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Es war eine breite Schlucht, die unten auf dem Grunde mit Steinen zugeschüttet war, zwischen denen zwergartige, dornige Sträucher wuchsen. An ihrem südlichen Abhange befanden sich hohe Felsen mit tiefen Rissen und Spalten. Beim Lichte der vielen fernen Blitze hatten die Araber dies alles erspäht.
Bald entdeckten sie in der Felswand eine Art flacher Grotte, einen weiten, von herabhängenden Felsen geschützten Raum, in dem die Menschen ein Unterkommen und eine Zuflucht vor einem großen Regenguß finden konnten. Auch die Kamele hatten auf einer kleinen Erhöhung vor der Höhle einen guten Rastplatz. Die Beduinen und die beiden Sudanesen nahmen ihnen das Gepäck und die Sättel ab, damit sie sich bequem ausruhen konnten. Chamis beschäftigte sich inzwischen damit, mit dem dornigen Gesträuch ein Feuer anzuzünden.
Große, einzelne Regentropfen fielen ununterbrochen; aber der richtige Platzregen hub erst an, als sich alle schon zur Nachtruhe niedergelegt hatten. Zuerst regnete es Bindfäden, dann aber schienen Bäche und zuletzt ganze Flüsse aus den unsichtbaren Wolken auf die Erde herniederzustürzen. Solche Regengüsse, die alle paar Jahre einmal vorzukommen pflegen, machen sogar im Winter den Wasserspiegel in den Kanälen und im Nil steigen. In Aden füllen sie ungeheure Zisternen, ohne deren Wasservorrat man dort gar nicht existieren könnte.
Staß hatte nie im Leben etwas Ähnliches gesehen. Auf dem Grunde des Khors brauste ein Strom, und der Eingang zur Höhle war wie durch einen fließenden Wasservorhang gesperrt. Die Kamele standen auf einer Anhöhe; die Flut konnte ihnen höchstens ein Bad bereiten, und dennoch sahen die Araber alle paar Minuten nach ihnen, ob sie auch nicht zu Schaden kämen. Die Menschen fühlten sich wohl in der vor dem Regen geschützten Höhle bei dem Scheine eines hellen Feuers von Reisig, das noch nicht naß geworden war. Auf allen Gesichtern lag ein Schein von Freude. Idrys, der gleich nach der Ankunft Staß' Hände von der Fessel befreit hatte, damit er essen konnte, wandte sich jetzt an den Knaben, indem er verächtlich lächelte.
»Der Mahdi ist mächtiger als alle weißen Zauberer. Er hat den Sturm besiegt und den Regen geschickt.«
Staß antwortete nichts, denn er war mit Nel beschäftigt, die mehr tot als lebendig war. Zuerst schüttelte er den Sand aus ihren Haaren, dann befahl er Dinah, die Sachen auszupacken, die sie aus Fayum mitgenommen in der Hoffnung, zu ihren Vätern zu reisen. Er nahm ein Handtuch, machte es naß und rieb der Kleinen die Augen und das Gesicht damit ab, da Dinah, die ohnehin schon auf einem Auge blind war, mit dem anderen nach den Sturm- und Sandwehen fast gar nichts sehen konnte und bisher vergeblich versucht hatte, ihrem entzündeten Auge durch Kühlen eine Erleichterung zu verschaffen.
Nel verhielt sich Staß' Bemühungen gegenüber ganz teilnahmlos; sie sah ihn nur an wie ein ganz ermattetes Vögelchen. Erst als er ihr die Schuhe ausgezogen, den Sand herausgeschüttelt und dann eine Filzdecke ausgebreitet hatte, umschlang sie mit ihren Ärmchen seinen Hals.
