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XXIV.

Die nächsten Tage hindurch ritten sie ununterbrochen die Schlucht entlang, die noch immer anstieg. Bei Tage war es zumeist sehr heiß, des Nachts abwechselnd kalt oder schwül. Zeitweilig zeigten sich am Horizont milchweiße, große Wolken, die aber tief unten stehen blieben. In manchen Richtungen sah man schon Regenstreifen und zuweilen auch Regenbogen. Beim dritten Tagesanbruch barst eine Regenwolke gerade über ihnen, wie ein Faß, an dem ein Reifen gesprungen ist, und ein warmer, starker, aber zum Glück nicht anhaltender Regen fiel herab. Dann wurde das Wetter wieder schön, und sie konnten ihre Reise fortsetzen. Wildvögel waren wieder in solcher Menge zu sehen, daß Staß, ohne vom Pferde abzusteigen, auf sie schoß. Er erlegte so fünf Stück, was für eine Mahlzeit für sie und Sabà reichen konnte. Die Reise war in der erfrischenden Luft gar nicht beschwerlich, der Reichtum an Tieren und Wasser beseitigte jede Furcht vor Hunger und Durst. Überhaupt ging alles besser vonstatten, als sie erwartet, so daß Staß immer guter Dinge war; und an Nels Seite reitend, plauderte und scherzte er fröhlich mit ihr.

»Weißt du was, Nel,« sprach er, als die Pferde unter einem Brotbaum eine Zeitlang anhielten, von dem Kali und Mea melonenähnliche, riesengroße Früchte abschnitten, »manchmal kommt es mir so vor, als wenn ich ein fahrender Ritter wäre.«

»Was ist denn das, »ein fahrender Ritters« fragte Nel, indem sie ihm ihr hübsches Köpfchen zuwandte.

»Vor langen, langen Jahren, im Mittelalter, zogen solche Ritter in der Welt umher und suchten Abenteuer. Sie kämpften mit Riesen und Drachen – und weißt du – jeder hatte seine Dame, für die er sorgte, und die er beschützte.«

»Also bin ich so eine Dame?«

Staß schwieg eine Weile, dann sagte er:

»Nein, dazu bist du zu klein. Es waren alles erwachsene Damen.«

Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß vielleicht keiner der Ritter so viel für seine Dame getan hatte wie er für dieses kleine Schwesterchen; so selbstverständlich kam ihm alles vor, was er vollbracht hatte.

Nel fühlte sich durch seine Worte gekränkt, sie setzte daher eine schmollende Miene auf und sagte:

»So – und in der Wüste sagtest du mal, daß ich wie eine Dreizehnjährige gehandelt hätte! Ja! Ja!«

»Nun ja, das war eben ein einziges Mal. Du bist doch aber erst acht Jahre alt.«

»Dann werde ich in zehn Jahren achtzehn sein.«

»Gewiß, und ich vierundzwanzig! In diesem Alter aber denkt man schon nicht mehr an Damen, da hat man ganz andere Dinge zu tun, selbstverständlich!«

»Und was willst du tun?«

»Ich werde Ingenieur oder Seemann, oder ich werde, falls in Polen ein Krieg ausbricht, hingehen und dort kämpfen wie mein Vater.«

Hier fragte Nel voll Besorgnis:

»Aber du wirst nach Port Said zurückkehren?«

»Zunächst müssen wir beide mal erst dorthin zurückkehren.«

»Zum Väterchen!« antwortete das kleine Mädchen.

Und ihre Augen trübten sich vor Sehnsucht und Kummer. Zum Glück flog gerade in dem Augenblick eine Schar niedlicher Papageien vorbei, graue Tiere mit rosigen Köpfen und Schwingen, deren Unterseite auch rosig war. Die Kinder vergaßen sogleich ihr eben geführtes Gespräch und verfolgten mit ihren Blicken den Flug der Vögel.

Die Schar kreiste über einer Euphorbie und ließ sich dann auf einer in der Nähe wachsenden Sykomore nieder, aus deren Zweigen sogleich Stimmengewirr erscholl, das einer lebhaften Beratung oder einem Gezänk ähnelte.

