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XXX.

Eines Tages, die Kinder wollten gerade zu Abend essen, schob Nel ein Stückchen geräuchertes Fleisch, das sie zum Munde geführt hatte, mit Widerwillen von sich und sagte:

»Ich kann heute nichts essen!«

Staß, der von Kali erfahren hatte, wo die Bienen ihren Bau hatten, und ihn nun jeden Tag ausräucherte, um ihnen den Honig zu rauben, war überzeugt, daß die Kleine im Laufe des Tages zuviel Honig gegessen hatte, und gab deshalb wenig auf ihren Mangel an Appetit. Aber nach einiger Zeit stand Nel auf, und begann eilig in immer größer werdenden Kreisen um das Feuer zu wandern.

»Entferne dich nicht zu weit,« rief ihr Staß zu, »damit dir nichts zustößt!«

In Wirklichkeit fürchtete er nichts, denn die Gegenwart des Elefanten, die die wilden Tiere witterten, und sein Trompeten, das an ihre wachsamen Ohren drang, hielt die Raubtiere in angemessener Entfernung, so daß Menschen und Tiere vor ihnen sicher waren, da selbst die allerwildesten Raubtiere des Dschungels, der Löwe, Panther und Leopard, es vorziehen, nichts mit dem Elefanten zu tun zu haben, und sich vor allzu naher Berührung mit seinen Hauern und seinem Rüssel hüten.

Als Nel aber anfing, immer schneller umherzukreisen, folgte ihr Staß und fragte:

»He, kleiner Nachtfalter, warum fliegst du denn so um das Feuer?«

Er fragte noch in heiterem Tone, wiewohl er schon unruhig war; seine Besorgnis wuchs aber, als die Kleine antwortete:

»Ich weiß nicht. Ich kann nicht auf einer Stelle sitzen.«

»Was ist dir denn?«

»Mir ist so merkwürdig, so sonderbar – –«

Und dann lehnte sie ihr Köpfchen an seine Brust und, als wenn sie irgendeine Schuld gestand, sprach sie mit demütiger, weinerlicher Stimme:

»Staßchen, mir scheint, ich bin krank.«

»Nel!«

Danach legte er seine Hand auf ihre Stirn, die trocken und zugleich eiskalt war. Er nahm sie auf den Arm und trug sie zum Feuer.

»Ist dir kalt?« fragte er unterwegs.

»Ja, kalt und auch heiß, aber mehr kalt.« – –

Die Zähne schlugen ihr vor Frost aufeinander, und ihr Körper zitterte fortwährend. Staß zweifelte nicht im geringsten, daß sie am Fieber erkrankt war.

Er befahl Mea, sie sofort in den Baum zu bringen, sie auszukleiden und hinzulegen. Dann hüllte er sie mit allem, was ihnen zur Verfügung stand, ein; denn er hatte in Faschoda gesehen, daß man die Fieberkranken mit Schaffellen zudeckte, um sie zum Schwitzen zu bringen. Er beschloß, die Nacht bei Nel zu durchwachen und ihr heißes Wasser mit Honig zu trinken zu geben. Aber zuerst sträubte sie sich, etwas zu trinken. Beim Schein des Lämpchens, das im Innern des Baumes hing, bemerkte Staß ihre glänzenden Augen. Nach einiger Zeit klagte sie über Hitze und schüttelte sich zugleich unter der Filzdecke und dem Plaid. Ihre Hände und ihre Stirn waren andauernd kalt, aber wenn Staß sich nur ein wenig auf Fieberanfälle verstanden hätte, so würde er an ihrer außergewöhnlichen Unruhe erkannt haben, daß sie große Hitze hatte. Mit Schrecken gewahrte der Knabe, daß Nel Mea, wenn sie mit heißem Wasser hereinkam, mit eigenartiger Verwunderung, fast mit Furcht anstarrte und sie nicht zu erkennen schien. Zu ihm jedoch sprach sie mit vollem Bewußtsein. Sie sagte, daß sie nicht liegen könnte, und bat ihn, zu erlauben, daß sie aufstehe und umhergehe. Immer wieder fragte sie, ob er auch böse wäre, daß sie krank sei. Und jedesmal, wenn er ihr das Gegenteil versicherte, zerdrückte sie mit den Lidern die Tränen, die ihr in die Augen traten, und versprach ihm, morgen wieder ganz gesund zu sein.

