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Während der folgenden Tage unternahm man keinen Ausflug. Und sobald am Heiligen Abend der erste Stern am Himmel erschien, erglänzte in Rawlisons Zelt mit Hunderten von Kerzen ein Weihnachtsbaum für Nel. Anstatt der Tanne hatte man aus einem Garten von Medinet einen Lebensbaum herausgeschnitten. In den Zweigen des Baumes hingen eine Menge Näschereien und eine hübsche Puppe für Nel, die der Vater für sie aus Kairo hatte kommen lassen. Staß erhielt den lange erwarteten englischen Stutzen. Außerdem beschenkte ihn sein Vater mit Patronen, allerlei Jagdgeräten und mit einem Reitsattel. Nel war außer sich vor Freude, und auch Staß, obwohl er der Meinung war, daß der Besitzer eines englischen Stutzens auch einen gewissen Ernst bewahren müsse, konnte sich nicht enthalten, in einem unbeobachteten Augenblick das Zelt, vor Freude auf den Händen laufend, zu umkreisen, eine Kunst, die in seiner Schule in Port Said als Sport betrieben wurde, und in der er zu Nels Freude und aufrichtigem Neid Meister war.
Den Heiligen Abend und die Weihnachtsfeiertage verbrachten die Kinder mit Beten, und indem sie sich mit ihren Geschenken beschäftigten. Die meiste Zeit widmeten sie der Erziehung Sabàs. Der neue Freund begriff über alles Erwarten schnell. Schon am ersten Tage konnte er die Tatze geben und Taschentücher zur Nase führen, die er nicht ohne Widerstand wieder zurückgab. Auch hatte er verstehen gelernt, daß es sich nicht für einen Hund-Gentleman schicke, das Gesicht der Herrin mit der Zunge abzulecken. Nel erteilte ihm diese Lektionen alle sehr ernst und mit erhobenem Finger, während Sabà durch Schwanzwedeln zu verstehen gab, daß er aufmerksam zuhöre und sich alles sehr zu Herzen nehme. Auf den Spaziergängen wurde Sabà zur Berühmtheit von Medinet, was mit jeder Stunde zunahm, und wie jede Art von Berühmtheit auch seine unangenehmen Seiten hatte, da er die arabischen Kinder in Scharen herbeilockte.
Zuerst hielten sie sich noch in gewisser Entfernung von dem Ungeheuer; dann aber, als sie sich von seiner Sanftmut überzeugt hatten, wurden sie immer zutraulicher und dreister, so daß sich schließlich so viele kleine Bewunderer im Zelte einfanden, daß selbst das geräumige Zelt zu eng wurde. Überdies lutschten die arabischen Kinder, wie üblich, von früh bis spät Zuckerrohrstangen und brachten daher ein Gefolge von Fliegen mit sich, die an und für sich schon lästig, aber durch die Übertragung der ägyptischen Augenkrankheit auch gefährlich sind. Die Dienerschaft gab sich die größte Mühe, die Kinder zu entfernen, was um so schwieriger war, da Nel sich ihrer annahm und ihre Zahl durch Verteilung von Süßigkeiten noch immer vergrößerte.
Nach dem Fest begann man gemeinsame Ausflüge zu machen, teils auf den Schmalspurbahnen, die zahlreich von Engländern in Medinet-el-Fayum gebaut worden sind, teils auf Eseln und zuweilen auch auf Kamelen. Dabei stellte sich heraus, daß das Lob, welches Idrys seinen Tieren gezollt, doch recht sehr übertrieben war, denn nicht nur für Bohnen, auch für Menschen war es mit Schwierigkeiten verbunden, sich auf den Rücken der Kamele in den Sätteln zu halten. Hingegen waren es in der Tat richtige »Hegin«, d. h. Reittiere mit sehr fetten Höckern, da sie mit einheimischer oder syrischer Durra gefüttert wurden. Die Tiere rannten so schnell, daß man sie oft mit Mühe zurückhalten mußte. Die Sudanesen Idrys und Gebhr hatten ungeachtet des wilden Blickes ihrer Augen bald die Herzen der ganzen Gesellschaft gewonnen, da sie sehr gefällig waren und sich mit ganz besonderer Fürsorge Nels annahmen. Gebhr hatte zwar immer den gleichen grausamen, etwas viehischen Gesichtsausdruck, Idrys aber, der sehr schnell begriffen hatte, daß das kleine Persönchen die Augenweide der ganzen Gesellschaft war, hob bei jeder passenden Gelegenheit hervor, daß er sich um Nel mehr als um seine eigene Seele kümmere. Rawlison bemerkte wohl, daß alle diese Fürsorge zum Teil seinem Portemonnaie galt, aber er war doch zugleich zu sehr davon überzeugt, daß es niemand auf der Welt geben könnte, der sein kleines Töchterchen nicht lieben sollte. Er war deshalb dem Kameltreiber besonders dankbar, was er ihm durch reichlichen Backschisch (Trinkgelder) zeigte.
