfalles zu ihren Ohren drang.
»Was ist das?« rief Staß. »Vor uns liegt ein Fluß und ein Wasserfall.«
Kali nickte als Zeichen der Zustimmung mit dem Kopfe.
Sie ritten nun eine Zeitlang schneller, dem Getöse lauschend, das immer deutlicher wurde.
»Ein Wasserfall!« wiederholte Staß erregt.
Aber kaum hatten sie eine Kehre und eine zweite zurückgelegt, als plötzlich ein Hindernis ihnen den weiteren Weg versperrte.
Nel, die bei der gleichmäßigen Bewegung der Pferde ruhig geschlafen hatte, erwachte nun sogleich:
»Halten wir schon, um uns zur Nacht zu lagern?« fragte sie.
»Nein, aber sieh!« entgegnete Staß, »ein Felsen verlegt uns die Schlucht.«
»Was werden wir nun tun?«
»Uns an der Seite durchdrängen, das geht nicht, weil es zu eng ist. Wir müssen ein wenig zurückreiten, nach oben klettern und das Hindernis umgehen. Da es noch zwei Stunden bis zum Abend sind, so haben wir noch Zeit genug. Die Pferde können sich auch ein wenig verschnaufen. Hörst du den Wasserfall?«
»Ich höre ihn.«
»Wir werden dort unser Nachtlager aufschlagen.«
Dann wandte er sich zu Kali, befahl ihm, den Abhang hinaufzuklettern, um nachzusehen, ob noch ähnliche Hindernisse den Hohlweg weiter versperrten. Er selbst betrachtete den Felsen aufmerksam, und nach einiger Zeit rief er:
»Er kann sich erst vor kurzer Zeit abgelöst haben und herabgestürzt sein. Siehst du, Nel, diese Bruchfläche? Sieh dir nur an, wie frisch sie ist. Kein Moos, keine Pflanzen sind darauf zu sehen. Ah! nun weiß ich schon, weiß ich schon!«
Und er zeigte dem kleinen Mädchen mit der Hand den über dem Abhang der Schlucht wachsenden Baobab, dessen Riesenwurzel am Abhange längs der Bruchstelle herabhing.
»Diese Wurzel ist in die Felswand eingedrungen und hat im Wachsen dieses Felsstück gelockert und schließlich ganz heruntergesprengt. Es ist das sonderbar, da ein Stein doch härter ist als ein Baum; ich weiß jedoch, daß so etwas im Gebirge oft vorkommt. Der kleinste Anstoß genügt, um ein lockeres Felsstück herabzustürzen.«
»Aber was mag ihm diesen letzten Stoß versetzt haben?«
»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht ein früherer Sturm, vielleicht auch der gestrige.«
In diesem Augenblick kam Sabà heran, der hinter der Karawane zurückgeblieben war. Er blieb plötzlich stehen, als wenn ihn jemand von hinten am Schwanze zöge, witterte, drängte sich in den engen Durchgang zwischen der Wand und dem losgerissenen Felsen, trat dann aber sogleich mit gesträubtem Haar wieder zurück.
Staß stieg vom Pferde, um nachzusehen, was den Hund so in Schrecken versetzt hatte.
»Staßchen, geh nicht hin«, bat Nel. »Dort kann ein Löwe sein.«
Staß aber, der ein kleiner Prahlhans war, und gegen die Löwen seit der gestrigen Nacht einen außergewöhnlichen Haß hegte, entgegnete:
»Große Sache, ein Löwe – am Tage!«
Ehe er sich jedoch dem Durchgang näherte, erscholl von oben Kalis Stimme: »Bwana Kubwa! Bwana Kubwa!«
»Was ist denn los?« fragte Staß.
Der Neger rutschte im Nu auf einem Lianenzweig hinunter. Aus seinem Gesicht konnte man leicht sehen, daß er irgendeine Neuigkeit brachte.
»Elefant!« rief er.
»Ein Elefant?«
»Ja«, meldete der junge Neger, indem er mit den Armen umherfuchtelte. »Dort versperrt Wasser und hier Felsen. Der Elefant nicht hinaus können. Großer Herr Elefant töten, Kali ihn essen – ach essen, essen!«
Und bei diesem Gedanken erfaßte ihn eine solche Wonne, daß er zu springen begann und sich lachend mit den Händen auf die Schenkel schlug; er verdrehte die Augen dabei wie ein Wahnsinniger und fletschte die Zähne.