An diesem Abend oder richtiger in dieser Nacht, war der Elefant merkwürdig unruhig; er brüllte ununterbrochen, so daß auch Sabà zu bellen anfing. Staß beobachtete, daß das Nel störte, und er ging aus dem Baum heraus, um die Tiere zu beruhigen. Bei Sabà war das leicht, aber dem Elefanten zu befehlen, ruhig zu sein, war schwerer, deshalb nahm Staß einige Melonen, um sie ihm hinunterzuwerfen und ihm so den Rüssel wenigstens auf einige Minuten zu stopfen.

Als er zurückkehrte, bemerkte er beim Scheine des Feuers Kali, der sich mit einem Stück geräucherten Fleisches zum Flusse begab.

»Was machst du, und wohin gehst du?« fragte er den Neger.

Der schwarze Knabe blieb stehen, und als Staß sich ihm genähert hatte, sagte er mit geheimnisvoller Miene:

»Kali geht, um unter einen anderen Baum dem bösen Mzimu Fleisch hinzulegen.«

»Wozu?«

»Dazu, daß der böse Mzimu nicht den guten tötet.«

Staß wollte ihm antworten, aber plötzlich fühlte er einen tiefen Schmerz in der Brust; er preßte die Zähne heftig zusammen und ging schweigend weiter.

Als er zum Baum zurückkehrte, lag Nel mit geschlossenen Augen da; ihre Hände, die auf der Filzdecke lagen, zitterten zwar stark, aber sie schien einzuschlafen. Staß setzte sich zu ihr, und aus Furcht, sie zu stören, blieb er lange Zeit bewegungslos. Mea, die an der anderen Seite saß, spielte mit den Elfenbeinstücken, die sie im Ohr trug, um sich auf diese Weise vor dem Einschlafen zu schützen. Es war ganz still. Nur vom Flusse her tönte von den ausgetretenen Wassern das Quaken der Frösche und das wehmütige Geunke der Kröten.

Plötzlich richtete sich Nel von ihrem Lager auf.

»Staßchen!«

»Ich bin hier, Nel!«

Und die kleine Nel, wie ein vom Winde bewegtes Blatt zitternd, begann Staß' Hände zu suchen und hintereinander schnell zu wiederholen:

»Ich fürchte mich so! Ich fürchte mich so! Gib mir die Hand!«

»Fürchte dich nicht, Nel, ich bin bei dir!«

Er nahm ihre Hand, die jetzt wie Feuer brannte, und da er gar nicht wußte, was er tun sollte, fing er an, diese armen, abgemagerten Händchen mit Küssen zu bedecken.

»Fürchte dich nicht, Nel! Fürchte dich nicht!«

Dann gab er ihr wieder Honigwasser zu trinken, das inzwischen erkaltet war. Nun trank Nel gierig und hielt seine Hand mit dem Gefäß fest, als er es fortzunehmen versuchte. Das kalte Getränk schien eine beruhigende Wirkung auszuüben.

Wieder herrschte Schweigen. Nach Verlauf einer halben Stunde aber richtete sich Nel wieder hoch, und in ihren weit geöffneten Augen war deutlich Furcht zu lesen.

»Staßchen!«

»Was ist dir, Liebe?«

»Warum«, fragte sie mit gebrochener Stimme, »gehen Gebhr und Chamis um den Baum herum und gucken zu mir herein?«

Staß überlief es kalt.

»Was sagst du da?« fragte er. »Hier ist niemand. Kali ist es, der um den Baum geht.«

Nel aber rief mit Zähneklappern, indem sie immer auf die dunkle Öffnung blickte:

»Die Beduinen sind auch da! Warum hast du sie ermordet?«

Staß zuckte mit den Schultern und preßte die Kleine an sich.