Im Laufe der ersten fünf Tage hatte die Gesellschaft die in der Nähe der Stadt befindlichen Ruinen der alten Stadt Krokodilopolis besichtigt, wo die Ägypter einstmals ihrem Götzen Sobek opferten, der einen Krokodilkopf auf einem Menschenrumpf trug. Der nächste Ausflug galt den Hanarpyramiden und den Überresten des Labyrinthes. Es war dies die längste Exkursion; sie mußte bis zu dem Karounsee ganz auf Kamelen gemacht werden. Am Nordufer dieses Sees liegt eine richtige Wüste, in der man außer den Ruinen alter ägyptischer Städte keine Spur irgendwelchen Lebens bemerkt. Am Südufer hingegen zieht sich ein prächtiges, fruchtbares Land hin; die Ufer selbst sind dicht mit Schilf und dahinter wachsendem Heidekraut bedeckt. Pelikane, Flamingos, Reiher und Wildgänse hausen hier in Scharen und boten für Staß eine gute Gelegenheit, seine Treffsicherheit beim Schießen zu zeigen. Und wirklich, er zielte so außergewöhnlich sicher, daß nach jedem Schuß Idrys und die arabischen Fischer voll Bewunderung mit der Zunge schnalzten. Fiel ein Vogel ins Wasser, so hörte man die Rufe: »Bismillah!« und »Maszallah!«
Die Araber versicherten, daß es auf dem gegenüberliegenden wüsten Ufer viele Wölfe und Hyänen gäbe, und daß man durch Hinwerfen eines krepierten Schafes sicherlich zum Schuß käme. Deswegen verbrachten Staß und Tarkowski zwei Nächte in der Wüste bei den Ruinen von Dime. Aber das erste Schaf stahlen, gleich nachdem die Jäger es hingelegt hatten und weggegangen waren, die Beduinen; das zweite zog nur einen lahmen Schakal an, den Staß niederschoß. Weitere Versuche wurden verschoben, da die beiden Ingenieure zur Besichtigung der Wasserarbeiten abreisen mußten, die beim Bahr-Jussef, in der Nähe von El-Lahum, südöstlich von Medinet, ausgeführt wurden.
Rawlison wartete mit der Abreise nur auf die Ankunft Madame Oliviers. Statt ihrer aber kam unglücklicherweise ein Brief des Arztes, der mitteilte, daß die gefürchtete Gesichtsrose sich nach dem Stich wieder eingestellt habe, und daß die Kranke für längere Zeit Port Said nicht verlassen könne. Die Lage wurde wirklich bedenklich. Die Kinder, die alte Dinah, die Zelte und die Dienerschaft auf der Tour mitzunehmen, war unmöglich, schon weil die Ingenieure einen Tag hier, einen dort zu verbringen hatten. Auch konnte täglich eine Order einlaufen, nach dem großen Ibrahimkanal zu reisen. Nach kurzer Beratung beschloß Rawlison daher, Nel unter dem Schutze von Dinah und Staß und zugleich unter dem des italienischen Konsularagenten zu lassen. Da der Ingenieur schon früher die Bekanntschaft des Gouverneurs am Orte gemacht hatte, so stellte er die Kinder auch unter dessen Obhut. Nel aber, der die Trennung vom Vater sehr schwer wurde, tröstete er dadurch, daß er ihr versprach, jedesmal, sobald er in der Nähe von Medinet wäre, sie zu besuchen oder zu sich holen zu lassen.
