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Indessen flogen die Kamele wie vom Sturm getrieben über den vom Mondlicht glänzenden Sand. Es war tiefe Nacht. Der Mond, zuerst groß wie ein Rad, war klein und blaß geworden und stand hoch am Himmel. Die Anhöhen der Wüste in der Ferne verhüllten sich mit silbrigen Nebelschleiern, die zarten Musselingeweben glichen und sie zu lichten, geheimnisvollen Erscheinungen machten. Von Zeit zu Zeit vernahm man hinter den hier und da verstreuten Felsen das klagende Heulen von Schakalen.
Es verstrich wieder eine Stunde. Staß nahm Nel in seine Arme und stützte sie, indem er sich bemühte, das bei dem wahnsinnigen Rennen der Kamele unvermeidliche qualvolle Hochwerfen abzuschwächen. Das Kind fragte immer öfter, warum man so eile und warum weder die Zelte noch die Väter zu sehen seien. Staß entschloß sich endlich, ihr die ganze Wahrheit zu enthüllen, die sie früher oder später ja doch erfahren mußte.
»Nel,« sagte er, »zieh einen Handschuh aus und wirf ihn unbemerkt zur Erde.«
»Wozu, Staß?«
Und er drückte sie an sich und sagte mit einer für ihn ungewohnten Zärtlichkeit: »Tu nur, was ich dir sage.«
Nel hielt sich mit der einen Hand an Staß fest und fürchtete sich, ihn loszulassen. Doch sie wußte sich zu helfen und streifte den Handschuh mit den Zähnen ab, jeden Finger besonders. Schließlich, als sie ihn ganz abgezogen hatte, ließ sie ihn auf die Erde fallen.
»Nach einiger Zeit wirf auch den anderen herunter«, sagte Staß wieder. »Ich habe die meinen schon hingeworfen, deine sind aber leichter zu bemerken, weil sie weiß sind.«
Als er Nels fragenden Blick sah, fuhr er fort:
»Fürchte dich nur nicht, Nel! – – – Aber siehst du – – – kann sein, daß wir weder deinen noch meinen Vater treffen – – – und daß diese bösen Menschen uns entführt haben. – Fürchte du nichts – – – denn, wenn es so ist, so wird man sie verfolgen lassen. Man wird uns sicher einholen und uns wegführen. – – – Deshalb bat ich dich, die Handschuhe hinzuwerfen, damit die Verfolger unsere Spuren finden. Vorläufig können wir nichts anderes tun, aber nachher wird mir schon etwas einfallen. – – – Sicherlich wird mir etwas einfallen, – nur fürchte dich nicht, und glaube mir.«
Als Nel erfuhr, daß sie ihr Väterchen nicht sehen würde, und daß man sie irgendwohin, weit in die Wüste entführte, begann sie vor Schrecken zu zittern und zu weinen. Sie schmiegte sich an Staß an und fragte, warum man sie entführe, und wohin man sie bringe. Er tröstete das Mädchen, wie er nur konnte, fast mit denselben Worten, mit denen sein Vater Rawlison getröstet hatte. Er sagte, daß ihre Väter alles versuchen würden, um sie einzuholen, daß sie sämtliche Wachen an den Ufern des Nils benachrichtigen würden. Endlich versicherte er, daß, was auch kommen möge, er sie nicht verlassen und sie immer beschützen würde.
Aber das Leid und die Sehnsucht nach dem Vater waren größer als die Furcht, und lange Zeit hindurch hörte sie nicht auf mit Weinen. Und so flogen sie traurig in der mondhellen Nacht über den weißen Sand der Wüste.
Staß' Herz schnürte sich krampfhaft zusammen, nicht nur vor Schmerz und Furcht, sondern auch vor Scham.
