Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die großen Ereignisse des vorhergehenden Tages und die Eindrücke der Nacht hatten Staß und Nel so ermattet, daß, als die Müdigkeit sie schließlich übermannte, sie in einen bleiernen Schlaf fielen, aus dem das kleine Mädchen erst gegen Mittag erwachte. Staß hatte sich etwas vorher von der Filzdecke erhoben, die er dicht beim Feuer ausgebreitet hatte. Da er seine kleine Gefährtin erwartete, befahl er Kali, das Frühstück zu bereiten, das der späten Stunde wegen gleichzeitig als Mittagessen dienen sollte.
Die Schrecknisse der Nacht verblaßten am hellen Tageslichte. Beide Kinder waren nicht nur gut ausgeschlafen, sondern auch mutiger. Nel sah besser aus und fühlte sich gekräftigt. Da beide sich möglichst weit von der Stätte, wo die erschossenen Sudanesen lagen, zu entfernen wünschten, so bestiegen sie gleich nach dem Mahle die Pferde und ritten die Schlucht weiter entlang.
Um diese Tageszeit pflegen die Afrikareisenden Mittagsrast zu halten, und selbst Negerkarawanen suchen im Schatten großer Bäume Schutz; denn es sind die sogenannten »weißen Stunden«, Stunden der Glut und des Schweigens, während deren die Sonne erbarmungslos brennt und von hoch oben Ausschau zu halten scheint, wen sie mit ihrer Glut töten könne. Jedes Tier versteckt sich dann möglichst tief im Dickicht, der Gesang der Vögel verstummt, das Summen der Insekten hört auf, und die ganze Natur versinkt in Schweigen; sie hält den Atem an, wie um sich dem Blicke der zornigen Gottheit zu entziehen.
Da sie aber in dem Hohlweg entlang ritten, dessen eine Wand einen tiefen Schatten warf, so konnten sie weiterreisen, ohne sich der Glut auszusetzen. Staß hatte beschlossen, den Hohlweg nicht zu verlassen, einerseits, weil sie auf der Höhe schon von fern von den Abteilungen Smains bemerkt werden konnten, andererseits, weil es leichter war, in den Felsenspalten Wasser zu finden, das an den freien Stellen schnell in den Erdboden einsickert oder unter den Sonnenstrahlen verdampft.
Der Weg stieg immer ganz allmählich an. An den Felswänden waren stellenweise gelbe Schwefelnester zu sehen. Auch das Wasser in den Felsspalten war von dem Schwefelgeruch durchdrungen und erinnerte die Kinder in unliebsamer Weise an Omdurman und die Mahdisten, die ihre Köpfe mit einer fettigen mit Schwefel vermischten Masse einrieben. An anderen Stellen nahm man dagegen den Geruch von Bisamkatzen wahr, und da, wo Kaskaden von Lianen malerisch an den Abhängen herunterfielen, verbreitete sich ein berauschender Vanillegeruch. Die kleinen Wanderer machten gern Rast im Schatten dieser mit lila und purpurroten Blumen bestickten Vorhänge, deren Blüten und Blätter den Pferden als Nahrung dienten.
Tiere waren nicht zu sehen. Hin und wieder zeigten sich an den Felsabhängen Affen, die auf dem Hintergrund des Himmels jenen phantastischen heidnischen Götzen ähnelten, mit denen man in Indien die Wände der Tempel schmückt. Große mit Mähnen versehene Affen wiesen Sabà die Zähne oder streckten ihre Schnauzen röhrenartig nach vorn zum Zeichen der Verwunderung und des Zornes, dabei sprangen sie herum, blinzelten mit den Augen und juckten sich an den Seiten. Sabà aber, der schon an ihren Anblick gewöhnt war, achtete nicht auf ihre Drohungen.
