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Als die Kinder die Stube betraten, lag der Mahdi auf einer weichen Bank, umringt von Frauen. Zwei von ihnen fächelten ihn mit großen Straußfedern, zwei andere kitzelten ihm die Fußsohlen. Außer den Frauen waren der Kalif Abdullah und der Kalif Scherif anwesend, während der dritte, Ali-uled-Helu Truppen nach dem Norden, und zwar nach Berber und Abu-Hammed, absandte, die beide schon vorher von den Derwischen erobert worden waren. Beim Eintritt der Kinder schob der Prophet die Frauen zur Seite und richtete sich hoch. Idrys, Gebhr und die beiden Beduinen fielen mit dem Gesicht zur Erde, und dann blieben sie auf den Knien mit auf der Brust gekreuzten Händen liegen.
Der Grieche winkte Staß zu, es ebenso zu machen; aber der Knabe, indem er sich stellte, als verstände er nicht, verbeugte sich nur und blieb stehen. Sein Gesicht wurde sehr bleich, aber seine Augen leuchteten stark, und aus seiner ganzen Haltung, dem stolz erhobenen Kopfe, den fest zusammengepreßten Lippen, war leicht zu erkennen, daß in ihm etwas vorgegangen, was ihm seine Unsicherheit und Furcht genommen und zu irgendeinem unbeugsamen Entschluß geführt hatte, von dem ihn nichts abbringen konnte. Auch der Grieche las so etwas aus seinen Zügen, denn eine große Unruhe spiegelte sich auf seinem Gesicht. Der Mahdi warf einen flüchtigen Blick auf beide Kinder, das übliche Lächeln erhellte sein dickes Gesicht, dann wandte er sich zuerst an Idrys und Gebhr.
»Ihr seid aus dem fernen Norden gekommen?« fragte er.
Idrys schlug mit der Stirn auf den Boden.
»Jawohl, o Mahdi! Wir gehören zum Stamme der Dangalen, daher verließen wir unsere Häuser in Fayum, um uns vor deine gesegneten Füße zu werfen.«
»Ich sah euch in der Wüste; es war eine schreckliche Reise, aber ich sandte euch einen Engel, der euch behütete, der euch vor den Armen der Ungläubigen und vor dem Tode schützte. Ihr habt ihn nicht gesehen, aber er wachte über euch.«
»Wir danken dir, unserem Erretter!«
»Und ihr habt diese Kinder dem Smain gebracht, damit er sie gegen seine eigenen austauschen könne, die die Türken samt Fatima in Port Said gefangen halten?«
»Wir wollten dir dienen.«
»Wer mir dient, dient seiner eigenen Erlösung, daher habt ihr euch die Tore zum Paradiese geöffnet. Fatima ist meine Verwandte. – Aber, ich sage euch, wenn ich erst ganz Ägypten unterworfen habe, so werden meine Verwandten und ihre Nachkommen auch ganz gewiß ohnehin ihre Freiheit wiedererlangen.«
»So tue mit diesen Kindern, was du willst, du Gesegneter!«
Der Mahdi schloß die Augen, dann öffnete er sie wieder, lächelte gütig und winkte Staß.
»Komm näher, Knabe!«
Staß machte einige energische Soldatenschritte vorwärts, verbeugte sich ein zweites Mal und stellte sich aufrecht wie eine Säule vor den Mahdi, blickte ihm gerade in die Augen und wartete.
»Seid ihr froh, daß ihr zu mir gekommen seid?« fragte der Mahdi.
»Nein, Prophet. Wir sind entführt worden gegen unseren Willen, unseren Vätern geraubt!«
Diese einfache Antwort machte sowohl auf den an Schmeichelei gewöhnten Herrscher als auch auf die Anwesenden einen sichtbaren Eindruck. Der Kalif Abdullah runzelte die Brauen, der Grieche biß sich auf den Schnurrbart und begann, mit den Fingern zu knacken. Der Mahdi jedoch hörte nicht auf zu lächeln.
»Aber,« fuhr er fort, »dafür seid ihr jetzt an der Quelle der Wahrheit. Willst du aus dieser Quelle trinken?«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Der Mahdi, welcher dachte, daß der Knabe die Frage nicht begriffen hätte, wiederholte sie deutlicher.
