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XII.

Das war die längste Etappe, denn sie waren mit einer nur kleinen Unterbrechung volle 18 Stunden geritten. Nur wirklich gute Reitkamele, die einen ordentlichen Vorrat Wasser im Leibe haben, können einen solchen Weg aushalten. Idrys schonte sie nicht, da er tatsächlich die Verfolgung sehr fürchtete. Er wußte wohl, daß eine Expedition schon lange aufgebrochen sein mußte und nahm an, daß sich beide Ingenieure an ihrer Spitze befinden und keine Zeit versäumen würden, um sie einzuholen. Die Gefahr drohte vom Flußufer her, denn es war sicher, daß sofort nach der Entführung der Kinder telegraphische Weisungen an alle Ansiedlungen am Ufer ergangen waren, die den Scheichs befahlen, an beiden Seiten des Nils Expeditionen in das Innere der Wüste auszusenden und alle nach Süden Reisenden anzuhalten. Chamis versicherte, daß die Regierung und die Ingenieure gewiß große Belohnungen für ihre Ergreifung ausgesetzt hätten, und daß es deshalb sicherlich in der Wüste von Spähern und Suchenden wimmelte. Die einzige Rettung wäre, möglichst nach Westen abzuschwenken. Aber im Westen lag die große Oase Kharge, wohin man auch Depeschen gesandt haben konnte. Außerdem entfernte man sich auf diese Weise zu weit vom Flusse, so daß es in wenigen Tagen an Wasser mangeln mußte, und sie vor Durst umkommen konnten.

Auch der Lebensmittel wegen trugen sie ihre Bedenken. Freilich hatten die Beduinen während der zwei Wochen, die der Entführung vorangegangen, in ihnen bekannten Schlupfwinkeln Vorräte an Zwieback, Durra und Datteln versteckt, aber nur in der Entfernung von ungefähr vier Tagereisen von Medinet. Idrys dachte mit Schrecken daran, daß sie durch Mangel an Lebensmitteln gezwungen sein würden, in die Dörfer an den Ufern zum Einkauf von Vorräten Leute zu schicken, die infolge der angeordneten Wachsamkeit und der für die Ergreifung der Flüchtlinge ausgesetzten Belohnungen leicht in die Hände der örtlichen Scheichs fallen und die ganze Karawane verraten konnten. Die Lage war in der Tat schwierig, beinahe verzweifelt, und Idrys sah mit jedem Tage klarer, zu welchem wahnsinnigen Unternehmen er sich hatte hinreißen lassen.

»Wenn wir nur erst an Assuan vorüber wären! Wenn nur Assuan hinter uns läge!« sagte er sich voller Unruhe und Verzweiflung im Innern. Er glaubte der Versicherung Chamis nicht, welcher behauptete, daß die Truppen Mahdis sich schon Assuan näherten; denn Staß widersprach dem, und Idrys hatte schon längst bemerkt, daß der weiße »Oled« mehr als sie alle wußte. Seine ganze Hoffnung war, daß hinter dem ersten Katarakt, wo die Leute noch wilder waren und weniger unter dem Einflusse der Engländer und der ägyptischen Regierung standen, sich mehr heimliche Bekenner des Propheten fänden, die ihnen in diesem Falle Hilfe leisten und Lebensmittel und Kamele liefern würden. Jedoch auch bis Assuan hatten sie nach der Berechnung der Beduinen fünf Tagesreisen zu machen, und bei jeder Rast verringerten sich die Vorräte für Tiere und Menschen zusehends.

Zum Glück waren die Kamele noch nicht erschöpft und hatten von der Hitze nicht gelitten, so daß man sie antreiben und mit größter Geschwindigkeit weiterjagen konnte. Am Tage, besonders um die Mittagszeit, brannte die Sonne freilich sehr stark, aber die Luft war immer frisch und nachts so kühl, daß Staß mit Idrys Erlaubnis auf Nels Kamel hinüberstieg, um für ihre Gesundheit Sorge zu tragen und sie vor Erkältung zu schützen.