Sie ritten sehr schnell. Die Freude über die wiedererlangte Freiheit wälzte jenen Alp von Staß' Brust, der ihn in der Nacht bedrückt hatte. Sein Kopf war ganz mit den Gedanken erfüllt, was nun weiter zu tun wäre, wie er Nel und sich aus dieser Gegend hinausführen könnte, in der ihnen mit Sicherheit eine neue Gefangenschaft bei den Derwischen drohte, wie er diese lange Reise durch die Wildnis vollführen sollte, um nicht vor Hunger und Durst zu sterben, und endlich, wohin er sich wenden müßte. Er wußte bereits von Hatim, daß man von Faschoda bis zur abessinischen Grenze in gerader Richtung nicht mehr als fünf Reisetage brauchte, und er rechnete sich aus, daß es ungefähr hundert englische Meilen sein müßten. Seit ihrer Abreise aus Faschoda waren nun bald zwei Wochen verflossen, es war also klar, daß sie nicht den kürzesten Weg eingeschlagen hatten, sondern auf der Suche nach Smain bedeutend nach Süden gezogen waren. Er entsann sich, daß sie am sechsten Reisetage einen Fluß überschritten hatten, der nicht der Nil war, und daß sie dann an Sümpfen entlang geritten waren, bis zu der Stelle, wo der Weg anstieg. In Port Said hatte er auf der Schule die Geographie Afrikas sehr ausführlich durchgenommen, und der Name Ballor war ihm im Gedächtnis haften geblieben; er bezeichnete die ausgetretenen Wasser des wenig bekannten Flusses Sobat, der in den Nil fließt. Es stand zwar nicht fest, ob es die Wasser gerade dieses Flusses waren, aber Staß nahm an, daß es so wäre. Er bedachte, daß Smain in der Absicht, möglichst viel Sklaven zu fangen, nicht direkt westlich von Faschoda ziehen konnte, da diese Gegenden bereits durch die Derwische und die Pocken völlig entvölkert waren; er würde wahrscheinlich nach dem Süden gegangen sein, der bisher noch nicht von Kriegszügen verwüstet war. Staß schloß daraus, daß er sich auf Smains Spuren befände, ein Gedanke, der ihn zuerst mit Schrecken erfüllte. Er erwog nun, ob es nicht dennoch ratsamer wäre, den Hohlweg zu verlassen, der immer mehr nach Süden abbog, und sich geradeswegs nach Westen zu wenden. Aber nach längerer Überlegung nahm er doch von diesem Plane Abstand. Es schien ihm am sichersten, der Spur Smains in einer Entfernung von zwei bis drei Tagen zu folgen. Denn es war höchst unwahrscheinlich, daß Smain auf dem Rückwege mit seiner Menschenware denselben Umweg machen würde, anstatt direkt zum Nil abzuschwenken. Staß begriff auch, daß man nur von Süden her nach Abessinien gelangen konnte, von der Seite, wo es an die Wildnis grenzt, und nicht von Osten her, da die Grenze dort von den Derwischen scharf bewacht wurde.
Alle diese Gründe bewogen ihn, sich möglichst nach Süden zu begeben. Man konnte dort freilich auf Neger treffen, die entweder von den Ufern des Weißen Nils geflohen oder auch dort ansässig waren. Aber von zwei Übeln zog er das Zusammentreffen mit Negern dem mit den Mahdisten vor. Er rechnete auch darauf, daß ihm bei einer Begegnung mit Negern Mea oder Kali behilflich sein konnte. Man brauchte die junge Negerin nur anzusehen, um zu erraten, daß sie zu dem Stamme der Dinka oder Schilluk gehörte. Sie hatte ausnehmend lange und dünne Beine, die jene beiden Stämme kennzeichnen, die am Nilufer wohnen und, den Kranichen und Störchen gleich, in seinen ausgetretenen Wassern umherwandern. Kali dagegen hatte, obwohl er unter Gebhrs Hand fast zu einem Skelett abgemagert war, einen ganz anderen Körperbau. Er war stämmig und kräftig, hatte breite Schultern, aber im Vergleich zu Mea verhältnismäßig kleine Füße.
Da Kali fast gar nicht arabisch sprach und auch die Ki-swahili-Sprache nur schlecht beherrschte, mit der man sich in fast ganz Afrika verständigen kann, und die Staß einigermaßen von den an dem Kanal arbeitenden Sansibaren erlernt hatte, war es also klar, daß er aus irgendeiner fernen Gegend stammen mußte.
Staß beschloß, ihn danach auszufragen.
