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An den folgenden Tagen verbrachte Nel ihre ganze Zeit, wenn es nicht regnete, bei King, der sich jetzt nicht mehr ihrem Fortgehen widersetzte, da er begriffen hatte, daß das kleine Mädchen mehrmals am Tage wiederkehrte. Kali, der Elefanten im allgemeinen fürchtete, beobachtete diese Freundschaft mit außerordentlichem Erstaunen, aber dann kam er zu der Überzeugung, daß der allmächtige »gute Mzimu« den Riesen bezaubert hätte, und er begann, ihn auch zu besuchen. King verhielt sich ihm und auch Mea gegenüber wohlwollend; aber nur Nel allein konnte mit ihm machen, was sie wollte, so daß sie schon nach einer Woche Mut faßte und Sabà mit hinunternahm. Für Staß brachte dieses Verhältnis eine große Erleichterung, da er nun mit aller Ruhe Nel unter dem Schutze oder, wie er sich ausdrückte, unter dem Rüssel des Elefanten lassen und ohne jede Furcht auf die Jagd gehen konnte. Manchmal nahm er sogar auch Kali mit sich. Er war jetzt eben davon überzeugt, daß das treffliche Tier die Kleine auf keinen Fall verlassen würde, und er begann, ernstlich zu überlegen, wie er es aus der Gefangenschaft befreien könnte.
Eigentlich hatte er schon längst das Mittel gefunden, aber es erforderte ein so großes Opfer, daß er sich mit dem Gedanken herumquälte, ob er es bringen sollte; und er verschob es von Tag zu Tag. Da er niemand zum Aussprechen hatte, beschloß er schließlich, Nel in seinen Plan einzuweihen, obwohl er sie für ein ganzes Kind hielt.
»Den Felsen kann man mittels Pulver sprengen,« sagte er, »aber dazu müßte man viele Patronen verbrauchen, d. h. die Kugeln herausnehmen, das Pulver herausschütten und es zu einer großen Ladung verwenden. Diese Ladung in den tiefsten Spalt in die Mitte des Felsens gelegt und angezündet, wird den Felsen zersprengen, und wir können King dann hinausführen.«
»Aber wird sich der Elefant nicht bei dem großen Krach, der dadurch entsteht, erschrecken?«
»Wenn schon,« antwortete Staß schnell, »das kümmert mich am wenigsten. Es lohnt sich aber wirklich nicht, mit dir ordentlich zu sprechen.«
Dennoch sprach er weiter, oder richtiger, überlegte er laut weiter.
»Aber nehme ich zu wenig Patronen, so wird der Felsen nicht auseinanderfallen, und ich hätte sie umsonst verschwendet. Nehme ich aber genug, so werden uns zu wenig übrigbleiben. Wenn uns aber auf der Reise Patronen fehlen, so droht uns einfach der Tod. Denn womit werde ich auf die Jagd gehen, womit uns bei einem Überfall verteidigen? Du weißt ja selbst gut, daß wir ohne diese Flinte und ohne die Patronen schon längst umgekommen wären, entweder von Gebhrs Hand oder vor Hunger. Und es ist ein wahres Glück, daß wir Pferde haben, denn selbst könnten wir weder die Patronen noch unsere Sachen forttragen.«
Darauf hob Nel ihr Fingerchen hoch und erklärte mit großer Sicherheit:
»Wenn ich es King sage, so wird King alles tragen.«
»Welche Patronen würde er denn tragen, wenn wir fast gar keine übrig behalten?«
»Er wird uns dafür verteidigen.«
»Aber er wird doch nicht aus seinem Rüssel auf wilde Tiere schießen, wie ich aus dem Stutzen.«
»Dann werden wir Feigen und solche große Melonen essen, wie sie auf den Bäumen hier wachsen. Und Kali wird immer Fische fangen.«
»Solange wir am Flusse bleiben, ja. Die Regenzeit müssen wir hier abwarten, denn bei diesen fortwährenden Regengüssen würdest du mit Sicherheit das Fieber bekommen. Bedenke aber, daß wir nachher zur Weiterreise aufbrechen müssen, und daß wir dann auf eine Wüste stoßen können.«
»Auf eine solche wie die Sahara?« fragte Nel mit Entsetzen.