Aber seine Besorgnis war unbegründet, da Dinah, deren Augenübel sich bedeutend gebessert hatte, ihre junge Herrin mit großer Sorgfalt behütete. Staß wunderte sich eigentlich darüber, daß die Gesundheit Nels nicht gelitten hatte, und daß sie diese Reise mit ihren immer kürzer werdenden Ruhepausen ebensogut vertrug wie er. Der Kummer, die Furcht und auch die Tränen, die sie aus Sehnsucht nach »ihrem Väterchen« vergoß, schadeten ihr augenscheinlich nicht. Sie war zwar etwas magerer geworden, und ihr zartes Gesichtchen war vom Winde und von der Sonne gebräunt, aber sie ermüdete in den folgenden Reisetagen weit weniger als am Anfang.

Freilich hatte ihr Idrys das am besten zum Reiten geeignete Kamel gegeben und den Sattel so bequem eingerichtet, daß sie liegend darin schlafen konnte, hauptsächlich aber war es die frische Lust der Wüste, welche sie Tag und Nacht einatmete, die ihr die Kraft gab, die Mühen und Entbehrungen zu ertragen.

Staß sorgte nicht nur für Nel rührend, sondern er behandelte sie absichtlich mit einer Hochachtung, die er trotz seiner großen Zuneigung gar nicht für sie empfand; aber er hatte bemerkt, daß dieses Gefühl der Hochachtung auch die Araber beeinflußte, die dadurch die Überzeugung gewannen, etwas ganz besonders Kostbares, eine außergewöhnlich wichtige Gefangene mit sich zu führen, die man möglichst schonend behandeln müßte. Idrys hatte sich schon in Medinet daran gewöhnt, und daher gingen alle mit dem kleinen Mädchen sehr gut um. Man kargte bei ihr nicht mit Wasser und mit Datteln, und selbst der grausame Gebhr hätte jetzt nicht mehr gewagt, sich an ihr zu vergreifen. Vielleicht half auch ihre außerordentliche Schönheit dabei mit, ihr ganzes, kleines Persönchen, das halb einer Blume, halb einem Vögelchen glich, und deren Zauber sich selbst die unentwickelten und wilden Seelen der Araber nicht entziehen konnten. Oft, wenn sie während der Rast vom Feuerschein der brennenden Jerichorosen oder Dornen rosig angehaucht war oder das silberne Licht des Mondes sie umflutete, konnten weder die Beduinen noch die Sudanesen ihre Augen von ihr abwenden, und sie bewunderten sie, ihrer Gewohnheit nach mit der Zunge schnalzend, indem sie flüsterten: »Allah Maszallah« oder »Bismillah!«

Am Mittag des folgenden Tages nach der langen Etappe hatten Staß und Nel, die diesmal zusammen auf einem Kamel ritten, einen Augenblick der freudigsten Überraschung. Gleich nach Sonnenaufgang stieg ein klarer, durchsichtiger Nebel über der Wüste hoch, der sich dann plötzlich wieder senkte. Mit der emporsteigenden Sonne wurde es heißer als an den vorangehenden Tagen. Sobald die Kamele einen Augenblick stillstanden, war auch nicht der geringste Lufthauch zu spüren, als wenn Luft und Sand bei der Wärme, dem Licht und der Ruhe in tiefem Schlafe lägen. Die Karawane durchritt gerade eine weite, einförmige Ebene, die nicht durch Khore unterbrochen wurde, als sich den Augen der Kinder plötzlich ein wundervoller Anblick darbot: Gruppen schlanker Palmen und Pfefferbäume, Mandarinenplantagen, weiße Häuser, eine kleine Moschee mit pfeilartigen Minaretten und niedrigen Mauern, die Gärten einzäunten. Alles das erschien in solcher Klarheit vor ihnen, in so geringer Entfernung, daß man wähnen konnte, daß die Karawane sich im Verlaufe einer halben Stunde mitten unter den Bäumen einer Oase befinden würde.