»Kali, wie heißt denn dein Volk?« fragte er.
»Wa-hima«, antwortete der junge Neger.
»Ist es ein großes Volk?«
»Ein großes, das mit den bösen Samburu Krieg führt und ihnen das Vieh wegnimmt.«
»Und wo liegt denn dein Dorf?«
»Weit, weit! – Kali weiß nicht wo.«
»In einer Gegend, die dieser gleicht?«
»Nein, dort gibt es ein großes Wasser und Berge.«
»Wie heißt jenes Wasser?«
»Wir nennen es ›dunkles Wasser‹.«
Staß dachte, daß der Knabe aus der Gegend des Albert-Niansa stammte, die bis dahin in den Händen Emin Paschas war. Um dies festzustellen, fragte er weiter:
»Wohnt da nicht ein weißer Befehlshaber, der schwarze, rauchende Boote und Truppen besitzt?«
»Nein, die alten Leute bei uns erzählen, daß sie weiße Menschen gesehen haben.« Bei diesen Worten spreizte Kali die Finger auseinander, »eins, zwei, drei! Ja, es waren drei, in langen, weißen Kleidern. Sie suchten nach Elefantenzähnen. Kali hat sie nicht gesehen, weil er noch nicht geboren war, aber Kalis Vater empfangen sie und geben ihnen viele Elefantenzähne.«
»Was ist dein Vater?«
»Der König der Wa-hima.«
Staß schmeichelte es ein wenig, daß er einen Prinzen zum Diener hatte.
»Möchtest du deinen Vater sehen?«
»Und was würdest du tun, wenn wir die Wa-hima treffen, und was würden sie tun?«
»Wa-hima vor Kali auf Gesicht fallen.«
»Dann führe uns zu ihnen, du wirst dann bei ihnen bleiben und nach deinem Vater regieren. Wir aber werden weiterreisen bis ans Meer.«
»Kali wird nicht hinfinden und will nicht dableiben, weil Kali den großen Herrn und die Tochter des Mondes liebt.«
Staß wandte sich hier fröhlich zu seiner Gefährtin um und sagte:
»Nel, du bist die Tochter des Mondes geworden!«
Aber als er sie ansah, wurde er plötzlich betrübt, denn es fuhr ihm durch den Sinn, daß das abgehärmte, kleine Mädchen mit seinem bleichen, durchsichtigen Gesichtchen wirklich mehr einem Monde als einem irdischen Wesen glich.
Der junge Neger schwieg eine Zeitlang, dann wiederholte er:
»Kali liebt Bwana Kubwa, weil Bwana Kubwa Kali nicht töten, nur Gebhr töten, und Kali viel essen geben.«
Er begann seinen Magen zu streicheln und vor Vergnügen zu wiederholen:
»Viel Fleisch! Viel Fleisch!«
Staß wollte noch erforschen, auf welche Weise der Knabe in die Gefangenschaft der Derwische geraten war, aber es erwies sich, daß, nachdem er in einer gewissen Nacht an den für Zebras gegrabenen Gruben gefangen wurde, er durch so viele Hände gegangen war, daß man aus seiner Erzählung nicht folgern konnte, durch welche Gegenden und Wege er bis nach Faschoda gebracht worden war. Es fiel Staß nur auf, daß er von dem ›dunklen Wasser‹ gesprochen hatte. Wäre er aus den Gegenden des Albert-Niansa, des Albert-Edward-Niansa oder des Viktoria-Niansa, an denen die Staaten Unyoro und Uganda liegen, so hätte er unzweifelhaft etwas von Emin Pascha, seinen Truppen und seinen Dampfern gehört, die die Bewunderung und Furcht der Neger hervorgerufen hatten. Der Tanganjika war zu weit entfernt, und so blieb nur noch die Annahme, daß Kalis Volk seinen Wohnsitz irgendwo näher hatte. Deshalb war eine Begegnung mit Wa-himas gar nicht so unwahrscheinlich.
