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XV.

Zwei Wochen nach dem Aufbruch der Karawane aus der Gegend von Wadi-Halfa kam sie in das vom Mahdi eroberte Land. Mit Windeseile durchritten sie die hügelige Wüste Gezir, und in der Nähe von Chendi, wo die Engländer vordem das Heer Musas, des Sohnes Helus, vollständig aufgerieben hatten, kamen sie in eine Gegend, die nicht mehr einer Wüste ähnelte. Weder Sand noch Hügel waren hier zu sehen; so weit das Auge reichte, breitete sich eine Steppe aus, die teils mit grünem Gras, teils mit Dschungel bedeckt war, in deren Mitte Gruppen von stachligen Akazien wuchsen, die das bekannte sudanesische Gummi liefern. Hier und da standen einzelne Riesenbäume, unter deren weit ausgebreiteten Zweigen wohl an hundert Menschen Schutz vor der Sonne finden konnten. Von Zeit zu Zeit ritt die Karawane an hohen, kegelförmigen Termitenhügeln vorbei, mit denen das ganze tropische Afrika wie besät ist. Das Grün der Weiden und Akazien tat dem Auge nach dem einförmigen Anblick des unfruchtbaren Wüstensandes wohl.

An den Stellen, wo die Steppe wiesenartig war, weideten Kamelherden, die von bewaffneten Kriegern des Mahdi gehütet wurden. Beim Anblick der Karawane fuhren sie auf wie Raubvögel, liefen auf sie zu, umringten sie von allen Seiten, und indem sie mit den Lanzen umherschwenkten und aus vollem Halse schrien, fragten sie die Leute aus, woher sie kämen, warum sie vom Norden herüberzögen und wohin sie wollten. Dabei nahmen sie eine so drohende Haltung an, daß Idrys ihnen möglichst schnell ihre Fragen beantworten mußte, um einem Überfall zu entgehen.

Staß, der sich vorgestellt hatte, daß die Bewohner des Sudans sich von den Arabern in Ägypten nur dadurch unterscheiden, daß sie an den Mahdi glaubten und die Herrschaft des Khedive nicht anerkannten, bemerkte, daß er sich sehr geirrt hatte. Die Leute, die jetzt die Karawane jeden Augenblick anhielten, hatten zum großen Teile eine noch dunklere Hautfarbe als selbst Idrys und Gebhr und waren im Vergleich mit den Beduinen einfach schwarz zu nennen. Das Negerblut überwog bei ihnen und kam mehr zum Vorschein als das arabische. Ihre Gesichter und ihre Brust waren tätowiert und zeigten verschiedene Zeichnungen oder Sprüche aus dem Koran. Einige waren fast nackt, andere trugen Dziubas oder Überwürfe aus weißen Baumwollgeweben, die mit verschiedenfarbigen Flicken benäht waren. Viele trugen Korallenzweige oder Elfenbeinstücke, die sie durch die Nase, Lippen und Ohrläppchen gezogen hatten. Die Köpfe der Anführer waren mit weißen Käppchen bedeckt, die aus demselben Gewebe wie die Überwürfe hergestellt waren. Die übrigen Krieger trugen ihre Köpfe unbedeckt, aber nicht rasiert wie die Araber in Ägypten, sondern im Gegenteil voller krausen, zottigen Haares, das von dem Kalk, mit dem sie ihr Haar zum Schutze vor Ungeziefer bestreuen, vielfach rot und versengt war. Ihre Waffen bestanden zum großen Teil aus Spießen, die in ihren Händen schreckenerregend wirkten, aber es fehlte ihnen auch nicht an Remington-Karabinern, die sie in siegreichen Kämpfen mit der ägyptischen Armee und nach dem Falle von Chartum erbeutet hatten. Ihr ganzer Anblick war überhaupt furchterweckend, ihr Verhalten der Karawane gegenüber durchaus feindselig, denn sie vermeinten, daß sie aus ägyptischen Kaufleuten bestände, denen der Mahdi gleich nach dem Siege den Zutritt zum Sudan verboten hatte.

Zumeist richteten sie, wenn sie die Karawane umzingelt hatten, unter Geschrei und Drohungen ihre Speere gegen die Brust der Reisenden, oder sie zielten mit ihren Karabinern auf sie, worauf Idrys ihnen zurief, daß er und sein Bruder aus dem Stamm der Dangalen seien, dem auch der Mahdi angehöre, und daß sie dem Propheten weiße Kinder als Sklaven brächten. Dies allein hielt die Wilden von Gewalttaten ab.