»Du weißt ja warum! Schau nicht hin! Denke doch nicht daran! Das ist ja schon lange her!« –

»Nein, heute! heute!«

»Nein, Nel, lange, lange her!«

Und obwohl es schon lange her war, so kehrte es wie eine vom Ufer zurückgetriebene Welle wieder und erfüllte die Gedanken des kranken Kindes mit Entsetzen.

Alle Beruhigungsworte waren vergeblich. Nels Augen erweiterten sich immer mehr. Ihr Herz schlug so heftig, daß es jeden Augenblick zu brechen schien. Und sie begann, sich umherzuwerfen wie ein aus dem Wasser gezogener Fisch. Das alles währte bis zum Morgen. Erst dann war ihre Kraft völlig erschöpft, und ihr Köpfchen sank zurück auf das Lager.

»Mir ist so schwach«, wiederholte sie. »Staßchen, ich falle irgendwohin, ganz tief hinunter.«

Darauf schloß sie die Augen.

Im ersten Augenblick war Staß aufs tiefste betroffen; er glaubte, daß sie gestorben sei. Aber es war nur das Ende des ersten Anfalles jenes schrecklichen afrikanischen Fiebers, »das Verderbenbringende« genannt. Selbst starke und gesunde Naturen halten höchstens zwei solche Anfälle aus, einen dritten hat bisher noch niemand überwunden. Die Reisenden hatten oft in Port Said im Hause Rawlisons davon erzählt, und noch öfter die nach Europa zurückkehrenden katholischen Missionare, die Herr Tarkowski gastfreundlich bei sich aufgenommen hatte. Der zweite Anfall pflegt einige Tage später einzutreten, der dritte jedoch, wenn er nicht innerhalb von zwei Wochen kommt, ist nicht mehr tödlich. Man rechnet ihn dann als den ersten Anfall einer zweiten Krankheitsperiode. Staß wußte, daß das einzige Mittel, um die Anfälle zu dämpfen oder ihre Zeitfolge auf ein möglichstes auszudehnen, das Chinin war; aber er besaß nicht ein einziges Krümchen mehr davon.

Als Staß sah, daß Nel noch atmete, beruhigte er sich wieder, und er begann für sie zu beten. Indessen war die Sonne hinter den Felsen in der Schlucht emporgestiegen, und es wurde Tag.

Der Elefant erinnerte bereits an sein Futter, und von den ausgetretenen Wassern her ließen sich die Rufe der Wasservögel vernehmen. Da Staß einige Wildvögel zu einer kräftigen Brühe für Nel erlegen wollte, nahm er seine Schrotflinte und ging zu einer Gruppe hoher Sträucher, auf die sich die Vögel meist zur Nacht niederließen. Doch er war so übermüdet, und seine Gedanken waren so mit der Krankheit der Kleinen beschäftigt, daß eine ganze Schar Wildvögel im Gänsemarsch an ihm zur Tränke vorbeimarschierte, ohne daß er sie bemerkte. Er betete ununterbrochen und gedachte der Ermordung Gebhrs, Chamis' und der Beduinen, und mit gen Himmel gerichteten Augen sprach er mit tränenerfüllter Stimme: »Ich habe es ja für Nel getan, Herr Gott im Himmel! Nur für Nel! Ich konnte sie doch nicht auf andere Weise befreien, und wenn es eine Sünde war, so strafe mich, – sie aber laß wieder gesund werden!« – –

Unterwegs begegnete er Kali, der ging, um nachzusehen, ob der böse Mzimu das ihm gestern geopferte Fleisch verzehrt hatte. Der junge Neger, der die kleine Bibi sehr liebte, betete auch für sie; aber er betete in ganz anderer Art. Er versprach nämlich dem bösen Mzimu, wenn Bibi gesund würde, jeden Tag Fleisch zu bringen; im Falle ihres Todes jedoch wollte er ihn so durchprügeln, daß er in alle Ewigkeit daran denken würde, obwohl er sich vor dem bösen Mzimu fürchtete und wußte, daß er dann sterben mußte. Der schwarze Knabe wurde dann aber hoffnungsfroher, als er sah, daß das Fleisch verschwunden war. Zwar konnte irgendein Schakal es geraubt haben, aber auch Mzimu konnte ja die Gestalt eines Schakals angenommen haben.