Nach einigen Stunden begann die Sonne sich zu neigen. Die Hitze ließ bedeutend nach. Sie kamen in ein breites Tal, in dem sie Wasser und viele Feigen Ficus sycomorus. fanden, daher hielten sie an, um den Pferden Ruhe zu gönnen und sich mit den Vorräten zu stärken. Da die Felswände an dieser Stelle niedriger waren, befahl Staß Kali, nach oben zu steigen und nachzusehen, ob nicht irgendwo in der Umgegend Rauch zu sehen wäre.
Kali führte diesen Befehl aus, indem er sich im Nu auf den Felsenrand schwang. Nachdem er sich sorgfältig nach allen Seiten umgesehen hatte, ließ er sich an einer dicken Lianenranke herunter und meldete, daß kein Rauch da wäre, aber »Niama«. Es war leicht zu erraten, daß er nicht von Wildvögeln sprach, sondern von einem größeren Tiere; denn indem er auf Staß' Flinte zeigte, legte er seine Finger an den Kopf zum Zeichen, daß es ein Hornvieh sei.
Staß kletterte nach oben, und indem er vorsichtig den Kopf über den Felsrand streckte, begann er sich umzusehen. Nichts verhinderte den Ausblick in der Ferne, denn das hohe Dschungel, das vorher hier gestanden, war ganz abgebrannt, und das neue, das sich schon von dem schwarzen, versengten Boden abhob, war erst einige Zoll hoch. So weit das Auge blickte, waren nur wenige Bäume zu sehen, deren Stämme vom Feuer angesengt waren. Im Schatten eines dieser Bäume weidete eine kleine Herde Antilopengnus, deren Körper den Pferden und deren Köpfe den Büffeln ähneln. Die Sonne, die durch die Blätter der Baobabe drang, malte zitternde, helle Flecke auf ihre brünetten Rücken. Es waren ihrer neun, und sie standen in einer Entfernung von nicht mehr als hundert Schritt. Da der Wind aber von den Tieren zum Hohlweg wehte, so weideten sie ruhig, ohne die Gefahr zu ahnen.
Da Staß die Karawane mit Fleisch versehen wollte, schoß er auf das am nächsten stehende Tier, das wie vom Blitz getroffen zu Boden stürzte, der Rest der Herde zerstreute sich, mit ihm auch ein großer Büffel, der vorher nicht zu sehen gewesen war, da er hinter einem Stein versteckt gelegen hatte. Nicht mehr aus Not, sondern aus Lust an der Jagd schickte Staß dem Büffel, als er sich zur Seite wandte, eine Kugel nach. Das Tier fing nach dem Schuß an zu schwanken, zog sein Hinterteil ein und rannte weiter; bevor Staß die Patronen wechseln konnte, war er in den Unebenheiten des Bodens verschwunden.
Kaum hatte sich der Rauch verzogen, als Kali auch schon dabei war, der Antilope mit Gebhrs Messer den Bauch aufzuschneiden. Staß näherte sich ihm, um sich das Tier in der Nähe anzusehen, als der junge Neger ihm zu seiner Verwunderung mit blutigen Händen die rauchende Leber der Antilope anbot.
»Wozu gibst du sie mir?« fragte er.
»Msuri, msuri! Bwana kubwa gleich essen!«
»Iß sie doch selbst!« entgegnete Staß, empört über dieses Anerbieten.
Kali ließ sich das nicht zweimal sagen. Er begann sofort die Leber mit den Zähnen zu zerreißen und große Stücke zu verschlucken. Als er aber sah, daß Staß ihn mit Abscheu ansah, wiederholte er unaufhörlich zwischen jedem Bissen: »Msuri! Msuri!«
Auf diese Weise aß er die Hälfte der Leber auf, dann ging er, um die Antilope auszuweiden. Er machte das außerordentlich schnell und geschickt, so daß er auch bald das Fell abgezogen und die Keule vom Rumpf abgetrennt hatte. Dann pfiff Staß nach Sabà, der sich sonderbarerweise nicht bei dieser Arbeit eingefunden hatte, um ihn zum trefflichen Mahle der Vorderteile des Tieres einzuladen.
Aber Sabà erschien nicht, dagegen erhob der über der Antilope gebückte Kali den Kopf und sagte:
»Der große Hund hinter dem Büffel rennen.«
»Hast du es gesehen?« fragte Staß.