An ihrer schlimmen Lage trug er zwar keine Schuld, aber er gedachte seiner Großtuerei, die sein Vater so oft an ihm getadelt hatte. Er war vordem so fest davon überzeugt gewesen, daß es keine Situation gäbe, der er nicht gewachsen wäre; er hatte sich für einen unüberwindlichen Kerl gehalten und war bereit gewesen, die ganze Welt in die Schranken zu fordern. Und jetzt lernte er begreifen, daß er nur ein kleiner Junge war, mit dem jeder tun konnte, was er wollte. Nun ritt er gegen seinen Willen auf einem Kamel, nur weil dieses Kamel von hinten durch einen halbwilden Sudanesen vorwärts getrieben wurde. Er fühlte sich äußerst gedemütigt und konnte nicht dagegen ankämpfen, denn er mußte sich selbst gestehen, daß er sich vor den Menschen, der Wüste und alledem, was sich nun ereignen konnte, fürchtete.
Er gelobte nicht nur Nel, sondern auch sich, daß er die Kleine behüten und verteidigen wollte, wenn es auch das eigene Leben kostete.
Nel, ermüdet vom Weinen und dem Dahinjagen, das schon ganze sechs Stunden währte, begann zu schlummern und schließlich zeitweilig fest einzuschlafen. Staß, der wußte, daß, wer von einem galoppierenden Kamel herunterstürzt, zumeist des Todes ist, band sie mit einem Seil, das er an dem Sattel gefunden, fest. Allmählich schien es ihm, als wenn die Kamele ihren Lauf etwas verlangsamten, obwohl sie noch immer weichen und ebenen Sand unter sich hatten. In der Ferne sah er noch immer die Umrisse der Berge, und auf der Ebene, umflutet von zauberhaftem Lichte, zeigten sich die der Wüste eigenen wunderbaren Spiegelungen und Lichttäuschungen. Der Mond am Himmel leuchtete mit immer bleicher werdendem Scheine, und eigentümlich rosige, ganz durchsichtige, wie aus lauter Licht gewebte Wolken zogen ganz niedrig vor ihren Augen dahin. Man sah nicht, wie und woher sie sich bildeten, und langsam, wie von schwachen Winden getrieben, bewegten sie sich vorwärts. Als die voranreitenden Beduinen in diese Lichterscheinung gerieten, sah Staß ihre Burnusse und die Kamele sich rosig färben, und schließlich umhüllte dieses rosige Licht die ganze Karawane. Zuweilen nahmen die Wolken auch eine bläuliche Färbung an, und dieses Lichtspiel dauerte fort, beinahe bis sie die Hügel erreichten.
Hier wurde der Lauf der Kamele noch langsamer. Ringsumher sah man jetzt Felsen, die hinter den sandigen Hügeln hervorragten und in wilder Unordnung verstreut waren. Der Boden wurde steiniger. Sie durchritten mehrere Vertiefungen, in denen Steine umherlagen und die ausgetrockneten Flußbetten ähnelten. Bisweilen verlegten tiefe Schluchten ihnen den Weg, die sie umgehen mußten. Die Kamele schritten langsam und vorsichtig, leicht tänzelnd, da sie durch die trockenen und harten Sträucher der Jerichorosen hindurch mußten, mit denen die Anhöhen und Felsen ringsumher ganz bedeckt waren. Sie stolperten auch des öfteren, und es war ersichtlich, daß sie der Ruhe bedurften.
In einer tiefen Schlucht machten die Beduinen Rast; sie stiegen von den Kamelen und begannen, das Gepäck abzubinden. Ihrem Beispiele folgten Idrys und Gebhr. Sie lockerten die Sattelgurte und nahmen die Lebensmittelvorräte herunter. Dann suchten sie flache Steine, um eine Feuerstelle zu bauen. Holz und trockener Dünger, den die Araber sonst zum Feuern benutzen, war nicht da. Chamis aber brach Zweige von den Jerichorosen ab, baute einen Scheiterhaufen und zündete ihn an.
Während die Sudanesen mit ihren Kamelen beschäftigt waren, trafen Staß, Nel und die alte Wärterin Dinah unbeobachtet zusammen. Dinah war noch mehr erschreckt als die Kinder, sie konnte kein Wort hervorbringen. Sie wickelte Nel in ein warmes Tuch ein, setzte sich zu ihr auf die Erde und küßte ihr jammernd die Hände. Staß fragte sogleich Chamis, was das alles zu bedeuten habe, und was vorgefallen sei; der aber zeigte ihm lachend seine weißen Zähne und ging weg, um weiter Jerichorosen zu sammeln. Idrys, den Staß alsdann fragte, sagte nur, »wirst sehen«, und drohte ihm mit dem Finger.