Als sich Staß dieser furchtbaren Wirklichkeit gegenüber sah, erstarrte das Herz in ihm bei dem Gedanken, was sie beide in den folgenden Tagen durchmachen würden. Aber auch Idrys, der nun lange Jahre in einem zivilisierten Lande verbracht hatte, hatte sich das alles nicht annähernd so vorgestellt. Daher war er froh, als sie eines Abends von einer bewaffneten Abteilung des Emirs Nur-el-Tadhil umringt und von diesem nach Chartum begleitet wurden.

Nur-el-Tadhil war, bevor er zum Mahdi floh, ägyptischer Offizier in einem Negerregiment des Khedive gewesen, und er war daher nicht so wild wie die anderen Mahdisten, und Idrys konnte sich leichter mit ihm verständigen. Aber auch hier wartete seiner eine Enttäuschung. Er hatte sich vorgestellt, daß seine Ankunft mit den weißen Kindern im Lager des Mahdi Bewunderung erregen würde, schon allein der Beschwerden und Gefahren der Reise wegen; er hatte gehofft, daß die Mahdisten ihn mit Begeisterung und offenen Armen empfangen und ihn im Triumph zum Propheten geleiten würden; er hatte erwartet, vom Mahdi mit Gold und Lob überschüttet zu werden, da er ja nicht gezögert hatte, sein Leben einzusetzen, um seiner Verwandten, der Fatima, einen Dienst zu erweisen, – statt dessen richteten die Mahdisten ihre Speere auf die Brust der Teilnehmer der Karawane, und Nur-el-Tadhil hörte mit ziemlicher Gleichgültigkeit die Schilderung seiner Reise an, und als er ihn zum Schlusse fragte, ob er Smain, Fatimas Mann, kenne, sagte er:

»Nein, in Omdurman und Chartum befinden sich mehr als hunderttausend Krieger, daher ist es leicht, daß man sich nicht begegnet, und nicht alle Offiziere kennen einander. Das Reich des Propheten ist ungeheuer groß, und viele Emire verwalten die entfernten Städte in Sennar, Kordofan, Darfur und Faschoda. Vielleicht weilt dieser Smain, nach dem du fragst, augenblicklich gar nicht an der Seite des Propheten.«

Idrys kränkte die Geringschätzung, mit der Nur-el-Tadhil von diesem Smain sprach, und er antwortete daher mit einem Schatten von Ungeduld:

»Smain ist mit der Kusine des Mahdi verheiratet, die Kinder Smains sind also Verwandte des Propheten.«

Nur-el-Tadhil zuckte mit den Schultern.

»Der Mahdi hat viele Verwandte und kann nicht an alle denken.«

Eine Zeitlang ritten sie schweigend, dann fragte Idrys von neuem:

»Wird es noch lange dauern, bis wir in Chartum ankommen?«

»Gegen Mitternacht werden wir da sein«, antwortete Tadhil, indem er auf die Sterne blickte, die im Osten am Himmel zu erscheinen begannen.

»Werde ich zu so später Stunde noch Lebensmittel und Futter bekommen können? Seit der letzten Mittagsrast haben wir nichts gegessen.«

»Heute werde ich euch zu essen geben, und ihr könnt in meinem Hause übernachten. Aber morgen, in Omdurman, wirst du selbst für eure Nahrung sorgen müssen, und ich warne dich im voraus, es wird nicht leicht sein, etwas zu bekommen.«

»Warum denn?«

»Weil Krieg ist. Die Leute haben seit mehreren Jahren die Felder nicht mehr bestellt und haben sich nur von Fleisch ernährt. Als sich daher schließlich Mangel an Vieh einstellte, kam die Hungersnot. Im ganzen Sudan herrscht Hunger, und ein Sack Durra kostet mehr als ein Sklave.«

»Allah Akbar!« rief verwundert Idrys. »Ich habe aber doch in der Steppe Kamel- und Viehherden gesehen.«

»Die gehören dem Propheten, den Edlen Verwandte und Brüder des Mahdi. und den Kalifen. Ja, die Dangalen, aus deren Stamm der Mahdi entsprossen, und die Baggaren, deren Oberhaupt der Hauptkalif Abdullah ist, die besitzen noch viele Herden, aber den anderen Stämmen wird es schwer genug, sich auf der Welt durchzubringen.«

Bei diesen Worten klopfte Nur-el-Tadhil sich auf den Bauch und sagte:

»Im Dienste des Propheten habe ich einen höheren Rang, mehr Geld und größere Macht, aber einen volleren Bauch hatte ich im Dienste des Khedive.«

Als er aber merkte, daß er schon zu viel geschwatzt hatte, fügte er nach einer Weile hinzu:

»Aber das wird ja alles anders werden, sobald der wahre Glaube gesiegt haben wird.«

Bei diesen Worten dachte Idrys im stillen, daß er in Fayum, im Dienste der Engländer, niemals Hunger gekannt hatte, und daß es nicht schwer war, dort einen Verdienst zu finden. Und seine Miene verdüsterte sich.