»Kali sehen!«
Nachdem er das gesagt hatte, legte er das Filet der Antilope auf seinen Kopf, nahm die Keulen über die Schultern und ging in den Hohlweg. Staß pfiff noch einige Male und wartete, aber als er sah, daß es vergebens war, folgte er Kali. In der Schlucht war Mea schon mit dem Abhauen von Dornen für die Zeriba beschäftigt. Nel aber, die den letzten Wildvogel mit ihren kleinen Fingerchen rupfte, fragte:
»Hast du nach Sabà gepfiffen? Er ist euch nachgerannt.«
»Er ist dem Büffel nachgelaufen, den ich angeschossen habe, und ich beunruhige mich recht um ihn«, antwortete Staß. »Denn die Büffel sind mächtig wilde Tiere und so stark, daß selbst ein Löwe nicht wagt, sie anzufallen. Es kann Sabà schlimm ergehen, wenn er sich in einen Kampf mit einem solchen Gegner einläßt.«
Als Nel das hörte, wurde sie sehr unruhig und erklärte, nicht schlafen zu gehen, bis Sabà wieder zurückkommt. Staß, der ihren Kummer sah, wurde nun sehr böse auf sich selbst, daß er ihr die Gefahr nicht verheimlicht hatte, und begann sie zu trösten:
»Ich würde ihnen mit der Flinte nachgehen,« sagte er, »aber sie müssen schon sehr weit sein, und da es bald Nacht wird, kann man die Spuren nicht mehr erkennen. Der Büffel hat einen ordentlichen Schuß weg, und ich hoffe daher, daß er bald verendet ist. Auf alle Fälle muß ihn der Blutverlust geschwächt haben, und selbst, wenn er sich auf Sabà stürzt, so wird er doch ausreißen können. Ja! Er wird zwar erst in der Nacht zurückkehren, aber er kommt ganz sicher wieder.«
Aber er glaubte selbst nicht sehr an seine eigenen Worte, denn er entsann sich, von der unerhörten Rachsucht der afrikanischen Büffel gelesen zu haben, die sogar schwer verwundet umherlaufen, den Jäger an irgendeinem Fußsteg auflauern, ihn angreifen, ihn unerwartet mit ihren Hörnern aufspießen und in die Luft schleudern. Sabà konnte es leicht ebenso geschehen, abgesehen von den anderen Gefahren, die ihm auf dem Rückwege in der Nacht drohten.
Bald brach die Nacht herein. Kali und Mea hatten die Zeriba errichtet, sie zündeten dann ein Feuer an und bereiteten das Abendessen. Sabà kam nicht wieder.
Nel beunruhigte sich immer mehr und begann schließlich zu weinen.
Es war keine Kleinigkeit für Staß, sie dazu zu bewegen, sich zur Ruhe zu legen, und sie tat es erst, als er ihr versprach, auf Sabà zu warten und bei Tagesanbruch sich selbst aufzumachen und ihn zu suchen. Nel ging nun zwar in das Zelt, aber sie steckte alle Augenblicke ihr Köpfchen heraus und fragte, ob der Hund noch nicht da wäre. Erst gegen Mitternacht übermannte sie der Schlaf, als Mea herauskam, um Kali, der das Feuer bewachte, abzulösen.
»Warum weinte die Tochter des Mondes?« fragte der junge Neger Staß, als sich beide auf die Schabracken schlafen legten. »Kali will das nicht.«
»Sie weinte um Sabà, den der Büffel sicherlich getötet hat.«
»Vielleicht hat er nicht getötet«, antwortete der schwarze Junge.
Dann schwiegen sie, und Staß schlief fest ein. Es war aber noch dunkel, als er der Kälte wegen erwachte. Das Feuer war erloschen, denn Mea, die es bewachen sollte, war eingeschlummert und hatte aufgehört, Reisig auf die glühende Holzkohle zu werfen.
Die Filzdecke, auf der Kali geschlafen, war leer.