»Wir nehmen Chamis mit uns, den wir auch zu euch als Boten schicken werden«, sagte er. »Dinah soll Nel ständig begleiten, da du, Nel, aber alles mit ihr anstellst, was du willst, wird Staß auf euch beide aufpassen.«
»Sie können ganz beruhigt sein,« antwortete Staß, »ich werde für Nel ebenso gut sorgen wie für eine eigene Schwester. Denn – sie hat ja Sabà, und ich – den Stutzen, soll nur jemand versuchen, ihr etwas anzutun!«
»Darum handelt es sich nicht,« sprach Rawlison, »Sabà und der Stutzen werden sicherlich nichts zu tun bekommen. Aber bitte, paß auf, daß sie sich nicht überanstrengt und sich nicht erkältet. Im Falle, daß Nel erkrankt, hat mir der Konsul versprochen, einen Arzt aus Kairo holen zu lassen. Ferner wird der Mudir (Gouverneur) euch auch zur Seite stehen, und Chamis wird euch und uns möglichst oft Nachrichten bringen. Übrigens hoffe ich, daß unsere Abwesenheit nicht zu lange währen wird.«
Auch Tarkowski geizte nicht mit Verhaltungsmaßregeln für Staß. Er erklärte ihm, daß Nel seines Schutzes in dem Sinne, wie er glaube, nicht bedürfe, da es weder in Medinet noch in der ganzen Provinz El-Fayum wilde Menschen und Tiere gäbe, und daß es für einen Jungen in seinem Alter lächerlich und unwürdig wäre, so etwas zu denken. Er solle nur aufmerksam und fürsorglich zu Nel sein, keine Spaziergänge mit ihr unternehmen, insbesondere nicht auf Kamelen reiten, da das immer sehr anstrengend wäre.
Als Nel das hörte, machte sie ein ganz betrübtes Gesicht.
»Allerdings«, fügte Tarkowski daher hinzu, indem er ihr den Kopf streichelte, »werdet ihr noch Ritte auf Kamelen machen, aber nur mit uns, oder auch wenn ihr zu uns kommt und Chamis euch holen wird.«
»Und allein dürfen wir keinerlei Ausflüge machen, nicht einmal so kleine, ganz kleine?« fragte Nel.
Und sie zeigte mit den Fingern, wie kleine Ausflüge sie wenigstens machen wollte. Schließlich gaben die Väter zu kleinen Ausritten auf Eseln durch die Straßen, zu den nahen Feldern und Gärten in der Umgegend die Erlaubnis. Sie verboten aber den Ritt auf Kamelen und zu den Ruinen, wo man leicht in Erdlöcher hineinfallen konnte. Der Dragoman und andere Angestellte Cooks sollten die Kinder begleiten.
Dann reisten beide Ingenieure ab. Zuerst nur nach Hamaret-el-Makta, so daß sie nach Verlauf von zehn Stunden wieder nach Medinet zurückkehrten. Das wiederholte sich mehrere Tage hintereinander, bis sie mit der Besichtigung der in der Nähe gelegenen Arbeiten fertig waren. Als sie die Arbeit weiter fortführte, kam Chamis zur Nacht nach Hause und holte Nel und Staß in aller Frühe in die Städte, wo die Väter den Kindern vieles Interessante zeigten. So verbrachten die Kinder den größten Teil des Tages bei ihren Vätern. Mit Sonnenuntergang kehrten sie nach Medinet in die Zelte zurück. Es gab aber auch Tage, wo Chamis ausblieb; dann sah Nel, trotz Staß' und Sabàs, an dem sie immer neue Vorzüge entdeckte, sehnsüchtig nach dem Boten aus.
Zu den heiligen drei Königen kamen die Ingenieure nach Medinet zurück. Sie hielten sich aber nur zwei Tage auf und reisten dann wieder fort, indem sie erklärten, diesmal länger auszubleiben, da sie bis nach Beni-Suef müßten und von dort nach El-Fayum, wo der Kanal des gleichen Namens anfängt, der sich gen Süden längs des Nils hinzieht.