Staß begriff nicht sogleich, warum Kali sagte, der Elefant könnte nicht aus der Schlucht heraus. Da er sehen wollte, was sich ereignet hatte, bestieg er sein Pferd, vertraute Nel Mea an, um gegebenenfalls die Hände zum Schuß frei zu haben, und befahl Kali, hinter ihm aufzusitzen. Sie kehrten alle um und begannen, eine Stelle zu suchen, wo sie nach oben hinaufsteigen konnten. Unterwegs fragte Staß Kali aus, auf welche Weise der Elefant wohl dort hingeraten sein konnte, und aus Kalis Antworten erriet er so ungefähr, was vorgefallen war.
Der Elefant mußte während des Dschungelbrandes vor dem Feuer durch den Hohlweg geflohen sein; unterwegs hatte er wahrscheinlich an den arg zerklüfteten Felsen gestoßen, der nun herabstürzte und ihm den Rückweg versperrte. Am Ende der Schlucht angelangt, befand das Tier sich dann am Rande eines tiefen Abgrundes, in den das Wasser eines Flusses hineinfiel. Auf diese Weise war der Elefant eingeschlossen.
Nach einiger Zeit fanden die jungen Reisenden einen Ausweg aus der Schlucht, der aber ziemlich steil war, so daß sie von den Pferden absteigen und sie hinter sich her führen mußten.
Da es den Versicherungen Kalis nach sehr nahe bis zum Flusse war, so gingen sie weiter zu Fuß. Sie gelangten schließlich zu einer hohen Landzunge, die von der einen Seite durch den Fluß, von der anderen durch die Schlucht begrenzt war, und als sie nach unten blickten, gewahrten sie auf dem Grunde des kesselförmigen Tales den Elefanten.
Das Riesentier lag auf dem Bauche und sprang zu Staß' Erstaunen bei ihrem Anblick nicht einmal auf. Erst als Sabà begann, am Rande der Schlucht hin und her zu rennen und wütend zu bellen, bewegte der Elefant eine Zeitlang die ungeheuren Ohren und hob den Rüssel, den er jedoch gleich wieder fallen ließ.
Die Kinder hielten sich bei den Händen und betrachteten ihn lange schweigend. Erst Kali unterbrach das Schweigen.
»Er Hungers sterben!« rief er.
Tatsächlich war das Tier so abgemagert, daß seine Wirbelsäule einen am Rücken hervorragenden Kamm bildete; die Flanken waren eingefallen, und trotz der Dicke der Haut zeichneten sich deutlich die Rippen ab. Es war wirklich nicht schwer zu verstehen, daß er nur deshalb nicht aufstand, weil er keine Kräfte mehr dazu hatte.
Der Hohlweg, der an der Mündung des Flusses ziemlich breit war, bildete hier ein von zwei Seiten durch senkrechte Felsen abgeschlossenes, kesselförmiges Tälchen. Auf seinem Grunde wuchsen einige Bäume, aber sie waren zerbrochen, ihre Rinde abgerissen, und an ihren Zweigen befand sich kein einziges Blättchen. Die an den Felswänden herunterhängenden Pflanzen waren gleichfalls abgepflückt, und im Tal selbst war alles bis zum letzten Grashalm weggefressen.
Nachdem Staß die ganze Sachlage genau übersehen hatte, begann er Nel seine Beobachtungen mitzuteilen. Aber unter dem Eindruck des unvermeidlichen Todes des Riesentieres sprach er leise, als wenn er fürchtete, ihm die letzten Minuten des Lebens zu trüben.
»Ja, er stirbt tatsächlich vor Hunger. Er sitzt hier sicherlich schon seit zwei Wochen gefangen, wohl von der Zeit an, wo das Feuer das alte Dschungel niedergebrannt hat. Er hat alles, was irgend eßbar war, aufgefressen, und es ist jetzt um so qualvoller für ihn, weil über ihm Brotbäume und Akazien mit großen Schoten wachsen, die er nur sehen, aber nicht erreichen kann.«
Eine Zeitlang schauten sie wieder schweigend auf das Tier. Auch der Elefant richtete von Zeit zu Zeit seine kleinen, verlöschenden Augen auf sie, – und einem Glucksen ähnelnde Laute kamen aus seiner Kehle.