»Was ist denn das?« rief Staß. »Nel! Nel! sieh nur!«

Nel richtete sich hoch und verstummte vor Staunen; aber dann nach einigen Augenblicken begann sie vor Freude zu rufen:

»Medinet! Zu Väterchen! Zu Väterchen!«

Und Staß wurde sogar ganz bleich vor Erregung.

»Wahrhaftig. – Vielleicht ist es Kharge. – Aber nein, doch Medinet. – Ich erkenne die Minarette und sehe sogar die Windmühlen auf den Brunnen.«

Und in der Tat, in der Ferne erglänzten, weißen Sternen ähnlich, emporgezogene Windmühlen von amerikanischen Brunnen. Von dem grünen Hintergrund der Bäume hoben sie sich so klar ab, daß Staß' scharfes Auge sogar die rotgestrichenen Ränder der Flügel unterscheiden konnte.

»Das ist Medinet!«

Staß wußte aus Büchern und Erzählungen, daß es in der Wüste eine Vision gibt, die sogenannte Fata Morgana, und daß mehr als einmal den Reisenden Oasen erscheinen, Städte, Baumgruppen und Seen, die nichts sind als optische Täuschungen, als ein Spiel des Lichtes, als eine Widerspiegelung wirklicher, in weiter Ferne liegender Landschaften.

Aber diesmal war die Erscheinung so deutlich, fast greifbar, daß niemand daran zweifeln konnte, daß man Medinet in Wirklichkeit vor sich liegen sähe. Da waren die Türmchen auf dem Hause des Mudir, der rings um die Spitze des Minaretts laufende Balkon, von dem aus der Muezzin zum Gebet ruft, die bekannten Baumgruppen und besonders die Windmühlen! – Nein, das mußte Wirklichkeit sein!

Staß überlegte, daß die Sudanesen, nachdem sie die Lage übersehen hatten, sich vielleicht von der Unmöglichkeit ihrer Flucht überzeugt hätten und, ohne ihm etwas zu sagen, nach Fayum zurückgekehrt wären. Aber ihr Gleichmut erweckte seine ersten Zweifel an dieser Annahme. Wenn das wirklich Fayum war, würden sie dann so gleichgültig bleiben? Sie hatten das Bild gerade vor ihren Augen und zeigten es sich, indem sie mit den Fingern darauf wiesen, aber aus ihren Gesichtern war keine Spur von Unruhe oder Besorgnis zu sehen.

Staß blickte wieder auf die Erscheinung, sie erschien ihm jetzt blasser, vielleicht infolge der Gleichgültigkeit der Araber. Es fiel ihm auch ein, daß, wenn sie wirklich zurückkehrten, die Karawane sich zusammenscharen und die Leute sich schon aus Furcht beieinander halten würden. Indes, die Beduinen, die auf Idrys Geheiß seit mehreren Tagen bedeutend vorausreiten mußten, waren gar nicht zu sehen, und auch Chamis, der zur Wache hinterher reiten mußte, war so entfernt, daß er nicht größer aussah als ein fliegender Geier.

»Also doch Fata Morgana!« dachte Staß.

Inzwischen hatte sich Idrys ihm genähert und rief ihm zu:

»He! Treibe das Kamel an! Siehst du Medinet?«

Er machte sich ohne Zweifel nur einen Scherz, denn in seiner Stimme lag so viel Spott, daß in der Seele des Knaben sogleich der letzte Hoffnungsschimmer verschwand, das wirkliche Medinet vor sich zu haben.

Traurigen Herzens wandte er sich zu Nel, um auch ihr die Illusion zu nehmen, als sich plötzlich etwas ereignete, was die Aufmerksamkeit aller nach einer anderen Richtung wandte.

