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VI.

Rawlison und Tarkowski warteten wirklich auf die Kinder, aber nicht mitten in den Sandbergen von Wadi-Rayan, wohin sie weder die Arbeit noch das Vergnügen getrieben, sondern an einer ganz anderen Stelle, in der Stadt El-Fachen, am Kanal desselben Namens, wo sie die ausgeführten Arbeiten zum Schluß des Jahres besichtigen wollten. Die Entfernung zwischen El-Fachen und Medinet beträgt auf geradem Wege ungefähr 45 Kilometer. Da es aber keine direkte Verbindung gibt, so muß man über El-Wasta fahren, wodurch der Weg beinahe verdoppelt wird. Dem Kursbuche nach hatte Rawlison folgendes berechnet:

»Chamis fuhr vorgestern abend ab,« sagte er zu Tarkowski, »und in El-Wasta bestieg er den Zug, der aus Kairo kommt, folglich ist er gestern früh in Medinet angekommen. Die Kinder werden in einer Stunde gepackt und sich fertiggemacht haben. Reisten sie um Mittag ab, so müßten sie den Nachtzug abwarten, der den Nil entlang fährt. Da ich aber Nel verboten habe, nachts zu reisen, so werden sie erst heute früh abgereist sein und gleich nach Sonnenuntergang hier ankommen.«

»Ja,« meinte Tarkowski, »Chamis muß sich ja auch ein wenig ausruhen. Staß wird ja natürlich vor Eifer gebrannt haben, aber sobald es sich um Nel handelt, kann man sich auf ihn verlassen. Übrigens schickte ich ihm auch einen Brief, in dem ich ihm des Nachts zu reisen verbot.«

»Er ist ein tüchtiger Kerl, und ich vertraue ihm vollständig«, entgegnete Rawlison.

»Ehrlich gesprochen, ich auch. Trotz seiner verschiedenen Mängel hat er einen anständigen Charakter. Er lügt nie, dazu ist er zu mutig, denn nur Feiglinge lügen. An Energie fehlt es auch nicht, und wenn die Zeit ihn erst ein ruhiges Überlegen gelehrt hat, so denke ich, wird er sich in der Welt schon rechtschaffen durchschlagen.«

»Ganz gewiß. – Doch, was das Überlegen anbetrifft, warst du denn in seinem Alter bedächtig und überlegt?«

»Ich muß gestehen, nein«, antwortete Tarkowski lachend. »Aber ich war auch nicht so selbstsicher wie er.«

»Das gibt sich. Inzwischen sei du nur glücklich, daß du so einen Jungen hast.«

»Und du, daß dir so ein süßes und liebes Dingelchen wie Nel gehört.«

»Behüte sie Gott!« sprach Rawlison mit Bewegung.

Die Freunde drückten sich einander die Hände. Dann setzten sie sich, um die Entwürfe und Kostenanschläge der Bauten zu studieren. Mit dieser Arbeit waren sie den ganzen Nachmittag beschäftigt.

Gegen sechs Uhr, als die Nacht hereinbrach, waren sie auf der Station und spazierten auf dem Bahnsteig umher, indem sie sich die ganze Zeit von den Kindern unterhielten.

»Schönes Wetter, – aber kalt,« bemerkte Rawlison, »Nel hätte gut getan, warme Kleidung mitzunehmen.«

»Staß und Dinah werden schon dafür gesorgt haben.«

»Ich bedaure doch, daß wir nach ihnen geschickt und nicht selbst nach Medinet gefahren sind.

»Du weißt ja, das hatte ich vorgeschlagen.«

»Ja, und wenn wir nicht von hier weiter gen Süden fahren müßten, so wäre ich auch darauf eingegangen. So aber hätte uns die Reise viel Zeit weggenommen, und wir hätten weniger mit den Kindern zusammen sein können. Übrigens, das muß ich gestehen, ist es Chamis gewesen, der mich auf den Gedanken gebracht hat, die Kinder herzuholen. Er sagte, daß er sehr an den Kindern hänge und glücklich wäre, sie hierherbringen zu dürfen. Was mich nicht wundert, da er ihnen in der Tat sehr zugetan ist.«

Die weitere Unterhaltung hierüber ward durch die Signale, die das Nahen des Zuges anzeigten, abgebrochen.

Nach kurzer Zeit zeigten sich in der Dunkelheit die Lichter der Lokomotive, und zu gleicher Zeit vernahm man ihren schweren Atem und ihr Pfeifen.