»Willst du nicht meine Lehre annehmen?«
Darauf machte Staß' Hand, die er auf der Brust hielt, unauffällig das Zeichen des heiligen Kreuzes, als wenn ihm nichts übrigbliebe, als von einem sinkenden Schiff in die Tiefe der Fluten zu springen.
»Prophet,« sprach er, »ich kenne deine Lehre nicht, wenn ich sie also annehmen würde, täte ich es nur aus Furcht, wie ein Feigling und Bösewicht. Liegt dir daran, daß Feiglinge und Bösewichter sich zu deinem Glauben bekehren?«
Und er schaute beim Sprechen unerschrocken dem Mahdi gerade in die Augen. Totenstille trat ein, so daß man das Summen der Fliegen hörte. Zugleich ereignete sich etwas Außergewöhnliches. Der Mahdi wurde verlegen und fand nicht sogleich eine Antwort. Das Lächeln auf seinem Gesicht war verschwunden und hatte dem Unwillen und der Verlegenheit Raum gemacht. Er streckte den Arm aus und griff zu einem mit Honig und Wasser gefüllten Kürbis und begann zu trinken, aber nur um Zeit zu gewinnen und seine Verlegenheit zu verbergen.
Der mutige Knabe aber, der seinen Vorfahren, den Verteidigern des Christentums und den heldenhaften Siegern von Chotim und Wien alle Ehre machte, stand mit erhobenem Haupte und wartete auf sein Urteil. Auf seinen abgemagerten, vom Wüstenwind gebräunten Wangen flammte eine helle Röte auf, seine Augen blitzten, und ein Schauer der Begeisterung durchzitterte seinen Körper. So, dachte er bei sich, alle anderen haben seine Lehre angenommen, ich aber habe weder meinen Glauben noch mein Herz verleugnet. Und die Furcht vor dem, was nun kommen konnte und mußte, verschwand in diesem Augenblick aus seinem Herzen, das ganz von Freude und Stolz erfüllt war.
Inzwischen hatte der Mahdi den Kürbis wieder hingestellt.
»Also du verwirfst meine Lehre?« fragte er.
»Ich bin ein Christ wie mein Vater.« – – – – –
»Wer die Ohren gegen Gottes Stimme verschließt,« sagte langsam und mit veränderter Stimme der Mahdi, »der ist nicht mehr wert als Holz zum Heizen.«
Der durch seinen Zorn und seine Grausamkeit bekannte Kalif Abdullah fletschte seine weißen Zähne wie ein wildes Tier und rief:
»Frech ist die Rede des Knaben, darum bestrafe ihn, Herr, oder gestatte, daß ich ihn bestrafe.
»Es ist vollbracht!« dachte Staß.
Aber der Mahdi, der wünschte, daß der Ruhm seiner Barmherzigkeit nicht nur unter den Derwischen, sondern auch in der ganzen Welt verbreitet würde, überlegte, daß ein zu hartes Urteil, noch dazu einem so kleinen Knaben gegenüber, diesem Ruhm gewaltig Abbruch tun könnte.
Eine Zeitlang schob er an den Glasperlen des Gebetkranzes und überlegte, dann sagte er:
»Nein, diese Kinder sind für Smain entführt worden, daher müssen sie auch zu Smain gebracht werden, obwohl ich nicht gewillt bin, in irgendwelche Verhandlungen mit den Ungläubigen zu treten. Dies ist mein Wille.«
»Ihm wird entsprochen werden«, antwortete der Kalif.
Dann zeigte der Mahdi auf Idrys, Gebhr und die Beduinen.
»Diese Leute belohne in meinem Auftrage, o Abdullah, denn sie haben eine große und gefährliche Reise gemacht, um Gott und mir zu dienen.«
Durch ein Zeichen des Mahdi wurde dann die Audienz beendigt und dem Griechen befohlen, gleichfalls zu gehen.
Als sie alle wieder in der Dunkelheit auf dem Gebetplatze standen, ergriff er den Knaben bei der Schulter und schüttelte ihn voll Verzweiflung und Zorn.
»Verfluchter, du hast dieses unschuldige Kindchen dem Verderben preisgegeben,« sagte er, indem er auf Nel zeigte, »du hast dich und vielleicht auch mich ins Unglück gestürzt!«
»Ich konnte nicht anders«, entgegnete Staß.