Ein tiefes Mitleid mit dem Kinde erfüllte Staß' Herz. Er fühlte sich als sein Vormund, als älterer Bruder und als sein alleiniger Beschützer zurzeit, und empfand zugleich, daß er dieses kleine Schwesterchen sehr liebte, mehr als je zuvor. Gewiß, er hatte sie auch in Port Said liebgehabt, aber sie dort nur als ein kleines Kindchen betrachtet, so daß ihm z. B. nie beim Gutenachtsagen der Gedanke gekommen war, ihr die Hand zu küssen, ja, er hätte, wenn ihn jemand dazu veranlaßt haben würde, es für eine Schmälerung seiner dreizehnjährigen Kavaliersehre gehalten, so etwas zu tun. Doch jetzt weckte das gemeinsame Unglück ein bisher schlummerndes Gefühl in seiner Seele, und er küßte der Kleinen nicht nur das eine, sondern beide Händchen.
Noch als er sich niedergelegt hatte, dachte er nur an sie und beschloß, irgendeine außergewöhnliche Tat zu vollbringen, um sie aus der Gefangenschaft zu befreien. Er war zu allem bereit, selbst Wunden und den Tod wollte er für sie erdulden, wenn auch unter dem kleinen Vorbehalt in seinem innersten Herzen, daß die Wunden nicht gar zu schmerzhaft, und der Tod nicht gar zu wirklich sein möge. Wie sollte er sonst das Glück genießen, die kleine Nel befreit zu sehen? Und er begann, über die heldenhaftesten Rettungsarten nachzusinnen, aber schließlich fingen seine Gedanken an, sich zu verwirren. Zuerst schienen ganze Wolken Sand auf ihn herabzufallen und ihn zu verschütten, dann spazierten alle Kamele in seinen Kopf hinein, und dann schlief er fest ein.
Nachdem die Araber die Kamele versorgt hatten, verfielen sie, vom Kampf mit dem Sturm erschöpft, in einen tiefen Schlaf. Das Feuer erlosch, tiefe Finsternis herrschte in der Höhle. Bald erfüllte das Schnarchen der Schlafenden den Raum. Von draußen drang das Geplätscher der Regenflut und das Rauschen des Wassers herein, das gegen die Steine auf dem Khorgrunde brauste. So verging die Nacht.
Kurz vor Tagesanbruch weckte ein Kältegefühl Staß aus dem festen Schlafe auf. Er bemerkte, daß das Wasser, das sich in einer Felsspalte über ihm gesammelt hatte, tropfenweise durch irgendeine Ritze in die Höhle und gerade auf seinen Kopf herabfiel. Der Knabe richtete sich auf der Filzdecke hoch und kämpfte einige Zeit mit dem Schlaf, ohne sich recht besinnen zu können, wo er sei und was mit ihm vorgehe.
Nach einiger Zeit kehrte ihm jedoch das Bewußtsein zurück.
»Aha,« dachte er, »gestern war der Sturm, und wir sind entführt worden, und das hier ist die Höhle, in der wir vor dem Regen Schutz gefunden und uns verborgen haben.«
Und nun begann er, sich umzusehen. Er bemerkte mit Erstaunen, daß es aufgehört hatte zu regnen, und daß es in der Höhle nicht mehr finster war, weil der untergehende Mond, der ganz tief, fast am Horizont stand, hineinleuchtete. In seinem fahlen Lichte war das ganze Innere der breiten, aber nicht tiefen Höhle zu übersehen. Staß unterschied deutlich die neben ihm schlafenden Araber und an der anderen Wand der Höhle das weiße Kleidchen Nels, die bei Dinah schlief.
Und wieder erfüllte sein Herz ein tiefes Gefühl des Mitleids und der Rührung.
»Nel schläft – sie schläft –,« sprach er bei sich, »aber ich schlafe nicht, – ich muß sie erretten.«
Dann fiel sein Blick auf die Araber, und er fügte in Gedanken hinzu: »Ach, wie möchte ich alle diese Halunken –«
Plötzlich erbebte er.
Sein Blick fiel auf den ledernen Behälter, in dem der Stutzen war, den er zu Weihnachten erhalten hatte, und auf die Patronenbüchse, die zwischen ihm und Chamis lag, so nahe, daß er nur die Hand danach auszustrecken brauchte. Sein Herz begann wie ein Hammer zu schlagen. Wenn er jetzt die Flinte und die Patronen in Händen hätte, würde er Herr der Lage sein. Es genügte dann, leise aus der Höhle herauszukriechen, sich etwa zehn Schritte entfernt zwischen den Steinen zu verstecken und von dort den Ausgang zu bewachen.