Zuerst erschien einer der Beduinen, der aus Leibeskräften zu ihnen eilte und schon von Ferne mit einer langen arabischen Flinte herumfuchtelte, die keiner aus der Karawane zuvor im Besitz hatte. Als er Idrys erreicht hatte, wechselte er mit ihm einige eilige Worte, nach denen die Karawane schleunigst in das Innere der Wüste einlenkte. Nach einer gewissen Zeit zeigte sich auch der andere Beduine, der hinter sich an einer Leine eine fette Kamelstute herführte, mit einem Sattel auf dem Höcker und Ledersäcken zu beiden Seiten. Auch er hatte mit Idrys eine kurze Unterredung, von der Staß jedoch nichts abfangen konnte. Die Karawane ritt eiligst ohne Unterbrechung nach Westen und hielt erst an, als sie auf einen engen Khor stieß, voll in wilder Unordnung verstreuter Felsen, Spalten und Höhlen. Eine dieser Höhlen war so tief, daß die Sudanesen gut Menschen und Tiere in ihr unterbringen konnten. Staß, der mehr oder minder erriet, was vorgefallen, legte sich an Idrys' Seite nieder und stellte sich schlafend, in der Hoffnung, daß die Araber, die bisher kaum einige Worte über den Vorfall gewechselt hatten, jetzt eine Unterhaltung beginnen würden. Er sah sich auch nicht in seiner Erwartung getäuscht, denn sobald sie den Kamelen ihr Futter hingeschüttet hatten, setzten sich alle zu einer Beratung nieder.

»Von nun an können wir nur noch des Nachts reisen, am Tage müssen wir uns versteckt halten«, sagte der einäugige Beduine. Khore finden wir hier jetzt genug, und in jedem wird es ein sicheres Versteck geben.«

»Seid ihr denn sicher, daß es ein Wächter war?« fragte Idrys.

»Allah! Wir haben mit ihm gesprochen. Ein Glück, daß es nur einer war. Er stand gedeckt von einem Felsen, so daß wir ihn nicht sehen konnten, aber wir hörten aus der Ferne die Stimme seines Kamels. Sofort ritten wir langsam und so leise heran, daß er uns erst bemerkte, als wir nur noch einige Schritte von ihm entfernt waren. Er erschrak sehr und wollte auf uns schießen. Hätte er einen Schuß abgefeuert, selbst wenn er keinen von uns getroffen hätte, so würden die anderen Wächter ihn gehört haben, daher rief ich möglichst schnell: »Halt, wir verfolgen die Räuber, die zwei weiße Kinder entführt haben, und bald werden auch die anderen Verfolger hier sein.« Er war ein junger und dummer Kerl, er glaubte mir daher und befahl nur, auf den Khoran zu schwören, daß es so sei. Wir stiegen von den Kamelen herab und schwuren. Der Mahdi wird uns die Sünde verzeihen.« –

»Und er wird euch segnen«, warf Idrys ein. »Sagt, was habt ihr dann weiter getan?«

»Also –« fuhr der Beduine fort, »als wir geschworen hatten, redete ich zu dem Burschen so weiter: »Wer aber bürgt uns dafür, daß du selbst nicht zu den Räubern gehörst, die mit den weißen Kindern fliehen, und daß sie dich nicht hierher postiert haben, damit du die Verfolgung aufhältst?« Und ich befahl ihm, auch zu schwören. Er ging darauf ein und faßte desto größeres Vertrauen zu uns. Wir fingen nun an, ihn auszufragen, ob von den Scheichs keine Befehle auf den Kupferdrähten eingetroffen seien, und ob in der Wüste eine Verfolgung der Räuber angeordnet sei. Er bejahte beides und erzählte, daß große Belohnungen für die Festnahme ausgesetzt wären, daß alle Khore zwei Tagereisen vom Flußufer entfernt bewacht werden und auf dem Nil ununterbrochen große Baburen (Dampfer) mit Engländern und Truppen umherschwimmen.«

»Weder die Dampfer, noch die Truppen werden gegen Allahs und des Propheten Macht etwas ausrichten können.«

»Mag es so kommen, wie du sagst.«

»Und nun, erzähle, wie ihr mit dem Burschen fertig geworden seid.«

Der einäugige Beduine zeigte auf seinen Kameraden.