Kali meldete Staß diesen guten Erfolg; dieser aber sah ihn ganz verständnislos an und schritt weiter. Er ging an einer Gruppe von Sträuchern vorüber, auf denen keine Wildvögel saßen. So näherte er sich dem Flusse, an dessen Ufern hohe Bäume wuchsen, an deren Zweigen wie lange Strümpfe die Nester der Beutelmeisen herunterhingen, hübscher, gelber Vögelchen mit schwarzen Flügeln. Auch Wespennester sah er hängen, die großen grauen Rosen aus Löschpapier ähnlich sahen. An einer Stelle war der Fluß fast zehn Fuß breit übergetreten und gänzlich mit Papyrus bewachsen. Hier wimmelte es immer von Wasservögeln, von Störchen, die unseren europäischen glichen, und von solchen mit großen, dicken Schnäbeln, die in einem Haken endigten; da waren Vögel, tief schwarz wie Samt, mit roten Beinen, Flamingos, Kraniche, weiße mit rosa Flügeln versehene Löffelenten, Kronenreiher und viele bunte und mausgraue Möwen, die schnell hin und her trippelten auf ihren langen, strohdünnen Beinchen, kleinen, flinken Waldgeistern gleich.

Staß erlegte zwei große Wildenten von schöner, zimmetbrauner Farbe, und nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte, ob auf den Sandbänken auch keine Krokodile lagen, schritt er durch das Wasser, um die Beute zu holen. Er mußte über Tausende von weißen, toten Schmetterlingen hinweggehen, die das ganze Ufer bedeckten. Anscheinend hatte der Schuß alle Vögel vertrieben. Nur zwei wenige Schritte entfernte Marabus waren, in Gedanken versunken, im Wasser stehengeblieben, zwei alten Männern mit tief in den Schultern steckenden Kahlköpfen gleich. Sie bewegten sich nicht im geringsten. Staß betrachtete sich eine Zeitlang ihre scheußlichen, von den Brüsten herabhängenden Fleischsäcke und kehrte dann, als er bemerkte, daß die Wespen ihn immer dichter umkreisten, wieder in das Lager zurück.

Nel schlief noch, und der Knabe warf sich, nachdem er Mea die Enten gegeben hatte, auf seine Filzdecke und versank sofort in einen bleiernen Schlaf.

Die Kinder erwachten erst am Nachmittag, Staß zuerst, Nel etwas später. Die Kleine fühlte sich ein wenig besser, und als die starke Bouillon sie noch mehr gekräftigt hatte, stand sie auf und ging aus dem Baum heraus, da sie nach King und der Sonne Verlangen hatte.

Erst bei Tageslicht konnte man sehen, was für eine Verwüstung diese einzige Fiebernacht bei dem Kinde angerichtet hatte. Das Gesicht war gelb und durchsichtig, die Lippen schwarz, unter den Augen lagen tiefe Ränder, und es erschien stark gealtert. Sogar seine Augen schienen blasser als gewöhnlich. Es zeigte sich auch, daß es trotz seiner Versicherung zu Staß, daß es sich ziemlich kräftig fühle, und trotz des großen Bechers Brühe, die es sogleich nach dem Erwachen getrunken hatte, kaum imstande war, sich bis zur Schlucht zu schleppen. Staß dachte mit Schrecken an den zweiten Anfall, und daß er weder ein Medikament noch irgendein anderes Mittel zur Verfügung hatte, um ihn zu bekämpfen.

Und der Regen durchnäßte die Erde noch weiter vielmals am Tage und verstärkte die Feuchtigkeit der Luft immer mehr.


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