»Wenn die Sudanesen und Beduinen erwachen,« dachte er bei sich, »und gewahr werden, daß ich fort bin, werden sie aus der Höhle herausstürzen. Mit zwei Schüssen werde ich die beiden ersten niederschießen, und bevor die anderen kommen, wird die Büchse wieder geladen sein. Bleibt also Chamis allein übrig, und mit dem werde ich leicht fertig werden.«
Hier stellte er sich die in ihrem Blute schwimmenden vier Leichen vor, und Angst und Entsetzen erfaßten zugleich seine Seele. »Vier Menschen ermorden! – Zwar, sie sind Halunken, wirkliche Halunken, aber auf jeden Fall ist der Mord eine schaudererregende Tat.« – Er entsann sich, daß er einmal in Port Said gesehen hatte, wie ein Landarbeiter durch die Kurbel eines Dampfbaggers erschlagen wurde, und was für einen fürchterlichen Eindruck auf ihn der in einer roten Blutlache liegende menschliche Überrest gemacht hatte. Und er erschauerte noch in der Erinnerung. Und jetzt müßten es vier sein; welch eine Sünde und Greueltat! Nein, nein! Er würde es nie tun können!
Er begann mit dem Gedanken zu ringen. Für sich würde er es nie tun, doch hier, ja, hier handelte es sich um Nel, um ihren Schutz, um ihre Errettung, um ihr Leben, da sie ja dies alles nicht aushalten konnte und mit Sicherheit entweder unterwegs oder unter den wilden Horden der Derwische sterben würde. Was bedeutet das Blut dieser Halunken gegen Nels Leben? Darf man in einer solchen Lage auch nur schwanken? – Für Nel! – Für Nel! – –
Aber plötzlich durchfuhr wie ein Sturm Staß' Kopf ein Gedanke, bei dem sich ihm die Haare auf dem Kopfe sträubten. »Was aber, wenn einer von den Räubern Nel das Messer auf die Brust setzt und sie zu ermorden droht, wenn ich mich nicht unterwerfe und die Flinte zurückgebe? – Was dann? – Dann«, entschloß sich Staß, »werde ich mich sofort ergeben.«
Und in dem Gefühl seiner Ohnmacht warf er sich wieder auf die Filzdecke und lag regungslos.
Der Mond warf nur noch ganz schräg sein Licht in die Höhle, in der es schon dunkler geworden war. Die Araber schnarchten ununterbrochen weiter. Nach einiger Zeit begann in Staß' Kopf ein neuer Gedanke aufzutauchen.
Wenn er anstatt der Leute die Kamele von seinem Versteck aus niederschießen würde? Schade um die unschuldigen Tiere! Sie taten ihm leid, aber was war da zu machen? Die Menschen töten ja doch Tiere, nicht zur Rettung ihres Lebens, sondern nur um Bouillon und Braten zu haben. Wie dem auch sei, es stand fest bei ihm, daß eine Fortsetzung der Reise unmöglich wäre, wenn es ihm gelänge, vier oder sogar fünf Kamele zu töten. Niemand von der Karawane würde es wagen, sich in die Dörfer an den Ufern zu begeben, um neue Kamele zu kaufen. Staß wollte den Leuten dann im Namen ihrer Väter Straflosigkeit und sogar eine Geldbelohnung zusichern, und es würde ihnen nichts weiter übrigbleiben, als zurückzukehren.
