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Nun war in der Tat die letzte Hoffnung, unterwegs zu entfliehen, erloschen. Staß wußte jetzt, daß weder seine Einfälle ihnen nützen, noch daß die Verfolger sie einholen würden, und daß man sie, falls sie die Strapazen ertrügen, bis zum Mahdi bringen und an Smain ausliefern würde. Der einzige Trost war der Gedanke, daß man sie gegen Smains Kinder wieder austauschen würde. Aber wann würde das geschehen? Was konnte ihnen bis dahin alles begegnet sein! Was für ein schreckliches Los wartete ihrer inmitten dieser vom Blute trunkenen wilden Horden! Ob Nel all diese Mühen und Beschwerden aushalten konnte? – Das mochte Gott allein wissen! – Hingegen war es zur Genüge bekannt, daß der Mahdi und seine Derwische die Christen haßten, und ganz besonders die Europäer. Daher erfüllte sich die Seele des Knaben mit großer Besorgnis, ob Smains Einfluß ausreichen werde, um sie beide vor den Beschimpfungen, den Quälereien, den Grausamkeiten und Wutausfällen der Mahdisten zu schützen, die sogar der Regierung treu gebliebene Mohammedaner ermordeten? Zum erstenmal seit ihrer Entführung ergriff Staß eine tiefe Verzweiflung und zugleich die abergläubische Annahme, daß ein böses Schicksal sie verfolge. Der ganze Einfall, sie aus Fayum zu entführen und nach Chartum zu bringen, war schon an sich eine Wahnsinnstat, die nur so wilde und unwissende Leute wie Gebhr und Idrys unternehmen konnten, die nicht begriffen, daß sie Tausende von Kilometern eines Landes durchziehen mußten, das der ägyptischen Regierung oder eigentlich den Engländern untersteht. Wäre es gut abgelaufen und richtig zugegangen, so hätte man sie schon am folgenden Tage einholen müssen, aber nun war es so gekommen, daß sie schon fast den zweiten Katarakt erreicht hatten, ohne daß eine der früheren Expeditionen sie abgefaßt hatte, während die letzte, die sie anhalten konnte, jetzt mit den Räubern gemeinschaftliche Sache machte. In Staß' Verzweiflung, in seine Besorgnis für Nels Los mischte sich noch das Gefühl der Demütigung, daß er doch nicht imstande gewesen, etwas auszurichten, und, was noch schlimmer war, daß er nun gar keinen Rat mehr wußte, denn selbst wenn sie ihm jetzt das Gewehr und die Patronen ausliefern würden, so konnte er doch nicht alle, die nun zur Karawane gehörten, niederschießen.
All das quälte den Knaben um so mehr, als die Rettung schon so nahe gewesen war. Wäre Chartum nicht oder erst einige Tage später gefallen, so würden dieselben Leute, die jetzt zum Mahdi übergegangen waren, die Räuber ergriffen und der Regierung ausgeliefert haben. Staß, der hinter Idrys auf dem Kamel saß und ihr Gespräch hörte, überzeugte sich, daß es unzweifelhaft so gekommen wäre. Denn gleich nach dem Aufbruch der Karawane begann der Befehlsführer der Verfolger Idrys zu erzählen, was sie veranlaßt habe, vom Khedive abzufallen. Sie hatten vorher gewußt, daß eine große Armee, nicht die ägyptische, sondern die englische unter Führung des Generals Wolseley gegen die Derwische nach dem Süden aufgebrochen war. Sie hatten zahlreiche Schiffe gesehen, in denen die grimmigen englischen Soldaten von Assuan nach Wadi-Halfa fuhren, von wo sie die Eisenbahn weiter nach Abu-Hammed bringen sollte. Lange Zeit hindurch waren die Scheichs an den Ufern, sowohl die der Regierung treu gebliebenen als auch die in der Tiefe ihrer Seele dem Mahdi anhängenden, überzeugt gewesen, daß der Untergang des Propheten und der Derwische unvermeidlich sei, denn die Engländer hatte noch niemand zuvor besiegt.