Als endlich das Feuer aus den zumeist nur glimmenden Rosensträuchern im Gange war, setzten sich alle, außer Gebhr, der bei den Kamelen blieb, herum und begannen, flache Maisbrote und getrocknetes Hammel- und Ziegenfleisch zu essen. Die Kinder waren von dem langen Ritt ebenfalls hungrig, auch Nel, obwohl sie sich sehr schläfrig fühlte. In diesem Augenblick trat auch der dunkelhäutige Gebhr in den matten Lichtschein des Feuers; er blinzelte mit den Augen, hob zwei kleine, weiße Handschuhe in die Höhe und fragte: »Wem gehören sie?«
»Es sind meine«, antwortete mit müder, schläfriger Stimme Nel.
»Deine, kleine Schlange?« zischte der Sudanese durch die zusammengepreßten Zähne. »Das tatest du, um den Weg zu kennzeichnen, damit dein Vater wissen sollte, wo er uns zu finden hätte.«
Und bei diesen Worten schlug er die Kleine mit einer arabischen Peitsche, die selbst die Haut eines Kamels aufschlägt. Obwohl Nel in ein dickes Plaid eingehüllt war, schrie sie dennoch vor Schreck und Schmerz laut auf. Bevor Gebhr aber zum zweiten Male die Peitsche auf die Kleine herabfallen ließ, war Staß wie eine wilde Katze auf den Sudanesen zugesprungen, stieß ihn mit seinem Kopf vor die Brust und packte ihn an die Gurgel.
Das geschah so unerwartet, daß der Sudanese rücklings hinfiel. Staß stürzte über ihn, und beide wälzten sich nun auf dem Boden umher.
Der Knabe war zwar für sein Alter ausnehmend kräftig, aber Gebhr wurde doch schnell mit ihm fertig. Er entfernte zuerst Staß' Hand von seiner Kehle, drehte den Knaben mit dem Gesicht zur Erde und, indem er ihn so mit der Hand auf den Boden preßte, begann er ihn mit der Peitsche zu schlagen. Das Geschrei und die Tränen Nels, die die Hand des Wilden ergriffen hatte und ihn anflehte, Staß zu verzeihen, hätten wohl nichts gefruchtet, wenn Idrys nicht unerwartet dem Jungen zu Hilfe gekommen wäre. Er war älter und viel stärker als Gebhr, und alle hatten von Anfang der Flucht aus Gharak-el-Sultani an seinen Befehlen gehorcht. Idrys entriß seinem Bruder die Peitsche, warf sie beiseite und schrie: »Mach, daß du fortkommst, Dummkopf!«
»Ich will diesen Skorpion kaltmachen!« entgegnete Gebhr, mit den Zähnen knirschend.
Darauf packte Idrys ihn vorn beim Mantel, sah ihm in die Augen und begann auf ihn mit drohender, aber leiser Stimme einzusprechen.
»Die edle Sämtliche Verwandte des Mahdi trugen den Titel »edel«. Fatima verbot, diesen Kindern etwas zuleide zu tun; denn sie sind für sie eingetreten.«
»Mach sie kalt!« wiederholte Gebhr.
»Und ich verbiete dir, noch einmal die Peitsche gegen sie zu erheben! Tust du es dennoch, so werde ich dir jeden Schlag zehnfach heimzahlen.« Und er schüttelte Gebhr bei diesen Worten wie einen Palmwedel. Dann fuhr er fort:
»Diese Kinder sind Smains Eigentum, und sollte eins von ihnen nicht lebend ankommen, so würde der Mahdi selbst – möge Gott seine Tage bis in die Ewigkeit verlängern – dich aufhängen lassen. Verstehst du, Dummkopf!«
Der Name des Mahdi machte auf alle seine Anhänger einen solchen Eindruck, daß Gebhr sofort den Kopf zu Boden senkte und vor Schreck mehrfach ausrief:
»Allah akbar! Allah akbar!« Dieser Ausruf bedeutet »Gott ist groß!«, die Araber gebrauchen ihn aber in Augenblicken der Angst, als wenn sie um Hilfe rufen.