»Nein; aber auf eine solche, in der es weder Flüsse noch Obstbäume gibt, sondern wo nur niedrige Akazien und Mimosen wachsen. Dort kann man nur von dem leben, was man erjagt. King wird für sich dort Gras finden, und ich Antilopen. Wenn ich aber nichts habe, um auf sie zu schießen, so wird King sie nicht fangen.«
Und Staß hatte in der Tat genug Grund, sich zu sorgen, denn jetzt, wo der Elefant sich schon gewöhnt und sich rechtschaffen mit ihnen befreundet hatte, ging es nicht an, ihn im Stiche zu lassen und dem Hungertode preiszugeben. Aber ihn befreien, hieße sich des größten Teiles der Munition entäußern und sich selbst dadurch dem unvermeidlichen Verderben aussetzen.
Daher verschob Staß diese Arbeit von einem Tag auf den anderen, und jeden Abend hoffte er in seinem Innern:
»Vielleicht finde ich morgen irgendein anderes Mittel!«
Indessen kamen zu diesen Sorgen noch andere hinzu. Zuerst wurde Kali am unteren Flußlaufe schrecklich von wilden Bienen zerstochen, zu denen ihn der in Afrika unter dem Namen »Bienenführer« bekannte kleine graugrüne Vogel geführt hatte. Der schwarze Knabe hatte es aus Bequemlichkeit versäumt, sie genügend auszuräuchern; er kam zwar mit Honig heim, war aber so zerstochen und verschwollen, daß er späterhin das Bewußtsein verlor. Der »gute Mzimu« zog ihm bis zum Abend mit Meas Hilfe die Stacheln heraus und legte ihm Erde, die Staß vorher mit Wasser getränkt hatte, auf die Stiche. Gegen Morgen hatte es den Anschein, als wenn der arme Neger sterben müßte. Zum Glück überwanden aber später die Bemühungen und sein kräftiger Organismus die Gefahr, – richtig gesund wurde er jedoch erst nach zehn Tagen.
Der andere Unfall betraf die Pferde. Staß, der die Tiere während Kalis Krankheit fesseln und zur Tränke führen mußte, bemerkte, daß sie schrecklich abzumagern begannen. Diese Erscheinung ließ sich nicht durch Mangel an Futter erklären, denn infolge des Regens war das Gras hoch aufgeschossen, und es gab genügend ausgezeichnete Weiden. Jedoch die Pferde gingen ohne Zweifel ein. Einige Tage später verloren sie ihre Haare, die Augen erloschen, und aus den Nüstern floß ein dicker Schleim. Schließlich hörten sie gänzlich zu fressen auf, dagegen tranken sie so gierig, als wenn sie das Fieber plagte. Als Kali gesund wurde, waren die Pferde nur noch zwei Skelette. Kaum hatte der Neger sie gesehen, so begriff er sogleich, was vorgefallen war.
»Tse-tse,« sagte er, indem er sich zu Staß wandte, »sie müssen sterben.«
Staß begriff es nun auch, denn schon in Port Said hatte er von der afrikanischen Fliege, »Tse-tse« genannt, gehört, die in manchen Gegenden eine so schreckliche Plage ist, daß die Neger da, wo sie sich ständig aufhält, gar kein Vieh mehr halten, und selbst da, wo sie sich infolge vorübergehender günstiger Umstände unerwartet vermehrt, geht das Vieh zugrunde. Pferde, Ochsen oder Esel, die von einer Tse-tse gestochen werden, siechen dahin und sterben innerhalb weniger Tage. Die einheimischen Tiere kennen die Gefahr, die ihnen von der Fliege droht; denn es kommt vor, daß ganze Ochsenherden, wenn sie an der Tränke ihr Summen vernehmen, in wahnsinnige Unruhe geraten und nach allen Richtungen auseinanderstieben.
Kali rieb nun Staß' gestochene Pferde und zur Sicherheit auch den Esel täglich mit einer stark nach Zwiebel duftenden Pflanze ein, die er im Dschungel fand. Er erklärte, daß dieser Geruch die Tse-tse vertreibe, dennoch aber magerten die Pferde trotz dieses vorbeugenden Mittels zusehends ab. Mit Angst dachte Staß daran, was geschehen würde, falls die Tiere stürben. Wie sollten sie dann Nel und alle ihre Sachen weiterschaffen: die Filzdecke, das Zelt, die Patronen und ihr Geschirr? Es war zusammen immerhin so viel, daß nur »King« imstande wäre, alles zu tragen. Aber um »King« zu befreien, mußte man mindestens zwei Drittel der Patronen opfern.
So häuften sich die Sorgen über dem Haupte des Knaben den Wolken gleich, die nicht aufhörten, das Dschungel mit Regen zu tränken. Und schließlich stellte sich das schlimmste Unglück ein, angesichts dessen alles andere bedeutungslos wurde – das Fieber!