Staß warf selbst Holz auf den Feuerherd, dann stieß er die Negerin an und fragte: »Wo ist Kali?«
Sie schaute ihn erst eine Zeitlang verständnislos an, dann, als sie sich recht ermuntert hatte, sagte sie:
»Kali hat Gebhrs Schwert genommen und ist aus der Zeriba hinausgegangen. Ich meinte, er wollte mehr Reisig holen, aber er ist nicht wiedergekommen.«
»Ist er schon lange fort?«
»Schon lange.«
Staß wartete geraume Zeit, als der Neger noch immer nicht zu sehen war, kam ihm unwillkürlich der Gedanke, »ob er entflohen ist?«
Und sein Herz krampfte sich zusammen in dem unangenehmen Empfinden, das menschliche Undankbarkeit immer erweckt. War er doch für diesen Kali eingetreten, er hatte ihn geschützt, als Gebhr ihn damals tagelang folterte, und er hatte ihm das Leben gerettet. Nel war stets gut zu ihm gewesen, und sie hatte Tränen über sein Mißgeschick vergossen; sie beide hatten ihn so gut als möglich behandelt. Und er ist dennoch entflohen! Hatte er nicht selbst gesagt, daß er nicht wisse, wo die Dörfer der Wa-hima liegen, und daß er den Weg zu ihnen nicht finden könne? Und er ist doch entflohen! Staß erinnerte sich wieder der afrikanischen Reisebeschreibungen, die er in Port Said gelesen hatte, und der Reisenden, die von der Dummheit der Neger erzählten, die oft die Patronen wegwerfen und fliehen, selbst wenn die Flucht ihnen den sicheren Tod bringt. Sicherlich mußte auch Kali, der als einzige Waffe das sudanesische Schwert Gebhrs mit sich hatte, vor Hunger sterben, oder, wenn er nicht schon vorher von neuem in die Gefangenschaft der Derwische geriet, das Opfer wilder Tiere werden.
»Ach, du Undankbarer! Du Dummkopf!«
Staß begann, darüber nachzudenken, um wieviel schwieriger und mühseliger die Reise für sie ohne Kali sein würde, und wieviel mehr Arbeit es nun gäbe. Die Pferde tränken und zur Nacht fesseln, das Zelt aufschlagen, die Zeriba bauen, unterwegs darauf achten, daß die Vorräte und das Gepäck nicht verloren gingen, die erlegten Tiere abziehen und zerteilen – dies alles würde fortan seine Arbeit sein; und er mußte sich eingestehen, daß er von einigen dieser Arbeiten, wie z. B. vom Abziehen des Felles der toten Tiere, nicht die geringste Ahnung hatte.
»Hu, es wird schwer sein,« sagte er zu sich, »aber was tut's, man muß!«
Inzwischen war die Sonne am Horizont emporgestiegen, und es war plötzlich Tag geworden. Ein wenig später begann das Waschwasser, das Mea am Abend vorher für Nel in das Zelt gebracht hatte, zu plätschern, und Staß verstand, daß Nel aufgestanden war und sich ankleidete. Bald erschien sie schon angezogen, aber mit dem Kamm in der Hand und noch aufgelöstem Haar.
»Und Sabà?« fragte sie.
»Bis jetzt ist er noch nicht da.«
Die Lippen des kleinen Mädchens begannen gleich zu zittern.
»Vielleicht kehrt er noch zurück«, sagte Staß. »Bedenke doch, daß er in der Wüste oft zwei Tage ausblieb und uns doch immer wieder einholte.«
»Du sagtest, daß du gehen wolltest, ihn zu suchen.«
»Ich kann nicht.«
»Warum nicht, Staßchen?«
»Ich kann dich nicht allein mit Mea in der Schlucht lassen.«
»Und Kali?«
»Kali ist nicht da.«
Staß schwieg, er wußte nicht recht, ob er ihr die ganze Wahrheit sagen sollte; da sie sich aber doch nicht verheimlichen ließ, so hielt er es für ratsam, ihr alles gleich zu eröffnen.
»Kali hat Gebhrs Schwert genommen und ist in der Nacht weggegangen, wer weiß, wohin. Vielleicht ist er entflohen. Die Neger tun so etwas oft, auch wenn sie in ihr eigenes Verderben rennen. – Aber vielleicht begreift Kali doch, daß er eine Dummheit begangen hat und – –«
Die weiteren Worte unterbrach das fröhliche Gebell Sabàs, das den ganzen Hohlweg erfüllte. Nel warf den Kamm zur Erde und wollte ihm entgegenlaufen, aber die Dornen der Zeriba hinderten sie daran.