Staß erhob sich, nach Luft ringend und zerschlagen, aber mit dem Bewußtsein, daß sein Vater stolz auf ihn gewesen, wenn er hätte sehen und hören können, wie er ohne jedes Überlegen Gebhr entgegengetreten, um die kleine Nel in Schutz zu nehmen, und er begann, ungeachtet der Schmerzen der auf seinen Körper wie Feuer brennenden Peitschenhiebe, das Kind zu trösten und zu fragen, ob ihr die Schläge auch keinen Schaden getan hätten.
»Was ich bekommen habe, das habe ich bekommen; aber er wird es nicht mehr wagen, dich wieder anzufassen. Ach, wenn ich nur irgendeine Waffe hätte!«
Das kleine Mädchen umklammerte seinen Hals, benetzte sein Gesicht mit ihren Tränen und versicherte ihm, daß es nicht sehr weh tue, und daß sie nicht aus Schmerz weine, sondern, weil er ihr so leid tue. Darauf beugte Staß sich nieder und flüsterte ihr ins Ohr:
»Nel, nicht weil er mich geprügelt, sondern weil er dich geschlagen, schwöre ich dir, das soll ihm nicht geschenkt werden.« Damit endete diese Begebenheit.
Einige Zeit darauf breiteten Gebhr und Idrys, die sich inzwischen ausgesöhnt hatten, einen Mantel aus und legten sich nieder. Chamis folgte ihrem Beispiel. Die Beduinen gaben ihren Kamelen Durra, nahmen zwei unbeladene Tiere und ritten mit ihnen nach der Richtung des Nils. Nel legte ihren Kopf auf Dinahs Schoß und schlief ein. Das Feuer erlosch, und bald hörte man nichts als das Knirschen der Durra zwischen den Zähnen der Kamele. Am Himmel zeigten sich kleine Wölkchen, die zeitweise den Mond verdeckten. Hinter den Felsen erscholl das klagende Heulen der Schakale.
Zwei Stunden später kehrten die Beduinen zurück mit den Kamelen, die mit großen, ledernen, mit Wasser gefüllten Säcken beladen waren. Sie fachten das Feuer an, setzten sich auf die Erde und begannen zu essen. Ihre Ankunft weckte den eingeschlummerten Staß, die beiden Sudanesen und Chamis.
Am Feuer begann nun folgendes Gespräch:
»Können wir aufbrechen?« fragte Idrys.
»Nein, denn wir müssen ausruhen, wir und unsere Kamele.«
»Hat euch niemand gesehen?«
»Niemand. Wir ritten zwischen zwei Dörfern zum Flußufer. In der Ferne hörten wir Hunde bellen.«
»Künftighin werdet ihr immer um Mitternacht nach Wasser reiten und es in unbewohnten Gegenden schöpfen. Wenn wir nur erst den ersten Wasserfall hinter uns hätten. Je weiter wir sind, je seltener werden die Dörfer und desto geneigter sind sie dem Propheten. Wir werden sicherlich verfolgt werden.«
Darauf legte Chamis sich auf den Bauch und sagte:
»Die Ingenieure werden erst die ganze Nacht bis zum nächsten Zug auf die Kinder in El-Fachen warten. Dann werden sie nach Fayum reisen und von dort aus nach Gharak. Erst da werden sie begreifen, was vorgefallen ist. Sie werden nach Medinet zurückkehren müssen, um Worte, die auf Kupferdrähten fliegen, nach den Ortschaften am Nil zu senden und eine Verfolgung auf Kamelen hinter uns herzuschicken. Das alles wird mindestens drei Tage in Anspruch nehmen. Vordem brauchen wir unsere Kamele nicht zu überanstrengen; wir können ruhig aus unseren Pfeifen Rauch trinken.«
Nachdem er so gesprochen, nahm er einen brennenden Zweig der Jerichorose und zündete seine Pfeife an. Idrys begann nach arabischer Sitte vor Vergnügen mit der Zunge zu schnalzen.