»Das sind die Papageien, die am leichtesten sprechen lernen«, sagte Staß. »Wenn wir uns irgendwo längere Zeit aufhalten, so werde ich mich bemühen, für dich einen zu fangen.«

»O Staßchen, ich danke dir!« entgegnete Nel erfreut. »Ich werde ihn dann ›Daisy‹ nennen.«

Inzwischen hatten Mea und Kali genügend Früchte vom Baum geschnitten und die Pferde damit beladen, und die kleine Karawane brach wieder auf. Am Nachmittag begann sich der Himmel zu bewölken, und kurze Regengüsse fielen zeitweilig, die alle Vertiefungen des Bodens mit Wasser füllten. Kali prophezeite einen großen Regenguß. Und Staß, der bedachte, daß die immer enger werdende Schlucht zur Nacht keinen genügenden Schutz mehr für sie bot, da der Regen sie in einen Strom verwandeln konnte, beschloß, oben zu übernachten. Nel war sehr erfreut darüber, besonders als der auf Kundschaft ausgesandte Kali bei seiner Rückkehr meldete, daß oben ein Wäldchen in der Nähe sei, das aus verschiedenen Baumarten bestände, auf denen viele Affen hausten, die aber nicht so bösartig und garstig wären wie die Paviane, denen sie bisher begegnet waren.

Als sie nun an eine Stelle gelangten, wo die Felswände niedriger waren und sich allmählich öffneten, führten sie die Pferde hinaus, und bevor es dunkel wurde, schlugen sie ihr Nachtlager auf. Nels Zelt wurde an einer hohen und trockenen Stelle errichtet, neben einem großen Termitenhügel, der den Zugang von der einen Seite ganz versperrte und dadurch den Aufbau der Zeriba erleichterte.

Nicht weit davon entfernt stand ein mächtiger Baum mit weit ausgebreiteten, dichtbelaubten Ästen, die einen guten Schutz vor dem Regen boten. Vor der Zeriba wuchsen einzelne Baumgruppen und weiter abseits ein Wald mit verschiedenartigen Bäumen, die durch rankende Pflanzen wie zusammengekettet waren. Und über dem Ganzen ragten die Kronen sonderbarer Palmen hervor, die Riesenfächern oder ausgebreiteten Pfauenschweifen ähnelten.

Staß erfuhr von Kali, daß es im Herbst, vor Beginn der zweiten Regenperiode, gefährlich wäre, unter solchen Palmen zu übernachten, da ihre zu der Zeit gereiften Riesenfrüchte dann unerwartet aus der bedeutenden Höhe mit solcher Kraft herunterfallen, daß sie Menschen, ja auch Pferde töten können. Jetzt waren die Früchte noch im ersten Stadium ihrer Entwicklung und hatten eben erst angesetzt. Bis zum Sonnenuntergang spielten in den Kronen der Bäume kleine Äffchen, die mit fröhlichen Sprüngen einander umherjagten.

Staß und Kali sammelten einen großen Holzvorrat, der für die ganze Nacht reichen sollte. Da sich zeitweise starke, heiße Winde erhoben, so befestigten sie die Zeriba mit Pfählen, die der junge Neger mit Gebhrs Schwert zuspitzte und in die Erde steckte. Diese Vorsicht war durchaus nicht überflüssig, denn ein starker Wind konnte die stachligen Zweige der Zeriba leicht auseinanderwehen und den Raubtieren einen Überfall erleichtern.

Gleich nach Sonnenuntergang jedoch legte sich der Wind, aber die Luft wurde schwül und drückend. Hin und wieder zeigten sich in den Lücken der zerrissenen Wolken kleine Sterne, sonst aber war die schnell hereinbrechende Nacht ganz finster, so daß man nicht einen Schritt weit sehen konnte.

Die kleinen Reisenden versammelten sich am Feuerherd und lauschten dem Gekreisch und Geschrei der Äffchen, die im nahen Walde einen Heidenlärm machten. Das Heulen der Schakale und mannigfache andere unbekannte Stimmen gaben diesem Spektakel Antwort. Aus all dem Stimmengewirr war unverkennbar die Furcht und Unruhe zu hören vor den Gefahren, mit denen die schwarze Nacht jedem lebenden Wesen in der Wildnis droht.

Plötzlich wurde es still, denn in der dunklen Tiefe ertönte das Gestöhn eines Löwen.

Die Pferde, die unweit in dem jungen Dschungel weideten, näherten sich dem Licht, indem sie mit den gefesselten Vorderbeinen vorwärts sprangen. Dem sonst so mutigen Sabà sträubte sich das Fell, und mit eingeklemmtem Schwanze schmiegte er sich an die Menschen, unverkennbar ihren Schutz suchend.