»Du konntest nicht! So wisse, daß ihr zu einer Reise verurteilt seid, die tausendmal schlimmer ist als die erste, sie bedeutet den Tod – verstehst du? In Faschoda wird das Fieber euch in einer Woche hinraffen. Der Mahdi weiß, weshalb er euch zu Smain schickt.«
»In Omdurman würden wir auch sterben.«
»Das ist nicht wahr. Im Hause des Mahdi wäret ihr nicht gestorben, in Wohlhabenheit und Bequemlichkeit. Und er war bereit, euch unter seinen Schutz zu nehmen. Ich weiß es, daß er dazu bereit war. Und auch mir hast du es gut vergolten, daß ich mich für euch verwandt habe. Nun macht, was ihr wollt. In einer Woche schickt Abdullah eine Kamelspost nach Faschoda, und bis dahin macht, was ihr wollt, mich werdet ihr nicht mehr zu sehen bekommen.«
Mit diesen Worten ging er; nach einigen Augenblicken kehrte er aber wieder um. Wie alle Griechen war er schwatzhaft und hatte das Bedürfnis, sich auszusprechen. Er wollte sich die Galle von der Leber reden und auf Staß' Haupt ausgießen. Er war weder grausam, noch hatte er ein schlechtes Herz, aber er wünschte, dem Knaben die ungeheure Verantwortung klarzumachen, die er auf sich genommen, indem er seinen Rat und seine Warnungen nicht beachtet hatte.
»Wer hätte dich gehindert, im Innern Christ zu bleiben?« fuhr er fort. »Glaubst du etwa, ich bin es nicht? Aber ich bin nicht dumm. Du aber wolltest mit deinem falschen Heldentum prahlen! Bis heute habe ich den weißen Gefangenen große Dienste erwiesen, nun aber werde ich ihnen nicht mehr helfen können, denn der Mahdi ist auch auf mich zornig. Alle werden nun umkommen. Und deine kleine Leidensgefährtin sicherlich! Du hast sie getötet! In Faschoda kommen sogar die erwachsenen Europäer durch das Fieber um und fallen wie die Fliegen, wieviel eher denn dieses Kind! Und wenn man euch gar zwingt, zu Fuß neben den Pferden und Kamelen zu gehen, so stirbt es schon am ersten Tage. Und du hast das angerichtet! Freue dich nur, du Christ!«
Und er entfernte sich; sie aber zogen vom Gebetplatz durch dunkle kleine Gassen zu den Laubhütten. Sie hatten lange zu gehen, denn die Stadt dehnte sich weit aus. Nel, erschöpft durch die Anstrengungen, den Hunger, die Furcht und die grausigen Eindrücke dieses ganzen Tages, begann müde zu werden. Idrys und Gebhr aber trieben sie an, schneller zu gehen. Jedoch nach einiger Zeit konnten sie ihre Beine nicht mehr tragen. Staß nahm sie ohne zu überlegen auf den Arm und trug sie. Unterwegs wollte er mit ihr sprechen, sich vor ihr rechtfertigen, daß er nicht anders handeln konnte, aber die Gedanken waren wie erstorben in seinem Kopfe, und er konnte nur immer wiederholen: »Nel, Nel, Nel!« Und dann drückte er sie an sich, weil er nichts mehr sagen konnte. Nach einigen zehn Schritten war Nel in seinem Arm vor Ermattung eingeschlafen. Daher ging er schweigend durch die eingeschlummerten kleinen Straßen, die in tiefer Stille dalagen, die nur durch das Gespräch von Idrys und Gebhr unterbrochen wurde.
Zum Glück für Staß waren die Herzen der beiden Sudanesen voller Freude, denn sonst hätten sie ihn wohl für die verwegenen Antworten, die er dem Mahdi gegeben, gestraft. Jetzt waren sie aber so mit dem beschäftigt, was ihnen begegnet war, daß sie an nichts anderes dachten.
»Ich fühlte mich krank,« sagte Idrys, »aber der Anblick des Propheten hat mich gesund gemacht.«
»Er ist wie eine Palme in der Wüste, wie kühles Wasser am glutenvollen Tage, und seine Worte sind wie reife Datteln«, antwortete Gebhr.
»Nur-el-Tadhil hat gelogen, als er sagte, er werde uns nicht vor sein Antlitz kommen lassen. Er ließ uns kommen, segnete uns und befahl Abdullah, uns zu beschenken.«
»Und er wird uns reich beschenken, denn der Wille des Mahdi ist heilig.«
»Bismillah! Möge es so sein, wie du sagst!« ließ sich einer der Beduinen vernehmen.