»Wirklich,« ließ sich Staß vernehmen, »es wäre besser, ihm diese Qualen abzukürzen.«
Nach diesen Worten führte er die Flinte ans Gesicht, aber Nel packte ihn an seiner Jacke, und indem sie sich mit beiden Füßchen stemmte, begann sie ihn mit aller Kraft von dem Abhang wegzuziehen.
»Staßchen, tu es nicht! Staßchen, wir wollen ihm zu essen geben! Ach, der Arme! Ich will nicht, daß du ihn tötest! Ich will nicht! Will nicht!«
Und mit den Füßchen stampfend, ließ sie nicht ab, ihn fortzuziehen.
Er blickte sie voller Staunen an, als er aber ihre Augen voller Tränen sah, sagte er:
»Aber, Nel!« –
»Ich will nicht! Ich lasse ihn nicht töten! Ich kriege Fieber, wenn du ihn tötest!«
Diese Drohung genügte, um Staß seine Mordgedanken zu vertreiben, sowohl diesem Elefanten gegenüber, der jetzt vor ihm lag, als auch gegen alle übrigen auf der ganzen Welt. Einen Augenblick schwieg er noch, da er nicht wußte, wie er der Kleinen antworten sollte, dann sprach er:
»Nun gut, gut! Ich sage dir, laß es gut sein! Nel, laß mich los!«
Nel umarmte ihn sogleich, und in ihren verweinten Augen leuchtete ein Lächeln. Jetzt lag ihr nur daran, dem Elefanten möglichst schnell zu essen zu geben. Kali und Mea wunderten sich sehr, als sie erfuhren, daß Bwana Kubwa ihn nicht nur nicht töten würde, sondern ihnen befahl, für ihn so viele Melonen vom Brotbaum und so viele Akazienschoten zu pflücken, als sie nur vermochten, und noch dazu allerlei Grünzeug, Blätter und Gräser. Das zweischneidige Schwert Gebhrs tat Kali gute Dienste bei dieser Arbeit, die ohne dieses nicht so leicht vor sich gegangen wäre.
Nel wartete jedoch nicht erst ab, bis alles fertig gepflückt war; sobald nur die erste Melone vom Baum gefallen war, nahm sie sie mit beiden Händen auf und trug sie nach der Schlucht, als ob sie fürchtete, daß ihr jemand anders zuvorkommen könnte.
»Ich! Ich! Ich!«
Staß dachte auch durchaus nicht daran, ihr dieses Vergnügen zu rauben. Nur weil er fürchtete, daß sie im Übereifer mitsamt der Melone hinunterfliegen könnte, hielt er sie fest und rief: »Nun wirf!«
Die Riesenfrucht rollte den steilen Abhang hinunter und fiel zu Füßen des Elefanten nieder. Dieser streckte sofort seinen Rüssel aus, faßte die Frucht, bog den Rüssel, als wenn er sich die Melone unter das Kinn legen wollte, und eins, zwei, drei, war die Frucht verschwunden.
»Hat sie aufgegessen!« rief die beglückte Nel.
»Das will ich meinen!« antwortete Staß lachend.
Der Elefant streckte ihnen den Rüssel entgegen, als ob er um mehr bitten wollte und ließ ein langgezogenes »Hrrumf« erschallen.
»Er will noch mehr!«
»Das will ich meinen!« wiederholte Staß.
Die zweite Melone ging den Weg der ersten und war ebenso im Umdrehen verschwunden, dann folgte die dritte, vierte, zehnte. Nachher begannen Akazienschoten und ganze Bündel von Gras und Blättern herunterzufliegen. Nel ließ sich von keinem bei ihrer Arbeit vertreten, und als ihre kleinen Hände ermüdet waren, stieß sie mit den Füßen immer neue Vorräte für den Elefanten hinab. Der Elefant fraß alles, erhob zuweilen den Rüssel und stieß zum Zeichen, daß er noch mehr wünsche, ein donnerndes »Hrrumf« aus, von dem Nel behauptete, daß es eine Danksagung wäre.
Kali und Mea waren schon ganz müde von der Arbeit, die sie sehr eifrig betrieben, allein in dem Gedanken, daß »Bwana Kubwa« den Elefanten erst zu mästen wünschte, bevor er ihn tötete. Schließlich befahl Staß ihnen, aufzuhören; denn die Sonne war schon stark im Sinken begriffen, und es war Zeit, mit dem Bau der Zeriba zu beginnen. Zum Glück war das keine sehr schwierige Arbeit, denn die Landzunge war von zwei Seiten völlig unzugänglich, so daß man nur die dritte Seite abzugrenzen brauchte. An Akazien mit schrecklichen Dornen war auch kein Mangel.