Am dritten Tage nach der Abreise erschien gegen elf Uhr vormittags Chamis, worüber die Kinder sehr erstaunt waren. Staß begegnete ihm zuerst, als er einen Spaziergang zu der Weide machte, um die Kamele zu besichtigen. Chamis unterhielt sich gerade mit Idrys. Zu Staß sagte er nur, daß er gekommen wäre, um ihn und Nel abzuholen. Er werde gleich in die Zelte kommen und ihnen erzählen, wohin sie auf den Befehl des Vaters zu reisen hätten. Der Knabe lief sogleich mit der frohen Botschaft zu Nel, die er vor dem Zelt, mit Sabà spielend, antraf.
»Weißt du, Chamis ist hier!« rief er schon aus der Ferne.
Nel begann vor Freude zu hüpfen.
»Wir reisen! Wir reisen!«
»Ja, wir reisen, und weit sogar.«
»Und wohin?« fragte sie, indem sie ihr Haar, das ihr beim Springen ins Gesicht gefallen, nach hinten strich.
»Ich weiß es nicht, Chamis wollte gleich kommen und es erzählen.«
»Woher weißt du denn, daß es weit weg geht?«
»Ich hörte, daß Idrys sagte, daß er mit Gebhr sogleich nach den Kamelen losgehen würde. Das heißt, daß wir mit der Eisenbahn fahren werden, und die Kamele da antreffen werden, wo unsere Väter sind. Und von dort aus werden wir gewiß irgendwelche Ausflüge machen.«
Nel sprang umher wie ein Gummiball, und die Haare fielen ihr dabei trotz alles Zurückstreichens immer wieder ins Gesicht.
Nach einer Viertelstunde kam Chamis, verbeugte sich und sprach:
»Khanage (junger Herr), in drei Stunden müssen wir mit dem ersten Zug fort.«
»Und wohin?«
»Nach El-Gharak-el-Sultani; von dort aus reiten wir mit den Herren auf Kamelen nach Wadi-Rayan.«
Staß' Herz begann vor Freude zu klopfen, doch gleichzeitig verwunderte er sich über Chamis' Worte. Er wußte, daß Wadi-Rayan, eine lange Kette von Sandhügeln, in der Libyschen Wüste südlich und südwestlich von Medinet lag. Tarkowski und Rawlison aber hatten gesagt, daß sie nach der entgegengesetzten Seite, nach dem Nil zu reisten.
»Was ist denn vorgefallen?« fragte Staß. »Mein Vater und Herr Rawlison sind also nicht in Beni-Suef, sondern in El-Gharak?«
»So war es notwendig geworden.«
»Aber sie ordneten doch an, daß wir nach El-Fachen schreiben sollten!«
»Der ältere Effendi erklärt in diesem Brief, wie es kam, daß sie nach El-Gharak mußten.«
Er suchte nach dem Brief in der Tasche, dann rief er plötzlich:
»Beim Propheten! Ich habe den Brief in dem Sack bei den Kameltreibern gelassen! Ich werde schnell hinlaufen, ehe Idrys und Gebhr sich auf den Weg gemacht haben.«
Er eilte zu den Treibern, und die Kinder fingen an, mit Dinah zusammen die Reisevorbereitungen zu machen. Da es sich um eine längere Reise handelte, so nahm Dinah für Nel mehrere Kleider, Wäsche und warmes Überzeug mit. Staß besorgte sich das Seine selbst, vor allen Dingen nahm er den Stutzen mit den Patronen, weil er natürlich schon von einer Begegnung mit Wölfen und Hyänen in Wadi-Rayan träumte.
Nach einer Stunde kehrte Chamis zurück. Er war ganz außer Atem und in Schweiß gebadet, so daß er sich erst erholen mußte, ehe er zu Worte kam.