Und Gebhr begann von ganzen Herden von Kamelen, Hornvieh und Pferden und von Säcken voller Piaster zu schwärmen.
Aus diesen Träumen weckte ihn Idrys, der auf Staß zeigte, der die schlafende Nel trug, indem er fragte:
»Und was machen wir mit dieser Wespe und dieser Fliege?«
»Ha! Smain muß uns für sie noch eine besondere Belohnung geben!«
»Sobald der Prophet erklärt hat, daß er Unterhandlungen mit den Ungläubigen nicht duldet, wird Smain nichts mehr an den Kindern liegen.«
»Dann bedaure ich, daß sie nicht in die Hände des Kalifen gefallen sind, der diesen jungen Hund gelehrt haben würde, was es heißt, gegen die Wahrheit und den Auserwählten Gottes zu bellen.«
»Der Mahdi ist barmherzig«, antwortete Idrys.
Er sann eine Zeitlang nach und fügte hinzu:
»Ja, die Post Abdullahs mag sie nach Faschoda mitnehmen. Wir sind dann um diese Last erleichtert. Und wenn Smain zurückkehrt, so werden wir ihn auch ans Bezahlen erinnern.«
»So meinst du also, daß wir in Omdurman bleiben sollen?«
»Allah! Hast du nicht genug an der Reise von Fayum bis Chartum? Es ist Zeit jetzt, sich auszuruhen.«
Bis zu den Hütten war es nicht mehr weit, Staß jedoch verlangsamte seine Schritte, denn auch seine Kräfte begannen zu erschlaffen. Obwohl Nel sehr leicht war, so wurde es ihm dennoch immer schwerer, sie zu tragen. Die Sudanesen, die sich schlafen legen wollten, schrien ihn an, daß er sich beeilen solle, schließlich fingen sie an, ihn vorwärts zu treiben, indem sie ihn auf den Kopf schlugen. Gebhr versetzte ihm sogar einen schmerzhaften Messerstich in die Schulter. Als aber einer der Beduinen ihn so stieß, daß er beinahe hingefallen wäre, sagte er durch die zusammengepreßten Zähne:
»Wir sollen lebend nach Faschoda kommen.«
Diese Worte wirkten auf die Araber, denn sie fürchteten sich, die Gebote des Mahdi zu übertreten. Noch mehr aber schützte es Staß wohl, daß Idrys plötzlich von einem solchen Schwindel erfaßt wurde, daß er sich auf Gebhrs Schulter stützen mußte. Nach einer Weile ging der Anfall vorüber, aber der Sudanese war doch sehr erschrocken und sagte:
»Allah! Mir ist nicht gut! Ob mich nicht eine Krankheit befallen hat?«
»Du hast den Mahdi gesehen und wirst daher nicht krank werden«, sagte Gebhr.
Schließlich langten sie bei den Hütten an, Staß übergab die schlafende Nel der alten Dinah, die, obwohl selbst unpäßlich, für ihre kleine Herrin eine ziemlich bequeme Ruhestätte bereitet hatte. Nachdem die Sudanesen und Beduinen einige Streifen getrocknetes Fleisch gegessen hatten, fielen sie wie Klötze auf die Filzdecken.
Staß hatte man nichts zu essen gegeben, die alte Dinah hatte ihm zwar eine Handvoll aufgeweichte Durra, die sie den Kamelen entwendet hatte, gereicht, aber ihm war weder nach Essen, noch nach Schlafen zumute.
Die Last, die auf seinen Schultern lag, war ihm wirklich zu schwer und schien ihn erdrücken zu wollen. Er fühlte wohl, daß er nur seine Pflicht getan, als er die Gnade des Mahdi abwies, für die er mit seinem Glauben und mit seinem Herzen zahlen sollte, und daß der Vater stolz und beglückt über seine Handlung sein würde, aber zugleich dachte er daran, daß er Nel ins Verderben gestürzt hatte, seine Gefährtin im Unglück, sein liebes, kleines Schwesterchen, für das er seinen letzten Blutstropfen hingegeben hätte.
Als daher alle schliefen, brach er in heftiges Weinen aus, und so, auf einem Stückchen Filzdecke liegend, weinte er lange wie ein Kind, das er ja schließlich auch noch war.