»Abu-Anga,« berichtete er, »fragte ihn, ob in der Nähe noch ein Wächter wäre, und als er das verneinte, stieß er ihm so plötzlich das Messer in die Gurgel, daß er keinen einzigen Laut mehr von sich gab. Wir warfen ihn in eine tiefe Felsspalte und deckten ihn mit Steinen und Dornen zu. Die Leute im Dorfe werden annehmen, daß er zum Mahdi geflohen sei, wie, so sagte er selbst zu uns, es ja öfter vorkommt.«

»Möge Gott die segnen, die fliehen, wie er euch gesegnet hat«, antwortete Idrys.

»Ja, er hat uns gesegnet,« sagte Abu-Anga, »denn jetzt wissen wir, daß wir uns drei Tagesmärsche entfernt vom Flusse halten müssen, und außerdem sind wir nun im Besitz einer Flinte gekommen, die uns fehlte, und einer milchenden Kamelstute.«

»Die Ledersäcke sind mit Wasser gefüllt,« fügte der Einäugige hinzu, »die Quersäcke sind voll Hirse, nur Pulver haben wir wenig gefunden.«

»Chamis hat mehrere hundert Ladungen für die Flinte des weißen Knaben, aus der wir doch nicht zu schießen verstehen. Pulver ist Pulver und wird auch für unsere Flinte passen.«

Nach diesen Worten versank Idrys in tiefe Gedanken, und eine schwere Sorge spiegelte sich auf seinem dunklen Gesicht wider, denn er bedachte, daß jetzt, wo ihnen ein Mord zur Last gelegt wurde, selbst das Eintreten Staß' sie nicht mehr vor einer strengen Strafe schützen könnte, falls sie in die Hände der ägyptischen Regierung fielen.

Staß hatte klopfenden Herzens und mit gespanntester Aufmerksamkeit gelauscht. Dieses Gespräch hatte ihm so manches Erfreuliche kundgetan, namentlich, daß eine Verfolgung eingeleitet war, daß Belohnungen ausgesetzt waren, und daß die Scheichs der Uferstämme die Weisung erhalten hatten, jede nach dem Süden ziehende Karawane anzuhalten. Auch die Nachricht, daß die den Strom aufwärts fahrenden Dampfer mit englischen Truppen besetzt waren, erfreute den Knaben. Mahdis Derwische konnten sich wohl mit der ägyptischen Armee messen und sie sogar besiegen, aber mit den Engländern war es eine ganz andere Sache, und Staß zweifelte keinen Augenblick, daß die erste Schlacht mit einer vollständigen Niederlage der wilden Volksstämme enden würde. Daher dachte er mit einer gewissen Beruhigung: »Wenn man uns auch zum Mahdi bringen sollte, so wird es bis dahin weder einen Mahdi noch seine Derwische geben.« Allein der Gedanke, daß ihnen noch immerhin eine volle Reisewoche bevorstand, die Nels Kräfte erschöpfen würde, und daß sie während dieser ganzen Zeit in einer Gesellschaft von Halunken und Mördern leben mußten, betrübte seine Seele wieder. Bei der Erinnerung an den jungen Araber, den die Beduinen abgeschlachtet hatten wie einen Hammel, ergriff Staß Furcht und Mitleid. Er beschloß, Nel nichts davon zu erzählen, um ihr keine Angst einzuflößen und ihre Trübsal nicht zu vergrößern, die sie nach dem Verschwinden des täuschenden Bildes der Oase Fayum und der Stadt Medinet erfaßt hatte. Er hatte gesehen, wie sich bei der Ankunft in der Schlucht ihre Augen wider Willen mit Tränen gefüllt hatten. Als er nun aus dem Bericht der Beduinen alles Wissenswerte gehört hatte, tat er so, als wenn er gerade erwache, und ging zu Nel hinüber.