»Das hast du gut eingerichtet, Chadigis Sohn«, sagte er. »Dennoch dürfen wir keine Zeit verlieren; wir müssen uns innerhalb dieser drei Tage möglichst nach Süden zu entfernen. Ich werde erst dann recht aufatmen, wenn wir die Wüste zwischen dem Nil und Kharge Große Oase westlich vom Nil. hinter uns haben. Gebe Gott, daß die Kamele es aushalten!«
»Das werden sie«, bemerkte einer der Beduinen.
»Die Leute erzählen,« warf Chamis ein, »daß die Truppen des Mahdi – möge Gott sein Leben verlängern – sich schon Assuan nähern.«
Hier erhob sich Staß, dem kein Wort des Gespräches verloren gegangen, eingedenk der Worte, die Idrys vorher zu Gebhr gesagt hatte, und bemerkte:
»Die Truppen des Mahdi stehen unterhalb Chartums.«
»La, la!« (nein, nein!) widersprach Chamis.
»Gebt nichts auf seine Worte,« sagte Staß, »denn er hat nicht nur eine dunkle Haut, sondern auch ein ebensolches Gehirn. Chartum könnt ihr, selbst wenn ihr alle drei Tage neue Kamele kauft und so jagt wie heute, nicht vor drei Monaten erreichen. Außerdem wißt ihr nicht einmal, ob nicht die ägyptische, sondern eine englische Armee euch den Weg verlegen wird.«
Diese Worte verfehlten nicht, einen gewissen Eindruck zu machen, und als Staß das bemerkte, fuhr er fort:
»Bevor ihr zwischen dem Nil und der großen Oase sein werdet, wird man alle Wege in der Wüste mit Militärposten besetzt haben. Ha! Die Worte laufen schneller durch den Kupferdraht als eure Kamele. Wie wollt ihr also durchkommen?«
»Die Wüste ist breit«, entgegnete einer der Beduinen.
»Aber ihr müßt euch in der Nähe des Nils halten.«
»Wir können uns auch an das andere Ufer übersetzen lassen. Und während man uns auf dieser Seite suchen wird, werden wir längst auf der anderen sein!«
»Die Worte, die am Kupferdraht entlang fliegen, werden an alle Ortschaften und Flecken zu beiden Seiten des Nils gelangen.«
»Der Mahdi wird uns einen Engel schicken, der seine Hand auf die Augen der Engländer und Türken (Ägypter) legen und uns unter seine Fittiche nehmen und verhüllen wird.«
»Idrys,« sagte Staß, »ich wende mich weder an Chamis, dessen Kopf ebenso hohl ist wie ein Kürbis, noch an Gebhr, den gemeinen Schakal, sondern an dich. Ich weiß nun, daß ihr uns zum Mahdi bringen und an Smain ausliefern wollt. Tut ihr dies des Geldes wegen, so wisse, daß der Vater dieses kleinen Bint (Mädchens) reicher ist als sämtliche Sudanesen zusammen.«
»Und was folgt daraus?« unterbrach ihn Idrys.
»Was daraus folgt? Kehrt freiwillig zurück, und der große Ingenieur wird mit Geld nicht geizen, und mein Vater ebensowenig.«
»Aber sie werden uns der Behörde ausliefern, die uns hängen lassen wird.«
»Nein, Idrys. Aber ihr werdet unfehlbar gehängt werden, wenn man euch auf der Flucht einfängt. Und das wird sicherlich geschehen. Kehrt ihr jedoch von selbst zurück, so wird euch keine Strafe treffen, und ihr werdet außerdem bis an euer Lebensende reiche Leute sein. Du weißt, daß die Weißen aus Europa immer ihr Wort halten, und nun gebe ich euch das Wort für beide Ingenieure, daß alles so sein wird, wie ich es euch sage.«
Staß war tatsächlich überzeugt davon, daß sein Vater und Rawlison es hundertmal vorziehen würden, das für sie gegebene Versprechen einzuhalten, als sie beide, hauptsächlich aber Nel, dieser fürchterlichen Reise und, was noch schlimmer war, diesem schrecklichen Leben inmitten der wilden und zügellosen Horden des Mahdi auszusetzen.
