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Der Besuch beim Mahdi und die Unterredung mit ihm schienen Idrys nicht gesund gemacht zu haben, denn noch in derselben Nacht erkrankte er schwer und war schon am folgenden Morgen besinnungslos.
Chamis, Gebhr und die beiden Beduinen wurden zum Kalifen gerufen, der sie einige Stunden lang festhielt und ihren Mut lobte. Aber sie kehrten in sehr schlechter Laune und mit verbitterter Seele zurück, da sie Gott weiß wie hohe Belohnungen erwartet hatten und nichts als je ein ägyptisches Pfund Ungefähr 400 Mark. und je ein Pferd von Abdullah erhalten hatten.
Die Beduinen gerieten in einen Streit mit Gebhr, der fast mit einer Schlägerei endete. Zum Schluß erklärten beide, daß sie mit der Kamelpost nach Faschoda reisen wollten, um sich ihren Lohn von Smain zu fordern. Chamis beschloß, es ebenso zu machen, denn auch er erhoffte durch Smains Protektion größeren Nutzen zu haben, als durch ein Verweilen in Omdurman.
Für die Kinder begann nun eine Woche des Hungers und des Elends, denn Gebhr dachte gar nicht daran, ihnen Nahrung zu geben. Zum Glück besaß Staß die zwei Maria-Theresia-Taler, die er von dem Griechen erhalten, und er ging daher in die Stadt, um Datteln und Reis zu kaufen. Die Sudanesen widersetzten sich diesem Gang nicht, da sie ja wußten, daß die Kinder aus Omdurman nicht entfliehen konnten, und daß der Knabe auf keinen Fall das kleine Mädchen im Stich lassen würde.
Dieser Weg in die Stadt verlief natürlich für Staß nicht ohne Zwischenfälle, denn der Anblick des Knaben, der in europäischer Kleidung auf dem Markte Lebensmittel kaufte, zog eine Menge halbwilder Derwische herbei, die ihn mit Heulen und Lachen empfingen. Zum Glück wußten viele, daß er gestern beim Mahdi gewesen war, und das schützte ihn vor denen, die sich gewalttätig auf ihn stürzen wollten. Nur einige Kinder bewarfen ihn mit Steinen und Sand, aber daraus machte er sich nichts.
Die Preise auf dem Markte waren unerschwinglich hoch. Datteln konnte Staß gar nicht bekommen, und von dem Reis nahm ihm Gebhr einen großen Teil für den kranken Bruder fort. Staß widersetzte sich dem zwar mit aller Kraft, und es kam zu einer Schlägerei, aus der er als der Schwächere mit Beulen und vielen blauen Flecken hervorging. Bei dieser Gelegenheit stellte sich auch die Grausamkeit Chamis' heraus. Sabà gegenüber zeigte er eine gewisse Anhänglichkeit, er fütterte ihn mit rohem Fleisch; dagegen sah er auf das Elend der Kinder, die er doch schon lange kannte und die immer gut zu ihm gewesen waren, mit der größten Gleichgültigkeit. Und als Staß sich mit der Bitte, doch wenigstens Nel etwas zu essen zu geben, an ihn wandte, antwortete er lachend: »Geh' betteln!«
Und es kam schließlich so weit, daß Staß in den folgenden Tagen, um Nel vor dem Hungertode zu retten, betteln ging. Mitunter tat er es ohne Erfolg, manchmal aber gab ihm ein früherer Soldat oder Offizier des ägyptischen Khedive ein paar Piaster oder einige getrocknete Feigen und sagte ihm auch für den anderen Tag eine kleine Gabe zu. Einmal begegnete er einem Missionar und einer barmherzigen Schwester, die, als sie die Geschichte der Kinder hörten, in Tränen über ihr trauriges Schicksal ausbrachen, und obwohl sie selbst vor Hunger gänzlich erschöpft waren, mit den Kindern alles teilten, was sie hatten. Sie versprachen auch, Staß und Nel in der Hütte aufzusuchen, und kamen am nächsten Tage wirklich, in der Hoffnung, die Kinder bis zur Abfahrt der Post zu sich nehmen zu können. Aber Gebhr und Chamis trieben sie mit Karbatschen fort. Am folgenden Tage aber begegnete Staß ihnen wieder und erhielt von ihnen ein Maß Reis und zwei Chininpulver, die der Missionar ihm riet, sorgfältig zu verstecken, in der Voraussicht, daß sie beide in Faschoda unweigerlich am Fieber erkranken würden.
»Ihr werdet jetzt«, sagte er, »durch das Überschwemmungsgebiet des Weißen Nils oder durch die sogenannten Sudden reisen, die mit Papyruspflanzen bedeckt sind. Da der Strom durch die üppig wuchernden Pflanzen nicht frei fließen kann, so führt er sie ein Stück mit sich und setzt sie wieder an den seichteren Stellen ab. Dort haben sich große Sümpfe gebildet, wo viele ansteckende Krankheiten herrschen, und das Fieber selbst die Neger nicht verschont. Hütet euch davor, auf der bloßen Erde ohne Feuer zu übernachten.«
»Wir möchten schon am liebsten sterben«, antwortete fast stöhnend Staß.