Das Gestöhn erscholl von neuem, wie aus dem Innern der Erde heraus, tief und schwer, als wenn das Tier nur mühsam aus seinen mächtigen Lungen Luft schöpfen könnte. Es kroch den Erdboden entlang, abwechselnd leise und lauter werdend, und schwoll zeitweilig zu einem furchtbaren, unheimlichen Jammergeheul an.

»Kali! Wirf mehr Holz ins Feuer!« ließ sich Staß' Stimme vernehmen.

Der Neger warf so hastig frische Zweige auf die Flammen, daß zuerst ganze Funkengarben umhersprühten, dann schoß eine mächtige Flamme in die Höhe.

»Staßchen, wird uns der Löwe nicht überfallen? Nein?« flüsterte Nel, indem sie den Knaben am Ärmel zupfte.

»Nein, er wird uns nicht überfallen. Sieh doch, wie hoch die Zeriba ist.«

Und er glaubte in der Tat, als er so sprach, daß ihnen keine Gefahr drohte. Aber er fürchtete für die Pferde, die sich immer näher zur Hecke herandrängten und sie schließlich niedertreten konnten.

Inzwischen war das Stöhnen in jenes langanhaltende, donnernde Gebrüll übergegangen, das alle lebenden Wesen erstarren und selbst furchtlosen Menschen die Nerven erzittern macht wie Fensterscheiben bei Kanonenschüssen.

Staß warf einen flüchtigen Blick auf Nel, als er ihr zitterndes Kinn und ihre feuchten Wangen bemerkte, sprach er:

»Fürchte dich nicht! Weine nur nicht!«

Und sie entgegnete dieselben Worte wie einstmals in der Wüste:

»Ich will ja nicht weinen – – nur – meine Augen schwitzen so – – O jeh!«

Der letzte Ausruf entschlüpfte ihrem Munde, weil sich in diesem Augenblick von der Seite des Waldes her ein anderes Gebrüll erhob, das noch mächtiger klang als das erste, weil es näher war. Die Pferde begannen sich gegen die Zeriba zu drängen, und wenn nicht die langen, stahlharten Pfähle der Akazienzweige gewesen, so hätten sie sie einfach umgeworfen. Sabà knurrte und zitterte dabei wie ein Blatt. Kali begann mit abgerissener Stimme zu wiederholen:

»Herr! zwei! zwei! – – zwei!«

Und die Löwen, die sich gegenseitig vernommen hatten, hörten nun nicht mehr auf mit Brüllen, und das Konzert tönte in der Dunkelheit ununterbrochen, denn sobald das eine der Tiere schwieg, begann das andere. Staß konnte bald nicht mehr unterscheiden, woher ihre Stimmen kamen, denn das Echo wiederholte diese Töne, die Felsen warfen sie einander zu, sie zogen in die Höhe und in die Tiefe, erfüllten den Wald und das Dschungel und tränkten die ganze Finsternis mit Donner und Grauen.

Nur eins erschien Staß unzweifelhaft, daß sich die Tiere immer mehr ihrem Lager näherten. Auch Kali bemerkte, daß die Löwen in immer engeren Kreisen um die Zeriba herumzogen, und daß nur das Feuer sie von einem Überfall zurückhielt.

Es war klar, daß auch der junge Neger annahm, daß nur den Pferden eine Gefahr drohe, denn indem er die Finger auseinanderspreizte, sagte er:

»Die Löwen eins töten, zwei töten, – nicht alle! nicht alle!«

»Wirf mehr Zweige ins Feuer!« wiederholte Staß.

Wieder schob eine züngelnde Flamme empor, und das Gebrüll hörte plötzlich auf. Kali hob den Kopf, und indem er nach dem Himmel blickte, begann er zu lauschen.

»Was gibt's da?« fragte Staß.

»Regen!« entgegnete der Neger.

Staß horchte auf. Die Zweige des Baumes überdeckten das Zelt und die ganze Zeriba, daher fiel kein Tropfen Regen auf die Erde, aber man hörte das Laub des Baumes rauschen, und da sich nicht das geringste Lüftchen in der schwülen Luft regte, so war es leicht zu verstehen, daß es der Regen war, der in den Blättern raschelte.