Eine Reihe erleuchteter Wagen fuhr den Bahnsteig entlang, begann zu zittern und blieb dann stehen.

»Ich habe sie an keinem Fenster gesehen«, sagte Rawlison.

»Sie sitzen gewiß mehr hinten und werden sicher gleich herauskommen.«

Die Reisenden fingen an auszusteigen. Es waren zumeist Araber, da es in El-Fachen außer Palmen- und Akazienhainen nichts Interessantes zu sehen gibt. Die Kinder waren nicht darunter.

»Chamis hat vielleicht den Zug in El-Wasta verpaßt«, sagte mit einem Anflug von Verstimmung Tarkowski. Oder er hat nach der Nachtreise die Zeit verschlafen, und sie werden erst morgen kommen.«

»Kann sein,« entgegnete beunruhigt Rawlison, »aber es kann auch sein, daß eins von ihnen erkrankt ist.«

»In diesem Falle hätte Staß telegraphiert.«

»Wer weiß, ob wir nicht im Hotel eine Depesche vorfinden?«

»So gehen wir.«

Aber im Hotel erwartete sie keine Nachricht. Rawlisons Beunruhigung wuchs.

»Weißt du, was noch passiert sein kann?« sprach Tarkowski. »Eben, daß Chamis verschlafen und es den Kindern nicht eingestanden hat. Dann ist er erst heute zu ihnen gekommen und hat ihnen gesagt, daß sie morgen reisen sollen. Uns gegenüber redet er sich damit heraus, daß er unsere Anordnungen nicht verstanden habe. Auf alle Fälle werde ich an Staß depeschieren.«

»Und ich an den Mudir von Fayum.«

Kurz darauf gingen zwei Depeschen ab. Und obwohl noch kein Grund zu ernster Sorge da war, verbrachten beide Ingenieure in Erwartung der Antwort eine sehr schlechte Nacht. Schon am frühen Morgen waren sie auf den Beinen.

Die Antwort des Mudir kam erst gegen zehn Uhr und lautete wie folgt:

»Habe mich auf der Station erkundigt; die Kinder sind gestern nach Gharak-el-Sultani abgereist.«

Es ist leicht zu begreifen, welches Erstaunen und welcher Zorn die Väter bei dieser Nachricht ergriff. Zuerst sahen sie sich gegenseitig stumm an, als wenn sie die Worte der Depesche nicht recht begriffen hätten. Dann schlug Tarkowski, der ein sehr impulsiver Mensch war, mit der Faust auf den Tisch und sagte:

»Das ist Staß' Einfall, aber ich werde ihm solche Einfälle schon austreiben!«

»Das hätte ich von ihm nicht erwartet«, entgegnete Nels Vater.

Nach wenigen Augenblicken fragte er jedoch:

»Nun, – und Chamis?«

»Entweder hat er sie nicht mehr angetroffen und weiß nicht, was er anfangen soll, oder er ist mit ihnen mitgefahren.«

»Das denke ich auch.«

Eine Stunde später reisten beide Väter nach Medinet ab. Dort erfuhren sie in ihren Zelten, daß die Kameltreiber auch nicht da waren. Auf der Station bestätigte man die Nachricht, daß die Kinder nach El-Gharak gereist wären. Die Sache wurde immer dunkler, und man hoffte, daß sie sich in El-Gharak auf irgendeine Weise aufklären würde.

Auf jener Station aber begann sich die schreckliche Wahrheit zu enthüllen.

Der Stationsvorsteher, derselbe verschlafene, mit dunkler Brille und rotem Fes versehene Ägypter, erzählte den Ingenieuren, daß er einen Jungen von ungefähr vierzehn Jahren und ein kleines, etwa achtjähriges Mädchen mit einer Negerin gesehen habe, die alle in die Wüste geritten seien. Er besann sich nicht, ob sie acht oder neun Kamele mit sich hatten, aber er hatte bemerkt, daß eins der Tiere wie für eine weite Reise beladen war, und daß die zwei Beduinen großes Gepäck am Sattel hatten. Ferner wußte er genau, daß der eine der Führer, ein Sudanese, ihm gesagt hatte, daß die beiden Kinder von Engländern seien, die vorher nach Wadi-Rayan gereist wären.

»Sind diese Engländer wieder zurückgekehrt?« fragte Tarkowski.

»Jawohl, sie sind noch gestern mit zwei erlegten Wölfen zurückgekommen«, entgegnete der Stationsvorsteher. »Und ich habe mich noch gewundert, daß sie die Kinder nicht mit hatten. Gefragt habe ich sie aber nicht, denn das ging mich ja nichts an.«

Nach diesen Worten ging er wieder an seine Arbeit.