Darauf erhob der Missionar sein abgemagertes Gesicht gen Himmel, betete still für sich, bekreuzigte den Knaben und sagte:
»Vertraue auf Gott, du hast ihn nicht verleugnet, also wird seine Barmherzigkeit und sein Schutz über dir sein.«
Staß versuchte nicht nur zu betteln, sondern auch zu arbeiten. Als er eines Tages eine Menschenmenge sah, die auf dem Gebetplatze arbeitete, schloß er sich ihr an und begann, Lehm zu schleppen für die Mauer, mit der der Platz umgeben werden sollte. Man lachte ihn aus und stieß ihn, aber gegen Abend gab ihm ein alter Scheich, der die Arbeit beaufsichtigte, zwölf Datteln. Staß war sehr glücklich über seinen Lohn; denn Datteln waren außer Reis die einzige gesunde Nahrung für Nel, und es wurde immer schwerer, sie in Omdurman aufzutreiben.
Voller Stolz brachte er die Datteln dem kleinen Schwesterchen, dem er überhaupt alles gab, was er irgend auftreiben konnte, während er selbst sich schon seit einer Woche nur von Durra ernährte, die er den Kamelen entwendete. Nel war hocherfreut beim Anblick der schönen Früchte, aber sie wollte sie mit Staß teilen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, legte die Hände auf seine Schultern, warf den Kopf nach hinten, und indem sie ihm in die Augen blickte, bat sie:
»Staß, iß die Hälfte, bitte, iß doch!«
Er aber sagte:
»Ich habe schon gegessen, ich habe ja schon gegessen. Oh, ich bin so satt!« Und er lächelte dabei, indem er sich auf die Lippen biß, um nicht in Weinen auszubrechen, denn er war wirklich hungrig. Er nahm sich vor, am nächsten Tage wieder auf Arbeit zu gehen.
Aber es kam anders. –
Am folgenden Morgen kam ein Mulazem von Abdullah mit der Nachricht, daß die Kamelpost nach Faschoda noch in der Nacht abgehe, und daß der Kalif befohlen habe, daß Gebhr, Idrys, Chamis und die beiden Beduinen sich mit den Kindern auf die Reise begeben sollten. Gebhr war verwundert und empört über diesen Befehl und erklärte, nicht abreisen zu wollen, da sein Bruder sonst krank und ohne Pflege hier zurückbliebe. Außerdem habe er mit seinem Bruder beschlossen, auch wenn dieser gesund wäre, in Omdurman zu bleiben.
Der Mulazem aber entgegnete:
»Der Beschluß des Mahdi ist unabänderlich, und Abdullah, sein Kalif und mein Herr, ändert niemals seine Befehle. Deinen Bruder wird ein Sklave pflegen, du aber wirst nach Faschoda reisen.«
»So werde ich zum Kalifen gehen und ihm sagen, daß ich nicht fahre.«
»Zum Kalifen werden nur die vorgelassen, die er selbst zu sehen wünscht. Und wenn du dir mit Gewalt ohne Erlaubnis Eingang bei ihm verschaffen willst, so wird man dich hinaustransportieren – zum Galgen hinaus.«
»Allah Akbar! Sag es nur doch deutlich, daß ich nichts als ein Sklave bin.«
»Schweig und gehorche den Befehlen!« erwiderte der Mulazem.
Der Sudanese, der in Omdurman den Galgen gesehen hatte, der unter der Last der täglich auf Befehl des Abdullah Gehenkten fast brach, schwieg. Das, was der Mulazem ihm gesagt hatte, daß der Mahdi seinen Willen nie änderte und Abdullah nur einmal befahl, erzählten alle Derwische. Es gab also keinen Ausweg – er mußte eben reisen.
»Ich werde Idrys nicht wiedersehen!« dachte Gebhr bei sich.
Selbst in seinem Tigerherzen lebte eine gewisse Anhänglichkeit für den älteren Bruder, daher erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß er ihn in seiner Krankheit verlassen müsse, Verzweiflung. Umsonst suchten Chamis und die Beduinen ihn davon zu überzeugen, daß es in Faschoda vielleicht besser sein werde, als in Omdurman, und daß Smain sie wahrscheinlich freigebiger belohnen werde, als es der Kalif getan hatte. Nichts konnten Gebhrs Schmerz und Zorn besänftigen, die er hauptsächlich an Staß ausließ.
Dieser Tag war für Staß ein wahrhaftes Martyrium. Es wurde ihm verboten, auf den Markt zu gehen, so daß er weder etwas verdienen noch erbetteln konnte. Wie ein Sklave mußte er am Sattelzeug arbeiten, das man für die Reise bereit machte, was ihm um so schwerer fiel, da er vor Hunger und Müdigkeit sehr geschwächt war. Er war fest überzeugt, daß er unterwegs, wenn nicht an Gebhrs Karbatschenhieben, so doch vor Erschöpfung sterben werde.