Das Geräusch wurde mit jedem Augenblick stärker, und nach einer gewissen Zeit sahen die Kinder von den Blättern Tropfen herunterrinnen, die im Scheine des Feuers rosigen Perlen glichen. Wie Kali es vorausgesagt hatte, begann ein Platzregen. Das Rauschen war zu einem Geprassel geworden. Es sickerten immer mehr Tropfen durch das Laub, und schließlich begannen ganze Wasserschnüre herabzufallen.

Das Feuer war im Verlöschen. Umsonst warf Kali ganze Arme voll Holz in die Glut. Die nassen Zweige oben fingen nur an zu qualmen, während die Kohlenglut unten zischte, aber ein richtiges Feuer kam nicht mehr in Gang.

»Wenn der Regenguß das Feuer gänzlich erstickt hat,« sagte Staß zu Nels Beruhigung, »so wird uns die Zeriba schützen.«

Darauf geleitete er das kleine Mädchen unter das Dach des Zeltes und hüllte es in ein Plaid. Er selbst kam schnell wieder ins Freie, denn das kurze, abgerissene Gebrüll der Löwen ließ sich wieder vernehmen. Es kam schon von viel näher und klang fast freudig.

Der Regenguß wurde immer stärker. Die Tropfen trommelten ordentlich auf den harten Blättern und fielen plätschernd herunter. Hätten die von Kali aufgeworfenen Äste nicht die letzten Reste des Feuers geschützt, so wäre es jetzt sicherlich mit einem Male ausgegangen, so schwelte es noch qualmend weiter, während von Zeit zu Zeit kleine blaue Flämmchen durch den Rauch züngelten. Kali gab es auf, das Feuer wieder in Gang zu bringen; er warf kein Reisig mehr auf. Dagegen schlang er eine Leine um den Stamm des Baumes und kletterte mit dieser Hilfe ganz hoch an dem Stamm hinauf.

»Was machst du da?« fragte ihn Staß.

»Kali auf Baum klettern.«

»Weshalb?« rief der Knabe, über den Egoismus des Negers empört.

Ein heller, blendender Blitz zerriß jäh die Dunkelheit, und Kalis Antwort wurde durch einen Donner übertönt, der Himmel und Wildnis erschütterte. Zugleich erhob sich ein Sturmwind, der an den Ästen des Baumes zerrte, den Feuerherd in einem Augenblick auseinanderriß und die Asche der glimmenden Kohlen mit ganzen Funkengarben nach dem Dschungel trug.

Dem Blitz war undurchdringliche Finsternis gefolgt, die das ganze Lager einhüllte. Ein fürchterliches tropisches Gewitter tobte am Himmel und auf der Erde. Donner folgte auf Donner, Blitz auf Blitz. Blutrote Blitze zerrissen im Zickzack den schwarzen Trauerflor des Himmels. Auf dem zunächstliegenden Felsen erschien eine sonderbare hellblaue Kugel, die eine Strecke zum Hohlweg hinabrollte und dann unter grellen Lichtausstrahlungen mit einem so furchtbaren Donnerschlag explodierte, daß es schien, als müßten die Felsen von dieser Erschütterung in Staub zerfallen.

Dann wurde es wieder dunkel.

Staß hatte sich Nels wegen sehr erschrocken, und er tastete sich bis zum Zelt. Das Zelt, von dem Termitenhügel und dem Riesenstamm geschützt, stand noch, aber der nächste große Sturmstoß konnte die Stricke zerreißen und es Gott weiß wohin fortführen. Und der Sturm tobte weiter; wenn er sich für einige Minuten wie ermüdet gelegt hatte, raste er gleich darauf mit frischer Kraft dahin und brachte Regenwellen und ganze Wolken von Blättern und Zweigen mit sich, die er im nahen Walde abgerissen hatte. Staß erfaßte Verzweiflung. Er wußte nicht, ob er Nel im Zelt lassen oder sie lieber herausholen sollte. Im Zelt lag die Gefahr vor, daß sie sich in den abgerissenen Stricken verfangen und zugleich mit der Leinwand vom Winde fortgetragen werden konnte; draußen aber wurde sie gänzlich durchnäßt, und es drohte ihr die gleiche Entführung, denn selbst Staß, der doch bei weitem kräftiger war, hatte große Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

Der Sturmwind entschied seine Zweifel etwas später von selbst, indem er das Dach des Zeltes wegriß. Die leinenen Wände boten nun gar keinen Schutz mehr. Es blieb nichts anderes übrig, als das Ende des Gewittersturmes abzuwarten, eingehüllt in tiefe Finsternis, umkreist von den zwei Löwen.