Die Kleine saß in einer Ecke bei Dinah und aß Datteln, die sie mit ihren Tränen benetzte. Aber als sie Staß erblickte, entsann sie sich, daß er jüngst ihr Betragen würdig dem eines dreizehnjährigen Mädchens gefunden hatte und um sich nicht wieder als ganzes Kind zu zeigen, preßte sie ihre Zähnchen fest auf die Datteln, um ihre Tränen zu hemmen.

»Nel,« sagte der Knabe, »Medinet war eine Täuschung; aber ich weiß nun sicher, daß man uns verfolgt, daher gräme dich nicht und weine nicht.«

Darauf erhob die kleine Nel ihre tränenerfüllten Augen und antwortete mit erstickter Stimme:

»Nein, Staß, ich will nicht weinen – nur – meine Augen schwitzen mir so.«

Aber im gleichen Augenblick begann ihr Kinn zu zittern, an den geschlossenen Lidern liefen große Tropfen herab, und sie brach in jämmerliches Schluchzen aus.

Da sie sich aber ihrer Tränen schämte, vielleicht auch weil sie Schelte fürchtete, so verbarg sie ihr Köpfchen an Staß' Brust.

Er aber begann sie sogleich zu trösten.

»Nel, sei keine Fontäne. Du hast ja gesehen, daß sie einem Araber die Flinte und die Kamelstute abgenommen haben. Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, daß die Wüste voll Wächter ist. Einmal ist es nun diesen Halunken gelungen, einen abzufangen, das andere mal wird er sie selbst ergreifen. Auf dem Nil kreuzen jetzt viele Schiffe. Was also tut's? Wir werden zurückkehren, Nel, wir werden zurückkehren – und noch dazu auf einem Dampfer. – Fürchte dich also nicht.«

Und er hätte sie noch länger in dieser Weise getröstet, wenn er nicht einen eigentümlichen Ton vernommen hätte, der von dem Flugsande, den der letzte Sturm auf dem Grund der Schlucht angehäuft hatte, herkam. Es war ein feines, metallisches Klingen wie aus einer Rohrpfeife. Staß brach die Unterhaltung ab und begann zu lauschen. Nach einiger Zeit ließen sich viele so feine und wehmütige Stimmen von allen Seiten auf einmal vernehmen. Der Gedanke, daß die Schlucht vielleicht von arabischen Wachen umringt wäre, die durch Pfeifen einander Zeichen gäben, durchfuhr den Knaben. Sein Herz begann unruhig zu schlagen. Er blickte wieder und wieder auf die Sudanesen, in der Hoffnung, auf ihren Gesichtern irgendwelchen Schein von Unruhe zu sehen, aber nein! – Idrys, Gebhr und die beiden Beduinen knabberten ruhig ihren Zwieback weiter, nur Chamis schien ein wenig erstaunt zu sein. Die Stimmen ließen sich weiter hören. Dann stand Idrys auf und sah zur Höhle hinaus, als er zurückkehrte, blieb er bei den Kindern stehen und sagte:

»Der Sand singt.«

Staß' Interesse war so groß, daß er in diesem Augenblick seinen Entschluß, mit Idrys nicht zu sprechen, ganz vergaß.

»Der Sand? Was bedeutet denn das?« fragte er.

»Das kommt vor und bedeutet, daß es lange Zeit keinen Regen geben wird. Aber die Hitze wird uns nicht lästig fallen, denn wir werden bis Assuan fast nur noch in der Nacht reiten.«

Mehr konnte man von ihm nicht herauskriegen.

Staß und Nel lauschten lange diesen seltsamen Klängen, die so lange anhielten, bis die Sonne sich nach Westen neigte. Dann wurde es Nacht, und die Karawane brach zur weiteren Reise auf.


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