Dann begann er weiter zu fragen:

»Wirst du uns morgen nach Omdurman geleiten?«

»Ja, – Chartum muß auf Befehl des Propheten geräumt werden, nur wenige sind noch da. Die größeren Häuser sollen zerstört und die Ziegel mitsamt der anderen Beute nach Omdurman geschafft werden. Der Prophet will nicht in einer Stadt wohnen, die von Ungläubigen befleckt worden ist.«

»Ich werde mich morgen ihm zu Füßen werfen, und er wird den Befehl geben, mich mit Lebensmitteln und Futter zu versorgen.«

»Ha! – Wenn du wirklich zu den Dangalen gehörst, wirst du vielleicht vor sein Antlitz gelassen werden. Aber wisse, sein Haus bewachen bei Tag und Nacht Hunderte von Leuten mit Karbatschen, die nicht kargen mit Schlagen, so jemand ohne Erlaubnis zum Mahdi vordringen will. Sonst würde die Menge dem heiligen Mann nicht einen Augenblick Ruhe gönnen. Allah! Ich habe sogar Dangalen mit blutigen Striemen auf den Schultern gesehen.«

Idrys sah sich mit jedem Augenblick bitterer enttäuscht.

»Sehen denn die Gläubigen den Propheten gar nicht?« fragte er.

»Die Gläubigen können ihn alle Tage auf dem Betplatz sehen, wenn er auf einem Schaffell kniend die Arme zu Gott erhebt, oder wenn er die Menge belehrt und in ihr den wahren Glauben befestigt. Aber zu ihm vorgelassen zu werden und mit ihm zu sprechen, das hält schwer – und wer dieses Glückes teilhaftig wird, der wird von allen beneidet; denn Gottes Gnade kommt über ihn und reinigt ihn von allen seinen früheren Sünden.«

Inzwischen war es tiefe Nacht geworden, und eine durchdringende Kälte herrschte. Die Pferde der Karawane begannen zu wiehern, und der Wechsel von der Glut am Tage zur Kälte in der Nacht war so stark, daß das Fell der Tiere zu dampfen begann, und die Expedition wie in Nebel gehüllt war. Staß beugte sich über Idrys hinweg zu Nel und fragte:

»Ist dir kalt, Nel?«

»Nein,« antwortete das kleine Mädchen, »aber jetzt wird uns wohl niemand mehr retten.«

Und Tränen erstickten ihre weiteren Worte.

Staß fand diesmal keinen Trost für sie, denn auch er selbst war überzeugt davon, daß es nun keine Rettung mehr gäbe. Jetzt, wo sie in das Land des Elends, des Hungers, der bestialischen Grausamkeiten und des strömenden Blutes eingezogen waren. Sie glichen zwei elenden Blättchen inmitten eines tod- und verderbenbringenden Sturmes, der nicht nur Einzelwesen, sondern ganze Dörfer und Völker dahinraffte. Welche Hand konnte diese zwei kleinen, schutzlosen Kinder dem Sturm entreißen und sie erretten?

Der Mond stieg hoch am Himmel empor und verwandelte die Zweige der Mimosen und Akazien in silberne Federn. In den dichten Dschungeln erscholl hier und da das gellende und zugleich frohe Lachen der Hyänen, die in diesem blutigen Landstrich viele Menschenleichen fanden. Dann begegnete die Abteilung, die die Karawane führte, anderen Patrouillen, mit denen sie die verabredete Parole wechselte. Schließlich erreichten sie die Uferhügel und gelangten durch eine lange Schlucht an den Nil. Menschen, Pferde und Kamele begaben sich auf eine breite und flache Fähre, und bald begannen die schweren Ruder in gleichmäßiger Bewegung die Oberfläche des Flusses zu teilen, die mit Diamanten, den Spiegelbildern der Sterne, reich besät war.

Nach einer halben Stunde erglänzten im Süden, wohin die Fähre gegen den Strom steuerte, Lichter, die sich, je mehr sich das Fahrzeug ihnen näherte, in rote, auf dem Wasser liegende leuchtende Garben verwandelten. Nur-el-Tadhil stieß Idrys an die Schulter, streckte seinen Arm aus und sagte:

»Chartum!« –


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