Staß nahm an, daß sich die Tiere bei dem Unwetter in den nahen Wald geflüchtet hätten, aber es war ganz sicher, daß sie, sobald sich der Sturm gelegt hatte, wieder zurückkommen würden. Die gefährliche Lage wurde noch dadurch verschlimmert, daß der Wind die Zeriba ganz auseinandergerissen hatte.

Alles drohte verderbenbringend. Staß' Flinte konnte ihm jetzt nichts nützen, ebensowenig seine Energie. Angesichts des Sturmes, der Donnerschläge, des Regens, der Dunkelheit und der Löwen, die sich vielleicht nur wenige Schritte von ihnen versteckt hatten, fühlte er sich vollkommen wehrlos und ratlos. Die vom Sturm herumgezerrten Leinenwände überfluteten sie von allen Seiten mit Wasser, daher umarmte er Nel und führte sie aus dem Zelt. Beide schmiegten sich an den Nabakstamm und erwarteten den Tod oder die Barmherzigkeit Gottes.

Plötzlich drang zwischen zwei Windstößen Kalis Stimme kaum hörbar inmitten des Regengeplätschers zu ihnen.

»Großer Herr, auf den Baum! Auf den Baum!«

Und gleichzeitig berührte das Ende eines von oben herabgelassenen nassen Strickes Staß' Schultern.

»Bibi anbinden, Kali wird sie heraufziehen!« rief der Neger weiter.

Staß schwankte keinen Augenblick. Er hüllte die Kleine in die Filzdecke ein, damit der Strick ihr den Körper nicht einschneide, band ihr die Leine um die Taille, hob sie auf seine Schultern und rief:

»Zieh hoch!«

Die ersten Baumäste waren nur in geringer Höhe, daher dauerte die Luftreise Nels nicht lange. Kali ergriff sie mit seinen kräftigen Armen, setzte sie zwischen dem Stamm und einem mächtigen Ast nieder, wo sogar Platz für ein halbes Dutzend so winziger Wesen wie das Kind gewesen wäre. Kein Wind konnte sie von dort oben herunterwehen, und außerdem schützte der einige zehn Fuß dicke Stamm sie etwas vor den von der Wetterseite kommenden Regengüssen.

Nachdem Kali die kleine »Bibi« versorgt hatte, ließ er den Strick wieder für Staß herab. Der Knabe aber, wie ein Kapitän, der sein sinkendes Schiff erst als letzter verläßt, befahl, erst Mea hinaufzuziehen.

Der Neger hatte mit ihr nicht viel Mühe, denn im Augenblick kletterte sie mit einer Fertigkeit und Geschicklichkeit am Strick in die Höhe, wie ein geborenes Schimpansenweibchen. Mit Staß ging es ein ganz Teil schwieriger, aber da er ein guter Turner war, so gelang es ihm, die Schwere des eigenen Körpers zu überwinden und sich samt der Flinte und einigen Patronen, mit denen er die Tasche gefüllt hatte, heraufzuschwingen.

Auf diese Weise fanden sich alle vier wieder auf dem Baume zusammen. Staß hatte sich daran gewöhnt, in jeder Situation an Nel zu denken, daß er auch jetzt zu untersuchen begann, ob sie auch nicht herabstürzen könne, und ob sie genügend Platz hätte, um es sich bequem zu machen. Als er sich hierüber beruhigt hatte, dachte er darüber nach, wie er sie vor dem Regen schützen könne. Aber da war guter Rat teuer. Am Tage wäre es ein leichtes gewesen, irgendein Dach über ihrem Kopfe aufzubauen, was jetzt in der Finsternis, wo sie einander kaum sehen konnten, unmöglich war. Wenn nur erst der Sturm vorüber wäre und es ihnen gelänge, ein Feuer anzuzünden, um Nels Kleider zu trocknen! Mit Verzweiflung dachte Staß, daß die Kleine, so bis auf den letzten Faden durchnäßt, am nächsten Tage den ersten Fieberanfall bekommen würde. Er befürchtete auch, daß es bei Tagesanbruch nach dem Gewitter wieder kalt werden würde wie in den Nächten vorher. Bis jetzt waren die Windstöße eher heiß und der Regen warm. Staß wunderte sich nur über die Hartnäckigkeit des Tropengewitters, die für gewöhnlich um so kürzer sind, je heftiger sie auftreten.