»Akbar Allah!« unterbrach ihn Idrys, die Arme gen Himmel streckend, »und doch sind sie besiegt worden!«
»Nein,« entgegnete der Anführer der Verfolger, »der Mahdi schickte die Stämme Dzallno, Barbara und Dadzim gegen sie, zusammen ungefähr 30 000 Mann seiner besten Krieger, die von Musa, dem Sohn Helus, befehligt wurden. Bei Abu-Klea kam es zu einer schrecklichen Schlacht, in der Gott den Ungläubigen den Sieg schenkte. Musa, Helus Sohn, fiel, und nur eine kleine Schar seiner Soldaten kehrte zum Mahdi zurück. Die Seelen der Gefallenen weilen im Paradies, aber ihre toten Körper liegen im Sande und harren der Auferstehung. Die Nachricht von dieser unglücklichen Schlacht verbreitete sich schnell längs des Nils. Wir alle glaubten nun, daß die Engländer weiter gen Süden ziehen und Chartum befreien würden. Alle klagten ›das Ende naht, das Ende!‹ Aber Gott hat es inzwischen anders gefügt.«
»Wie? Was ist geschehen?« fragte Idrys fieberhaft erregt.
»Was geschehen ist?« wiederholte mit strahlendem Gesicht der Befehlshaber. »Der Mahdi hat indessen Chartum erobert, und Gordon ist bei dem Sturme der Kopf abgeschlagen worden. Da es den Engländern aber nur um Gordon zu tun war, so sind sie umgekehrt, als sie von seinem Tode erfuhren, sie haben sich nach Norden zurückgewendet. Allah! Wir sahen wieder Schiffe mit Unmengen von Soldaten den Nil entlang schwimmen, aber wir verstanden nicht, was das bedeuten sollte. Die Engländer verkünden zwar die guten Nachrichten sofort, die schlechten jedoch verheimlichen sie. Einige unter uns sprachen schon davon, daß der Mahdi umgekommen wäre. Aber schließlich kam die Wahrheit ans Licht. Hier, dieses Land gehört noch der Regierung. In Wadi-Halfa und weiter bis zum dritten oder auch vierten Katarakt stehen noch die Soldaten des Khedive, jetzt aber, nach dem Rückzug der Engländer, glauben wir, daß der Mahdi nicht nur Nubien und Ägypten, nicht nur Mekka und Medina, sondern die ganze Welt erobern wird. Daher gehen wir, anstatt euch den Händen der Behörden auszuliefern, mit euch zusammen zum Propheten.«
»Also hat man den Befehl gegeben, uns abzufangen?«
»Gewiß, an alle Dörfer, alle Scheichs, alle Militärbesatzungen. Da, wo der Kupferdraht, auf dem die Befehle aus Kairo geflogen kamen, nicht hinführt, hat man Gendarmen mit der Veröffentlichung hingeschickt. Wer euch ergreift, soll 1000 Pfund zur Belohnung erhalten. Maszallah! Das ist ein großes Vermögen, ein sehr großes!«
Idrys blickte den Sprechenden mißtrauisch an.
»Ihr aber zieht den Segen des Mahdi vor?«
»Gewiß. Außerdem hat der Mahdi eine so große Beute gemacht und so viel Geld in Chartum vorgefunden, daß er ägyptische Pfunde mit Futtersäcken mißt und sie unter seine Getreuen verteilt.«
»Dennoch, wenn es in Wadi-Halfa und weiter südwärts noch ägyptische Soldaten gibt, so wird man uns unterwegs ergreifen können.«
»Nein, wir müssen nur eilen, bevor sie wieder so recht zur Besinnung gekommen sind. Sie haben jetzt nach dem Rückzuge der Engländer gänzlich den Kopf verloren, sowohl die der Regierung treu gebliebenen Scheichs als auch die Soldaten und die Zabdjes (Gendarmen). Alle glauben, daß der Mahdi jeden Augenblick heranziehen kann, und alle diejenigen von uns, die ihm im inneren Herzen treu ergeben waren, fliehen jetzt zu ihm, ohne daß sie verfolgt werden, denn in diesen ersten Stunden der Aufregung gibt niemand Befehle, und niemand weiß, wem er gehorchen soll.«
»Ja,« erwiderte Idrys, »aber du hast richtig bemerkt, daß wir uns beeilen müssen, bevor sie wieder zur Besinnung kommen, denn Chartum ist noch weit.«
In Staß, der dieses ganze Gespräch genau verstanden hatte, flackerte für einen Augenblick wieder ein kleiner Funke von Hoffnung auf. Wenn die ägyptischen Soldaten auch noch bis jetzt verschiedene Ufergegenden in Nubien besetzt hielten, so mußte diese sich vor den wilden Horden des Mahdi angesichts der Tatsache, daß die Engländer sämtliche Schiffe für sich in Anspruch genommen hatten, auf dem Landwege zurückziehen. So konnte es geschehen, daß die Karawane auf irgendeine zurückziehende Abteilung stieß und von ihr umzingelt würde. Staß rechnete weiter aus, daß, bevor die Kunde von der Eroberung Chartums bis zu dem nördlich von Wadi-Halfa wohnenden arabischen Stämmen vorgedrungen sein würde, viel Zeit verfliegen müßte, um so mehr, als die Regierung und die Engländer die Nachricht ja verheimlicht hatten, und daß sich daher die Verwirrung und Disziplinlosigkeit, die zuerst unter den Ägyptern geherrscht hatte, schon gelegt haben würde. Der unerfahrene Knabe bedachte nicht, daß der Fall von Chartum und Gordons Tod die Menschen alles andere vergessen ließ, und daß die regierungstreuen Scheichs und die ägyptischen Ortsbehörden jetzt anderes zu tun hatten, als an die Errettung zweier weißer Kinder zu denken.