Was aber, wenn sie ihm erst gar keine Zeit ließen für diese Versprechungen, sondern ihn gleich in ihrer ersten Zornesaufwallung töteten? Doch die Zeit, ihn anzuhören, mußten sie ihm ja geben, da er ja die Flinte in der Hand hätte und sie so in angemessener Entfernung halten konnte, bis er ausgeredet hatte. Und sie würden dann begreifen, daß es ihre einzige Rettung wäre, sich zu ergeben. Er, an der Spitze der Karawane, würde sie dann geradeswegs zum Bahr-Jussef und dem Nil führen. Freilich, sie waren jetzt ziemlich weit von beiden entfernt, ein oder zwei Tagesmärsche weit, da die Araber aus Furcht tief in das Innere der Wüste eingedrungen waren. Aber was machte das; einige Kamele würden ja am Leben geblieben sein, und auf einem von ihnen konnte Nel reiten.
Staß begann, die Gesichter der Araber aufmerksam zu betrachten. Sie schliefen alle so fest, wie nur äußerst erschöpfte Menschen schlafen können. Aber da die Nacht schon zu Ende ging, konnten sie bald aufwachen. Es mußte sofort gehandelt werden. Die Büchse mit den Patronen zu erreichen, war nicht schwer; sie lag ihm zur Seite. Mehr Schwierigkeit bot das Holen der Flinte, die Chamis an seine andere Seite gelegt hatte. Staß hoffte jedoch, daß es ihm gelingen würde, sie zu stehlen, aber er beschloß, sie mit dem Futteral zu nehmen und den Kolben mit dem Flintenlauf erst draußen zusammenzusetzen, wenn er ungefähr zehn Schritt von der Höhle entfernt sein würde, da er fürchtete, daß das Geklirr der Eisenteile gegeneinander leicht die Schlafenden aufwecken könnte.
Der Augenblick war gekommen. Der Knabe bog sich wie ein Bügel über Chamis, und indem er das Flintenfutteral am Griff erfaßte, nahm er es hoch und begann, es vorsichtig auf seine Seite zu heben. Das Herz und der Puls schlugen ihm heftig; es wurde ihm schwarz vor den Augen, und sein Atem ging schnell. Aber er biß die Zähne fest aufeinander und bemühte sich, Herr seiner Aufregung zu werden. Als jedoch die Riemen, die das Futteral umschnürten, ein wenig knarrten, traten ihm kalte Schweißtropfen auf die Stirn. Diese Sekunde erschien ihm wie eine Ewigkeit. Chamis aber rührte sich gar nicht. In einem Bogen führte er das Futteral über Chamis hinweg auf seine Seite und stellte es zu der Patronenbüchse.
Staß atmete auf. Die Hälfte der Arbeit war getan. Jetzt hieß es, sich geräuschlos aus der Höhle hinauszuschleichen, zehn Schritt weit zu laufen und sich hinter einem Felsen zu verstecken, dann das Futteral zu öffnen, die Flinte zusammenzusetzen, sie zu laden, sich einige Dutzend Patronen in die Tasche zu stecken, – und die Karawane war in der Tat von seiner Gnade abhängig.
Die schwarze Silhouette Staß' hob sich scharf von dem helleren Hintergrund der Höhlenöffnung ab. Noch eine Sekunde, und er ist draußen, noch eine Minute, und er ist hinter dem Felsenvorsprung verborgen. Mochte dann ruhig einer der Räuber erwachen, bis er gemerkt, was vorgefallen, und die anderen geweckt haben wird, ist es schon zu spät.
Der Knabe, in der Furcht, irgendeinen Stein, deren viele am Höhleneingange lagen, herunterzurollen, schob vorsichtig einen Fuß hinaus und begann mit der Sohle sicheren Grund zu suchen.
Schon steckte er den Kopf aus der Öffnung hinaus, schon war er im Begriff, den ganzen Körper nachzuziehen, da geschah etwas, was das Blut in seinen Adern zu Eis erstarren machte.
Mitten in der tiefen Stille erscholl das frohe Gebell Sabàs, es erfüllte die ganze Schlucht und erweckte ein vielstimmiges Echo aus seinem Schlummer. Die Araber fuhren aus dem Schlafe hoch wie ein Mann, und das erste, was ihr Blick deutlich erfaßte, war Staß mit dem Futteral in der einen und der Büchse in der anderen Hand. – – – –
Ach, Sabà, was hast du angerichtet! – – – –