»Die Treiber sind nicht mehr da,« sagte er, »so sehr ich auch gerannt bin, es war doch vergebens. Übrigens tut das weiter nichts, da wir ja den Brief und den Effendi selbst in El-Gharak finden werden. Soll Dinah auch mit?«
»Wie denn sonst?«
»Vielleicht ist es besser, daß sie hierbleibt; denn von ihr sprachen die Herren nichts.«
»Aber sie sagten, daß Dinah immer bei Nel bleiben soll, und sie wird daher unbedingt mitkommen.«
Chamis verbeugte sich, und indem er die Hände aufs Herz legte, sagte er:
»Beeilen Sie sich, Herr, sonst geht der Zug ab.«
Da die Sachen schon fertig gepackt waren, erreichten sie noch glücklich zur rechten Zeit die Station. Die Entfernung von Medinet bis El-Gharak beträgt nicht mehr als 30 Kilometer, aber die Züge der Eisenbahn schleppen sich nur langsam durch diese Strecke und halten unterwegs oft an. Wäre Staß allein gewesen, so hätte er es vorgezogen, auf einem Kamel zu reiten, um so mehr, da er ausrechnete, daß Idrys und Gebhr, die zwei Stunden vorher aufgebrochen waren, schon vor ihnen in El-Gharak eintreffen mußten. Aber für Nel war der Weg zu lang, und ihr kleiner Vormund, der die Weisungen der Väter gut beherzigte, wollte nicht, daß sie sich so ermüdete. Übrigens flog die Zeit während der Bahnfahrt den beiden auch so schnell dahin, daß sie wie im Umsehen nach Gharak kamen.
Die kleine Station, die für gewöhnlich von Engländern als Ausgangspunkt für Ausflüge nach Wadi-Rayan benutzt wird, war ganz leer. Außer einigen Mandarinenverkäuferinnen mit verhüllten Gesichtern waren nur zwei fremde Kameltreiber und Idrys und Gebhr da, mit sieben Kamelen, von denen das eine sehr schwer beladen war. Von Tarkowski und Rawlison keine Spur.
Idrys erklärte den Kindern ihre Abwesenheit auf folgende Weise:
»Die älteren Herren sind schon nach der Wüste vorgeritten, um die aus Etsah mitgebrachten Zelte aufzustellen, und sie haben zum Abholen zwei Kameltreiber hergeschickt.«
»Wie sollen wir sie denn aber im Gebirge finden?« fragte Staß.
»Diese beiden«, und er wies auf die Beduinen, »sollen uns ja hinführen.«
Der ältere Beduine verbeugte sich, rieb sein einziges Auge mit dem Finger und sagte:
»Obwohl unsere Kamele nicht so fett sind wie die euren, so laufen sie doch ebenso schnell. In einer Stunde sind wir an Ort und Stelle.«
Staß freute sich, daß sie die Nacht in der Wüste zubringen würden, Nel aber war enttäuscht, ihr Väterchen nicht in Gharak vorzufinden, wie sie zuvor gehofft hatte.
Der Vorsteher, ein verschlafener Ägypter in rotem Fes und mit einer dunklen Brille, war inzwischen zu der Gruppe herangetreten und betrachtete, da er nichts anderes zu tun hatte, die europäischen Kinder.
»Das sind die Kinder jener Inglez, die heute morgen mit Flinten in die Wüste zogen«, sagte Idrys, indem er Nel in den Sattel zurechtsetzte.
Staß gab seinen Stutzen Chamis und setzte sich neben Nel, da der Sattel sehr breit war und die Form eines Tragsessels hatte, dem allerdings das Dach fehlte. Dinah setzte sich hinter Chamis, die anderen bestiegen auch ihre Kamele, und so ging es vorwärts.
Hätte der Stationsvorsteher dem Zuge länger nachgesehen, so hätte er zu seinem Erstaunen bemerkt, daß, während jene Engländer, von denen Idrys gesprochen, direkt nach den Ruinen gen Süden geritten, die Kinder gerade in entgegengesetzter Richtung davonzogen, geradeswegs auf Talei zu.
Allein der Stationsvorsteher hatte sich, ohne sich weiter umzusehen, nach Hause begeben, da an diesem Tage kein Zug mehr zu erwarten war.
Es war fünf Uhr nachmittags, ein wunderschöner, herrlicher Tag. Die Sonne stand schon auf der Seite des Nils und senkte sich mählich über die Wüste und schien in dem goldenen und purpurnen Abendrot, womit der ganze westliche Himmel überflutet war, niederzutauchen. Die Luft war wie getränkt von einem rosigen Glanze, der die Augen blendete. Die Felder schimmerten lila, und die in der Ferne sichtbaren Höhen, die sich stark von dem vom Abendrot erleuchteten Hintergrund abhoben, hatten die Färbung reiner Amethysten. Die Welt verlor das Gepräge der Wirklichkeit und glich einem Spiele von überirdischen Lichterscheinungen.