Mit starkem Herzklopfen wartete er auf Idrys Antwort, der erst, in Schweigen versunken, nach einer längeren Zeit sagte:
»Du sagst, der Vater des kleinen ›Bint‹ (Mädchens) und der deine werden uns viel Geld geben?«
»Das sagte ich.«
»Vermag ihr ganzes Vermögen uns aber die Tore des Paradieses zu öffnen, die uns ein einziger Segen des Mahdi öffnen kann?«
»Bismillah!« riefen darauf beide Beduinen zugleich mit Chamis und Gebhr.
Staß verlor sogleich jede Hoffnung; er wußte, daß die Orientalen zwar geldgierig und käuflich sind, aber auch, daß, sobald ein echter Mohammedaner irgend etwas vom Standpunkte der Religion aus ansieht, es für ihn keine Schätze der Erde gibt, durch die er sich in Versuchung führen läßt.
Idrys aber, durch die Ausrufe der Gefährten ermuntert, sprach weiter, augenscheinlich nicht mehr, um Staß zu antworten, sondern um sich die Anerkennung und das Lob seiner Kameraden zu erringen.
»Wir haben nur das Glück, dem Stamme anzugehören, der den heiligen Propheten hervorgebracht hat, aber die edle Fatima und ihre Kinder sind verwandt mit ihm, und der große Mahdi liebt sie. Wenn wir nun dich und das kleine Mädchen ihm ausliefern, so wird er euch gegen Fatima und ihre Söhne austauschen, und er wird uns dafür segnen. Wisse, daß, wenn schon sogar das Wasser, mit dem er sich jeden Morgen nach der Vorschrift des Korans wäscht, Krankheiten zu heilen und Sünden zu tilgen vermag, wieviel mehr denn sein Segen?«
»Bismillah!« wiederholten die Sudanesen und die Beduinen.
Staß aber, indem er zum letzten Rettungsanker griff, sagte:
»So nehmt mich mit, das kleine Mädchen aber laßt mit den Beduinen zurückkehren. Auch gegen mich wird man Fatima und ihre Söhne austauschen.«
»Noch sicherer aber gegen euch beide.«
Darauf wandte sich Staß an Chamis:
»Deinen Vater wird man für deine Handlungen zur Verantwortung ziehen.«
»Mein Vater ist schon in der Wüste, auf dem Wege zum Propheten«, entgegnete Chamis.
»Aber man wird ihn einfangen und erhängen.«
Jetzt hielt Idrys es für nötig, seinen Kameraden Mut zuzusprechen.
»Die Geier,« sprach er, »die das Fleisch von unseren Knochen abnagen werden, sind wahrscheinlich noch nicht aus dem Ei gekrochen. Wir wissen wohl, was uns droht, aber wir sind keine Kinder und kennen die Wüste schon seit langem. Diese hier«, und er zeigte auf die Beduinen, waren schon viele Male in Berber und kennen Wege, die nur Gazellen aufsuchen. Dort wird uns niemand finden und verfolgen. Des Wassers wegen werden wir zwar vom Wege abweichen, zum Bahr-el-Jussef und später zum Nil, aber wir werden dies in der Nacht tun. Glaubt ihr denn, daß es am Flusse keine heimlichen Freunde des Mahdi gibt? Ich sage dir, je weiter südlich, je mehr gibt es ihrer, ganze Stämme und ihre Scheichs warten nur auf den geeigneten Augenblick, um zur Verteidigung des wahren Glaubens das Schwert zu ergreifen. Sie werden selbst uns Wasser, Essen und Kamele liefern und unsere Verfolger täuschen. Wahrlich, wir wissen, daß es weit ist bis zum Mahdi, aber wir wissen auch, daß uns jeder Tag dem Schafsfelle näher bringt, auf dem der heilige Prophet zum Gebet niederkniet.«
Bismillah!« schrien zum dritten Male die Kameraden.
Das Ansehen des Idrys unter seinen Gefährten war sicherlich sehr gewachsen.