Während dieser Unterredung war Rawlisons Gesicht kreidebleich geworden. Er sah mit irren Augen seinen Freund an, nahm den Hut vom Kopfe, hob die Hand zur Stirn, die mit Schweißperlen übersät war, und begann zu schwanken, als wenn er fallen würde.

»Rawlison, sei ein Mann!« rief Tarkowski. – »Unsere Kinder sind entführt. Wir müssen sie retten.«

»Nel, Nel!« schrie wiederholt der unglückliche Engländer.

»Nel und Staß! Das ist nicht Staß' Schuld. Sie sind beide verräterisch hintergangen und geraubt worden! Wer weiß wozu? Vielleicht des Lösegelds wegen. Chamis ist ohne Zweifel in der Verschwörung, und Gebhr und Idrys auch.«

Bei diesen Worten erinnerte er sich, daß Fatima gesagt hatte, daß beide Sudanesen dem Dangalastamme angehörten, dem auch der Mahdi entstammte, und daß auch Chadigi, Chamis Vater, aus demselben Stamme war. Jetzt preßte sich sein Herz krampfhaft zusammen. Er begriff, daß die Kinder nicht des Lösegeldes wegen geraubt wurden, sondern zum Austausch für die Familie Smains.

Was aber würden die Stammesgenossen des unheilverkündenden Propheten mit ihnen anstellen? Sie in der Wüste oder irgendwo am Nilufer verstecken, konnten sie nicht; denn in der Wüste würden sie alle vor Durst und Hunger umkommen, und am Nilufer würden sie sicher eingefangen werden. Es blieb nur übrig, daß sie samt den Kindern zum Mahdi selbst geflohen waren.

Tarkowski erfaßte Entsetzen bei diesem Gedanken. Aber der energische ehemalige Soldat kam schnell wieder in ihm zum Vorschein, und er begann, alles zu überdenken, was sich ereignet hatte, und nach Mitteln zur Rettung der Kinder zu suchen.

Fatima – überlegte er – hat keinen Grund, sich an uns noch an den Kindern zu rächen. Wenn die Kinder geraubt waren, so geschah es sichtlich nur zu dem Zwecke, um sie in die Hände Smains zu spielen. Der Tod droht ihnen also auf keinen Fall. Und dies ist das Glück im Unglück. Hingegen steht ihnen eine schreckliche, für sie vielleicht tödliche Reise bevor.

Er teilte seine Gedanken sogleich Rawlison mit.

»Idrys und Gebhr«, sprach er, »bilden sich als dumme, noch wilde Leute ein, daß Mahdis Anhänger sich schon in der Nähe befinden, während Chartum, bis wohin der Mahdi vorgedrungen ist, noch zweitausend Kilometer von hier entfernt ist. Diesen Weg müssen sie immer den Nil entlang zurücklegen, denn sie dürfen sich nicht weit vom Flusse entfernen, damit sie und die Kamele nicht vor Durst umkommen. Fahre du sofort nach Kairo und verlange vom Khedive, daß nach allen Militärposten Telegramme gesandt werden, und daß man die Flüchtlinge rechts und links längs des Nils verfolgt. Den Scheichen an den Ufern versprich eine hohe Belohnung für das Ergreifen der Flüchtlinge. In den Dörfern müssen alle angehalten werden, die nach Wasser kommen. Auf diese Weise müssen Idrys und Gebhr in die Hände der Behörden fallen und wir unsere Kinder wiederbekommen.

Rawlison war schon wieder ruhig und kaltblütig geworden.

»Ich reise«, sagte er. »Die Halunken haben vergessen, daß die englische Armee unter Wolseley, die Gordon zu Hilfe eilt, schon unterwegs ist und sie vom Mahdi abschneiden wird. Sie werden nicht entkommen! Sie können nicht entkommen! Ich schicke noch diesen Augenblick eine Depesche an unseren Minister, und dann reise ich. Was beabsichtigst du zu tun?«

»Ich werde telegraphisch um Urlaub bitten und, ohne die Antwort abzuwarten, abreisen, um ihren Spuren längs des Nils bis Nubien zu folgen und die Verfolgung zu überwachen.«

»Dann müssen wir uns treffen, denn ich werde das gleiche von Kairo aus tun.«

»Schön! Und jetzt ans Werk!«

»Mit Gottes Hilfe!« antwortete Rawlison.


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