Solange der Weg an grünen, bebauten Feldern vorbeiführte, leitete der Beduine die Karawane im Schritt, sobald aber unter den Tritten der Kamele der harte Wüstensand zu knirschen begann, änderte sich das plötzlich gänzlich.
»Yalla! Yalla!« heulten zwei wilde Stimmen.
Und zu gleicher Zeit sausten die Peitschen pfeifend durch die Luft, und die Kamele gingen vom Trab in Galopp über, sie flogen dahin wie der Wind und warfen mit ihren flinken Beinen den Sand und die kleinen Kieselsteine zu allen Seiten hoch auf.
»Yalla! Yalla!« – – –
Schon beim Trab eines Kamels wird der Reiter sehr durchschüttelt, rennen die Tiere aber, was nur selten geschieht, so ist es auf die Dauer kaum zum Aushalten. Zuerst amüsierten sich die Kinder über dieses wahnwitzige Rennen. Bekanntlich aber erzeugt zu schnelles Schaukeln Schwindel. Nach einiger Zeit, als das Rennen immer noch nicht aufhörte, begann es sich der kleinen Nel im Kopfe zu drehen, und es wurde ihr finster vor den Augen.
»Staß, weshalb jagen wir so?« rief sie, indem sie sich zu ihrem Gefährten wandte.
»Ich denke, sie haben die Kamele zuerst zum Rennen angetrieben und können sie nun nicht mehr halten«, antwortete Staß.
Aber als er bemerkte, daß Nel immer bleicher wurde, rief er dem voranreitenden Beduinen zu, langsam zu reiten. Seine Rufe erhielten aber nur ein erneutes »Yalla! Yalla!« zur Antwort, und die Tiere flogen noch schneller dahin.
Zuerst nahm der Knabe an, daß die Führer seine Worte nicht gehört hätten; als er jedoch wieder rief und statt einer Antwort nur bemerkte, daß Gebhr, der hinter ihm herritt, auf das Kamel von ihm und Nel einzuschlagen begann, glaubte er nicht mehr, daß die Tiere durchgegangen wären. Er sann nach irgendeinem ihm unbekannten Grund zu dieser Eile.
Vielleicht hatten sie einen falschen Weg eingeschlagen und versuchten nun, die verlorene Zeit einzuholen, da sie fürchteten, von den Herren für ihre Verspätung bestraft zu werden. Nach einer Weile begriff Staß, daß diese Annahme falsch wäre, denn Rawlison würde über diesen Ritt mit Nel viel zorniger als über eine Verspätung sein. Was soll das nur bedeuten? Warum folgen sie nicht seinen Befehlen? Im Herzen des Knaben regte sich der Zorn, und er begann für Nel zu fürchten.
»Halt!« rief er aus voller Kraft Gebhr zu.
»Schweig!« brüllte der Sudanese zurück.
Und sie rasten weiter.
Die Nacht beginnt in Ägypten gegen sechs Uhr. Und so erlosch bald das Abendrot, und nach kurzer Zeit erschien der vom Abendrot mit heller Röte übergossene Mond am Himmel, der höher und höher stieg und die Wüste mit einem sanften Licht erleuchtete.
In der Stille der Nacht hörte man nichts als das Atmen der Kamele, den dumpfen, schnellen Schlag ihrer dahineilenden Füße und zuweilen das Sausen der Peitschen. Nel war schon ganz ermattet, so daß Staß sie im Sattel stützen mußte. Sie fragte nur immer, ob sie nicht bald da wären. Augenscheinlich hielt sie nur die Hoffnung aufrecht, den Vater gleich zu sehen. Aber umsonst sahen sich die Kinder nach allen Seiten um. Eine Stunde verging, auch eine zweite, – nirgends waren Zelte noch Feuer zu sehen. –
Staß' Haare begannen sich zu sträuben – er begriff, daß man sie entführt hatte. – – –