Zum Glück kam gegen Abend der Grieche, der im Grunde ein gutes Herz hatte, um die Kinder zu besuchen und sich von ihnen zu verabschieden. Gleichzeitig wollte er sie für die Reise versehen. Er brachte ihnen mehrere Pulver Chinin, einige Glasperlen und Nahrungsmittel. Als er von Idrys' Erkrankung hörte, wandte er sich vor allem an Gebhr, Chamis und die Beduinen.
»Wißt,« sagte er, »daß ich auf Befehl des Mahdi komme.«
Alle verbeugten sich, als sie dies hörten, und der Grieche sprach weiter:
»Ihr sollt die Kinder unterwegs gut ernähren und gut behandeln. Sie müssen Smain über euer Benehmen Bericht erstatten, und Smain wird dem Propheten darüber schreiben. Falls irgendwelche Klage über euch kommt, so werdet ihr mit der nächsten Post euer Todesurteil erhalten.«
Eine neue Verbeugung war die einzige Antwort dieses Befehls. Gebhrs und Chamis' Mienen glichen dabei Hunden, denen Maulkörbe angelegt werden.
Dann befahl der Grieche ihnen, zur Seite zu gehen und wandte sich auf englisch an die Kinder.
»Ich habe das alles erfunden, denn der Mahdi hat keine weiteren Befehle, die euch betreffen, erteilt. Aber da er befahl, daß ihr nach Faschoda reisen sollt, so müßt ihr dort auch lebendig ankommen. Auch nehme ich an, daß keiner von diesen vor der Abreise noch den Mahdi oder den Kalifen zu sprechen bekommt.« Zu Staß gewandt, fuhr er fort:
»Gegen dich, Knabe, hegte ich großen Groll und hege ihn noch. Weißt du, daß du auch mich beinahe ins Verderben gestürzt hast? Der Mahdi war auch auf mich ärgerlich, und um seine Verzeihung zu erlangen, mußte ich einen bedeutenden Teil meines Vermögens dem Abdullah geben. Und ich weiß noch nicht einmal, ob ich für längere Zeit gerettet bin. Auf alle Fälle werde ich nun den Gefangenen nicht mehr so helfen können, wie ich es bis dahin getan habe. Aber ihr tut mir leid, und hauptsächlich die Kleine«, er zeigte dabei auf Nel. »Ich habe eine Tochter im gleichen Alter, die ich über alles liebe – ihretwegen tue ich das alles, Christus wird es mir lohnen. Noch heute trägt sie ein silbernes Kreuzchen unter ihrem Kleide auf der Brust. Auch heißt sie so wie du, mein Kleines. Wäre sie nicht, so zöge ich es auch vor, zu sterben, statt in dieser Hölle zu leben!«
Er wurde ganz ergriffen in diesen Gedanken und schwieg eine Zeitlang. Dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und begann von etwas anderem zu reden.
»Der Mahdi schickt euch nach Faschoda in der Erwartung, daß ihr dort sterben werdet. Auf diese Weise will er sich an euch rächen für deinen Widerstand, mein Junge, der ihn tief verletzt hat, und er wird den Ruhm der Barmherzigkeit dabei nicht verlieren. So ist er immer. – Doch wer weiß, wem der Tod zuerst bestimmt ist. Abdullah hat ihm den Gedanken eingegeben, diesen Hunden, die euch entführt haben, zu befehlen, mit euch zu reisen; denn er hat sie elend belohnt und fürchtet, daß es herauskommt. Auch wollen sie beide verhindern, daß diese Leute hier erzählen, daß es in Ägypten noch Truppen, Geschütze, Geld und Engländer gibt. – Eine beschwerliche und weite Reise liegt vor euch. Ihr werdet durch Wüsten und ungesundes Land kommen, hütet daher die Pulver, die ich euch gegeben, wie eure Augäpfel.«
»Herr, befiehl dem Gebhr noch einmal, daß er sich nicht untersteht, Nel Hunger leiden zu lassen und sie zu schlagen«, bat Staß.
»Fürchtet euch nicht. Ich habe euch dem alten Scheich anempfohlen, der die Post führt. Er ist ein alter Bekannter von mir. Ich habe ihm eine Taschenuhr geschenkt und damit seine Fürsorge für euch erkauft.«
Nach diesen Worten verabschiedete er sich, indem er Nel auf den Arm nahm, sie an sich drückte und wiederholte:
»Möge Gott dich segnen, mein Kindchen!«
Inzwischen war die Sonne untergegangen, und eine sternenhelle Nacht war hereingebrochen. In der Finsternis hörte man das Schnauben der Pferde und das Ächzen der beladenen Kamele.