Staß beeilte sich, um eine Öffnung in der Hecke zu machen, aber bevor er noch damit fertig war, erschien Sabà und hinter ihm Kali, so glänzend und naß vom Tau, als wenn er im größten Regen gewesen wäre.
Eine unsagbare Freude erfaßte beide Kinder. Und als Kali, der vor Erschöpfung ganz außer Atem war, hinter der Zeriba stand, schlang Nel ihre beiden Ärmchen um seinen schwarzen Hals und drückte ihn aus allen Kräften.
Kali aber sagte:
»Kali will ›Bibi‹ nicht weinen sehen, daher Kali Hund finden.«
»Guter Kali«, entgegnete Staß, indem er ihm auf die Schulter klopfte. »Aber hast du dich denn nicht gefürchtet, in der Nacht einem Löwen oder Panther zu begegnen?«
»Kali wohl fürchten, aber Kali doch gehen«, erwiderte der Knabe.
Diese Worte eroberten ihm noch mehr die Herzen der Kinder. Staß holte auf Nels Bitten aus einer Schachtel eine Schnur Glasperlen hervor, die ihnen der Grieche Kaliopuli in Omdurman geschenkt hatte, und schmückte mit ihr Kalis Hals. Der Neger war von dem Geschenk so entzückt, daß er mit einem Blick auf Mea voller Stolz sagte:
»Mea nicht haben Glasperlen, und Kali haben. Weil Kali die ›große Welt‹ ist.«
Auf diese Weise wurde die Aufopferung des jungen Negers belohnt. Sabà wurde dagegen tüchtig der Kopf gewaschen, und er mußte zum zweitenmal seit seinem Dienst bei Nel hören, daß er »ein ganz garstiger Hund« wäre, und daß er an die Leine käme, wie ein ganz kleines Hündchen, wenn er noch einmal etwas Derartiges täte. Er hörte das, etwas unsicher mit dem Schwanz wedelnd, an, Nel aber erklärte, daß sie es ihm an den Augen ansähe, daß er sich schäme und daß er sicherlich rot geworden sei, man könne es nur nicht sehen wegen seines behaarten Gesichtes.
Darauf begannen sie ihren Morgenimbiß einzunehmen, der aus dem Filet des Gnus und vorzüglichen wilden Feigen bestand. Während des Essens erzählte Kali seine Abenteuer. Staß übersetzte alles der kleinen Nel, die die Ki-swahili-Sprache nicht verstand. Der Büffel war in der Tat weit weggelaufen, und Kali hatte nur sehr mühsam seine Spur verfolgen können, da es eine finstere Nacht gewesen war. Zum Glück war der Boden weich, da es zwei Tage zuvor geregnet hatte. Infolgedessen hatten die Hufe des schweren Tieres Vertiefungen hinterlassen, die Kali mit seinen Zehen aufsuchte und verfolgte. Schließlich war der Büffel von selbst verendet, denn es waren keine Spuren eines Kampfes zwischen ihm und Sabà zu sehen. Als Kali den Hund fand, hatte er schon den größten Teil des Vorderblattes des Büffels aufgefressen, doch, trotzdem er selbst nicht mehr fressen konnte, gestattete er nicht, daß zwei Hyänen und ungefähr zehn Schakale, die wartend umherschlichen, sich dem toten Tiere näherten. Und nur mit Gewalt, und indem er ihm mit dem Zorn des »großen Herrn und der Bibi« bedrohte, hatte sich der Hund knurrend in den Hohlweg zurückführen lassen.
Nach dieser Erzählung bestiegen alle ihre Pferde und ritten in guter Stimmung weiter. Nur die langbeinige Mea betrachtete mit stillem Neid den Halsschmuck des jungen Negers und das Halsband Sabàs. Und mit betrübter Seele dachte sie:
»Sie beide sind die ›große Welt‹, und ich habe nur einen Messingring am Fuß.«