Nach sehr langer Zeit erst hörte es auf zu donnern, und auch der Sturm legte sich, aber der Regen hielt an. Es goß zwar nicht mehr in Strömen wie zuvor, aber so anhaltend, daß selbst die Nabakblätter keinen Schutz mehr boten. Von unten hörte man das Wasser rauschen, als wenn das ganze Dschungel sich in einen einzigen See verwandelt hätte. Es fiel Staß ein, daß sie im Hohlweg sicherlich nicht dem Tode entgangen wären. Schweren Herzens dachte er, was wohl aus Sabà geworden sei, aber er wagte es nicht, mit Nel darüber zu sprechen. Im stillen hoffte er jedoch, daß das kluge Tier irgendein sicheres Versteck in den Felsen bei der Schlucht gefunden haben werde. Es gab eben keine Möglichkeit, ihm zu Hilfe zu kommen.

Eng aneinandergedrängt saßen sie, naß vom Regen, inmitten der Äste und warteten auf den Tag. Nach mehreren Stunden begann es kühler zu werden und hörte zu regnen auf. Das Wasser hatte sich offenbar verlaufen und war an den Abhängen zu den niedrigeren Stellen geflossen, denn es war kein Geplätscher und kein Rauschen mehr zu hören.

Staß, der schon früher bemerkt hatte, daß Kali es verstand, auch aus nassen Zweigen ein Feuer anzuzünden, wollte dem Knaben befehlen, herabzusteigen, um es zu versuchen. Gerade jedoch, als er sich umwandte, ereignete sich etwas, was allen vieren das Blut in den Adern erstarren machte.

Das erschreckte, durchdringende, Schmerz, Furcht und Entsetzen ausdrückende Geschrei eines Pferdes zerriß plötzlich die tiefe nächtliche Stille. In der Finsternis erhob sich ein Lärm, kurzes Röcheln erscholl, dann dumpfes Stöhnen und Schnauben, dem wiederum ein noch gellenderer Pferdeschrei folgte. Darauf wurde es ganz still.

»Die Löwen! Großer Herr! Die Löwen töten die Pferde!« flüsterte Kali.

Es lag etwas so Schauriges in diesem nächtlichen Überfall, in diesem Siege der Ungeheuer und in diesem unerwarteten Hinmorden der wehrlosen Tiere, daß Staß einen Augenblick ganz starr war und ganz seine Flinte vergaß. Es hätte ihm auch nichts nützen können, in dieser Dunkelheit zu schießen. Die nächtlichen Mörder hätten höchstens vor Schreck von den getöteten Pferden abgelassen und wären den anderen Pferden nachgejagt, die sich, soweit wie es ihnen mit ihren gefesselten Beinen möglich war, vom Lager entfernt hatten.

Staß schauderte bis ins Innerste bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn sie unten geblieben wären. Nel, die sich fest an ihn geschmiegt hatte, zitterte so stark, als hätte sie schon den ersten Fieberanfall; aber der Baum schützte sie wenigstens vor einem Überfall. Unzweifelhaft, Kali hatte ihnen das Leben gerettet.

Es war eine furchtbare Nacht, – die furchtbarste der ganzen Reise!

Sie saßen wie durchnäßte Vögel auf den Zweigen und hörten, was unten vorging. Zuerst herrschte tiefes Schweigen; bald aber ließ sich ein Knurren vernehmen, ein Schmatzen, ein lautes Zerfetzen von Fleischstücken, vereint mit dem keuchenden Atem und dem Gestöhn der Ungeheuer.

Der Geruch von rohem Fleisch und Blut drang bis zu dem Baume; denn die Löwen hielten ihr Mahl nur zwanzig Schritt hinter der Zeriba. Sie fraßen so lange, daß Staß schließlich vom Zorn übermannt wurde. Er griff nach der Flinte und schoß in der Richtung des Geräusches.

Aber nur ein abgerissenes, zorniges Gebrüll antwortete ihm, dann hörte man das Krachen der in den mächtigen Kiefern zermalmten Knochen.

In der Ferne leuchteten bläulich und rot die Augen von Hyänen und Schakalen, die abwarteten, bis die Reihe an sie käme.

Und langsam verflossen in dieser Weise die vielen Stunden der Nacht. –


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