Und tatsächlich schienen die Araber, die sich der Karawane angeschlossen hatten, eine Verfolgung nicht zu fürchten. Sie ritten freilich sehr schnell und schonten die Kamele nicht, aber sie hielten sich in ziemlicher Nähe des Nils und schwenkten oft zum Flusse ab, um die Tiere zu tränken und die Ledersäcke mit Wasser zu füllen. Manchmal wagten sie es sogar, am Flusse in ein Dorf einzukehren. Zur Sicherheit schickten sie immer einige Leute voraus, die sich unter dem Vorwande, Lebensmittel zu kaufen, erkundigen mußten, ob in der Umgegend noch ägyptische Truppen ständen, und ob die Einwohner gläubige Türken wären. Stießen sie auf eine im geheimen zum Mahdi haltende Bevölkerung, so kehrte die ganze Karawane im Dorfe ein. Oft schlossen sich ihnen auch junge Araber an, die mit ihnen gemeinsam zum Mahdi fliehen wollten.
Idrys erfuhr nun, daß sich fast alle ägyptische Truppen auf der Wüstenseite Nubiens, also auf der rechten, östlichen Seite des Nils befanden. Um eine Begegnung zu vermeiden, mußte man mehr am linken Ufer südwärts ziehen und bedeutende Orte und Ansiedlungen umgehen. Das verlängerte zwar den Weg bedeutend, da der Fluß von Wadi-Halfa ab sich in einem weiten Bogen nach Süden hinzieht, dann wieder nach Nordosten abweicht, bis er von Abu-Hammed an eine direkt südliche Richtung annimmt. Dafür aber war dieses linke Ufer, insbesondere von der Oase Selim an, fast ganz unbewacht, und die Reise verlief für die Sudanesen in größerer Gesellschaft bei Überfluß an Wasser und Vorräten sehr vergnügt.
Nachdem sie den dritten Katarakt passiert hatten, hörten sie sogar auf zu eilen. Sie ritten nur des Nachts und hielten sich am Tage inmitten der Sandhügel und Schluchten versteckt, die die ganze Wüste durchzogen. Der Himmel über ihnen war ohne jedes Wölkchen; am Horizont erschien er grau, während der hohe Himmel wie eine ungeheure Kuppel still und unbewegt über ihnen blaute. In dem Maße, als sie nach Süden vorrückten, wurde jedoch die Hitze mit jedem Tage schlimmer. Sogar in den Schluchten, im tiefen Schatten, war sie für Menschen und Tiere gleich unerträglich. Die Nächte hingegen waren sehr kalt und wurden von flimmernden Sternen, die kleinere und größere Sterngruppen bildeten, erhellt.
Staß bemerkte, daß es nicht mehr dieselben Sternbilder waren, die des Nachts über Port Said schienen. Er hatte des öfteren davon geschwärmt, einmal im Leben das Bild des »südlichen Kreuzes« zu sehen, und nun, da er es hinter El-Orde zu sehen bekam, verkündete sein Glanz ihm nur Unglück. Seit mehreren Tagen leuchtete ihnen auch das bleiche, verstreute und traurige Zodiakallicht, das vor dem Verlöschen der Abendröte bis in die tiefe Nacht hinein den westlichen Teil des Himmels mit seinem Silberglanz erfüllte.