Nel wich inzwischen nicht einen Schritt von der Schlucht; sie kauerte am Abhang und berichtete Staß von ferne alles, was der Elefant tat, und ihr feines Stimmchen erscholl abwechselnd:
»Jetzt sucht er mit dem Rüssel umher!« oder »er bewegt die Ohren! Er hat ungeheuer große Ohren!« und schließlich »Staßchen! Staßchen! Er steht auf! Oi-Oi!«
Staß eilte hin und nahm Nel bei der Hand. Der Elefant hatte sich in der Tat erhoben, und jetzt konnten die Kinder seine Riesengröße sehen. Sie hatten früher mehrfach große Elefanten gesehen, solche, die auf einem Dampfer durch den Kanal nach Europa gebracht wurden, aber keiner von ihnen konnte sich mit diesem Koloß vergleichen, der wirklich mit seiner schieferfarbenen Haut einem großen, auf vier Beinen wandelnden Felsen glich. Er unterschied sich auch von den anderen durch die riesengroßen Hauer, die eine Länge von fünf Fuß oder noch mehr hatten, und, wie Nel schon erklärt hatte, durch seine einfach fabelhaft großen Ohren. Seine Vorderbeine waren sehr hoch, aber verhältnismäßig dünn, was wahrscheinlich von dem vieltägigen Fasten herrührte.
»Ist das ein Elefant!« rief Staß. »Wenn er sich aufbäumte und den Rüssel ausstreckte, könnte er dich an den Füßen ergreifen.«
Aber der Koloß dachte weder daran, sich aufzubäumen, noch jemand bei den Füßen zu packen. Schwankenden Schrittes näherte er sich der Schluchtmündung, blickte eine Zeitlang in den Abgrund, in dem das Wasser brodelte. Dann wandte er sich zu der Wand, wo der Wasserfall war, tauchte den Rüssel ein und begann zu trinken.
»Ein Glück,« sagte Staß, »daß er mit dem Rüssel bis an das Wasser reicht, sonst müßte er verenden.«
Der Elefant trank so lange, daß das kleine Mädchen sich zuletzt beunruhigte.
»Staßchen, wird er sich nicht schaden?« fragte sie.
»Ich weiß nicht«, antwortete er lachend. »Aber da du ihn unter deine Obhut genommen hast, so warne ihn doch.«
Und Nel bog sich über den Rand und begann zu rufen:
»Genug, lieber Elefant, genug!«
Der »liebe Elefant« hörte, als wenn er begriffen hätte, um was es sich handelte, gleich mit Trinken auf. Dafür begann er, sich mit Wasser zu begießen. Zuerst begoß er sich die Beine, dann den Rücken und zuletzt die beiden Seiten.
Inzwischen war es dunkel geworden, und Staß führte die kleine Nel in die Zeriba, wo das Abendessen schon auf sie wartete. Beide Kinder waren in bester Stimmung. Nel, weil sie dem Elefanten das Leben gerettet hatte, und Staß, weil er Nels wie zwei Sternchen leuchtende Augen sah und ihr erfreutes Gesichtchen, das frischer und gesunder aussah als jemals seit ihrer Abreise aus Chartum. Dazu kam noch, daß er sich eine ruhige und vortreffliche Nacht versprach. Die von zwei Seiten unzugängliche Landzunge sicherte sie völlig vor Überfällen, und an der dritten hatten Kali und Mea eine so hohe Wand aus Akazienzweigen und Passifloren errichtet, daß es ganz unmöglich war, daß irgendein Raubtier darüber hinweg oder hindurchdringen konnte. Auch das Wetter war herrlich, und der Himmel erstrahlte gleich nach Sonnenuntergang im Glanze unzähliger Sterne. Es war ein Vergnügen, die durch die Nähe des Wasserfalles erfrischte Luft einzuatmen, die mit dem Duft des Dschungels und der frisch abgebrochenen Zweige getränkt war.
»Diese Fliege wird kein Fieber bekommen!« dachte Staß mit Freuden.