Staß begriff, daß alles verloren war, aber in der Absicht, Nel vor der Bosheit der Sudanesen zu schützen, sagte er:
»Nach sechs Stunden kam das kleine Mädchen mehr tot als lebendig hier an. Wie könnt ihr glauben, daß sie eine solche Reise aushalten wird? Sollte sie aber sterben, so sterbe auch ich. Womit wollt ihr dann aber zum Mahdi kommen?«
Idrys fand nicht sogleich eine Antwort, und Staß fuhr fort, als er es bemerkte:
»Und wie werden der Mahdi und Smain euch empfangen, wenn Fatima und ihre Kinder für eure Dummheit mit dem Leben büßen müssen?«
Der Sudanese hatte inzwischen überlegt und entgegnete:
»Ich habe gesehen, wie du Gebhr an die Gurgel packtest. Bei Allah! Du bist wie ein junger Löwe, du wirst nicht sterben. Und sie –« hier sah er auf das Köpfchen der auf den Knien Dinahs schlafenden Nel und schloß mit eigentümlich sanfter Stimme:
»Für sie werden wir auf dem Höcker des Kamels ein Nestchen bauen, wie für ein Vögelchen, damit sie nicht die geringsten Beschwerden fühlt und unterwegs ebenso ruhig schläft wie jetzt.«
Darauf ging Idrys zu den Kamelen und begann gemeinsam mit den Beduinen auf dem Rücken des besten Tieres einen Sitz für das kleine Mädchen herzurichten. Sie redeten viel dabei und stritten sich sogar herum, aber schließlich brachten sie mit Hilfe von Stricken, wollenen Decken und Bambusstangen etwas einem tiefen, unbeweglichen Korbe Ähnelndes zustande, in dem Nel sitzen und liegen konnte, ohne herauszufallen. Der Korb war so groß, daß auch Dinah darin Platz hatte. Über dem Korb befestigten sie zum Schluß ein Leinwanddach.
»Nun, siehst du,« sagte Idrys zu Staß, »selbst ein Vöglein kann in diesen weichen Decken nicht Schaden nehmen. Die Alte da kann bei dem Fräulein reiten, um sie zu pflegen bei Tag und bei Nacht, du wirst bei mir sitzen, aber du kannst neben ihr reiten und über sie wachen.«
Staß war froh, daß er wenigstens dieses erreicht hatte. Als er über ihre Lage nachdachte, kam er zu der Überzeugung, daß man ihre Entführer aller Wahrscheinlichkeit nach schon vor dem ersten Wasserfall abfassen werde, und dieser Gedanke gab ihm Mut. Fürs erste aber wollte er vor allen Dingen ausruhen. Er beschloß, sich mit einem Stricke festzubinden, und da er nun nicht mehr Nel zu stützen brauchte, so wollte er einige Stunden schlafen.
Die Nacht ging zu Ende, und die Schakale hörten auf, in den Schluchten zu heulen. Die Karawane machte sich zum Aufbruche bereit. Als die Sudanesen sahen, daß der Tag anbrach, begaben sie sich hinter einen wenige Schritte entfernten Felsen und begannen, sich nach den Vorschriften des Korans zu waschen, wobei sie jedoch Sand benutzten, da sie vorzogen, mit dem Wasser zu sparen. Dann ertönten ihre Stimmen, die das erste Morgengebet, Soubgh, hersagten. Mitten in der tiefen Stille der Wüste vernahm man deutlich ihre Worte: »Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes. Gelobt sei der Herr, der Herrscher der Welt, der barmherzige und gnädige Richter. Dich preisen wir, dich bekennen wir, und dich flehen wir um Hilfe an! Führe uns den Weg derer, denen du Wohltaten und Gnade nicht versagst, nicht aber den der Sünder, die deinen Zorn auf sich gezogen haben und in der Irre gehen. Amen.«
Als Staß diese Worte hörte, richtete er seine Blicke gen Himmel, und in diesem fernen Lande, inmitten des unfruchtbaren, trostlosen Landes begann er zu sprechen:
»Heilige Mutter Gottes, unter deinen Schutz flüchten wir uns!«