Später begannen sie, sich von dem Elefanten zu unterhalten, da Nel nicht gesonnen war, über etwas anderes zu reden. Sie hörte nicht auf, sich über seine Größe, seinen Rüssel und seine wirklich riesigen Stoßzähne zu begeistern. Zum Schluß sagte sie:
»Staßchen, nicht wahr, er ist sehr klug.«
»Wie Salomon«, entgegnete Staß. »Aber woraus schließt du das?«
»Nun, als ich ihn bat, nicht mehr zu trinken, hat er sofort aufgehört.«
»Wenn er vorher nicht englische Stunden genommen hat und doch englisch versteht, so ist er wirklich ein Wundertier.«
Nel bemerkte, daß Staß sie zum besten hielt; daher fuhr sie wie eine Katze auf ihn los und sagte:
»Sag, was du willst, aber ich bin überzeugt davon, daß er wirklich sehr klug ist, und daß er bald zahm werden wird.«
»Ob so bald, das weiß ich nicht, aber zahm kann er wohl werden. Afrikanische Elefanten sind zwar wilder als die asiatischen, aber Hannibal hat sich z. B. afrikanischer Elefanten bedient.«
»Wer war denn Hannibal?«
Staß sah Nel nachsichtig und mitleidig an.
»Natürlich,« sagte er, »in deinem Alter weiß man von solchen Dingen nichts. Hannibal war ein großer, karthagischer Heerführer, der im Kriege mit den Römern Elefanten benutzte. Und da Karthago in Afrika lag, so muß er afrikanische Elefanten gebraucht haben.«
Die weitere Unterhaltung unterbrach das laute Gebrüll des Elefanten, der, nachdem er sich satt gegessen und getrunken hatte, zu trompeten anfing, vielleicht aus Freude, vielleicht auch aus Sehnsucht nach völliger Befreiung. Sabà sprang auf und begann zu bellen. Staß aber sagte:
»Da hast du es! Jetzt ruft er die Kameraden zusammen. Wir werden schön aussehen, wenn sich eine ganze Herde hier einfindet.«
»Er wird den anderen sagen, daß wir gut zu ihm waren«, antwortete Nel schnell.
Aber Staß, der sich in Wirklichkeit nicht beunruhigte, da er darauf rechnete, daß der Feuerschein selbst eine ganze Elefantenherde vertreiben würde, lächelte eigensinnig und sagte:
»Schön! Schön! Und wenn sich die Elefanten zeigen, so wirst du vor Schreck nicht weinen, nein, o nein! – Nur deine Augen werden wieder schwitzen, wie sie es schon zweimal getan.«
Und er begann, ihr nachzuahmen:
»Ich weine ja nicht, nur meine Augen schwitzen so.«
Als Nel seine fröhliche Miene sah, erriet sie, daß ihnen keinerlei Gefahr drohe.
»Sobald wir ihn gezähmt haben,« sagte sie, »werden mir die Augen nicht mehr schwitzen, selbst wenn zehn Löwen brüllen.«
»Warum denn?«
»Dann wird er uns beschützen.«
Staß beruhigte Sabà, der nicht aufhörte, dem Elefanten zu antworten. Dann sann er eine Zeitlang nach und sagte:
»Du hast eins nicht bedacht, Nel. Wir werden doch hier nicht ewig bleiben, sondern weiterreisen. Ich sage nicht gleich – gewiß, der Platz hier ist gut und gesund; ich habe daher beschlossen, hierzubleiben, eine, vielleicht auch zwei Wochen. Denn wir alle brauchen eine Ruhezeit. Nun wohl, solange wir hier sind, werden wir den Elefanten füttern, obwohl das eine ungeheure Arbeit macht. Aber er ist doch eingeschlossen, wir können ihn also nicht mit uns nehmen. Was wird dann? Wir reisen fort, und er bleibt hier und wird Hunger leiden, bis er stirbt. Dann werden wir es noch viel mehr bedauern.«
Nel wurde ganz traurig. Sie saß einige Augenblicke schweigend, da sie offenbar nicht wußte, was sie auf diese zutreffenden Bemerkungen antworten sollte. Dann aber erhob sie den Kopf, warf das Haar, das ihr in die Augen gefallen war, zurück und blickte den Knaben voller Zuversicht an.
»Ich weiß,« sagte sie, »wenn du nur ernstlich willst, so wirst du schon ein Mittel finden, ihn aus der Schlucht herauszuholen.«
»Ich?«
Sie erhob ihre Hand und berührte Staß mit den Fingern, indem sie wiederholte: »Du, du!«
Das schlaue kleine Dingelchen wußte, daß ihr Vertrauen dem Knaben schmeichelte, und daß er von nun an überlegen würde, auf welche Weise er den Elefanten befreien könnte.