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Vier Tage später ließ Staß die Karawane auf einer dem Lindeberg ähnelnden Anhöhe, die etwas kleiner und schmaler war, Rast machen. An demselben Abend noch erwürgte Sabà nach schwerem Kampfe ein großes Pavianmännchen, das er gerade überfiel, als er mit den Überresten eines Drachens spielte. Es war der zweite Drachen aus der Menge derer, die die Kinder vor dem Aufbruch nach dem Ozean losgelassen hatten. Staß und Nel benutzten die Rast, um ununterbrochen neue Drachen zu verfertigen, die sie aber nur dann fliegen lassen wollten, wenn ein starker Monsum vom Westen nach Osten wehte. Um ganz sicher zu gehen, fügte Staß der englischen und französischen Aufschrift noch eine arabische hinzu, was ihm ja nicht schwerfiel, da er die arabische Sprache vortrefflich beherrschte.
Kurze Zeit, nachdem sie diese Anhöhe verlassen hatten, erklärte Kali, daß er in der im Osten liegenden Bergkette einige Gipfel erkenne, die das große, schwarze Wasser, den Basso-Narok, umgäben. Der junge Neger wurde zwar hin und wieder schwankend in dieser Angabe, da die Berge, von verschiedenen Stellen gesehen, verschiedene Gestalten annahmen. Als sie ein kleines, völlig mit Kussosträuchern bewachsenes Tal durchritten hatten, das wie ein einziger rosiger See schimmerte, stießen sie auf eine einsam liegende Jagdhütte, die von zwei Negern bewohnt war. Der eine von ihnen war von einem Fadenwurm Filandria medinenis, ein fadendünner Wurm, der über ein Meter lang ist. Ein Biß von ihm ruft zuweilen Brand hervor. gebissen und daher krank. Aber beide waren so wild und dumm und so entsetzt über die unerwarteten Gäste, daß es unmöglich war, in der ersten Zeit etwas von ihnen zu erfahren, da sie ganz sicher überzeugt davon waren, gemordet zu werden. Erst einige Stücke geräucherten Fleisches lösten dem Kranken die Zunge, der nicht nur krank, sondern zugleich auch sehr ausgehungert war, da sein Kamerad ihn sehr schlecht mit Nahrung versorgte. Die Reisenden erfuhren nun, daß ungefähr eine Tagereise entfernt stark bevölkerte Dörfer lägen, die von unabhängigen kleinen Königen regiert würden, und daß jenseits eines steilen Berges das Land des Fumba begänne, das sich westlich und südlich vom großen Wasser erstrecke. Als Staß das hörte, fiel ihm eine große Last vom Herzen, und frischer Mut erfüllte seine Seele, befanden sie sich doch jetzt wenigstens an der Schwelle des Landes der Wa-hima.
Wie die Reise sich weiter gestalten würde, konnte Staß natürlich nicht voraussehen, aber immerhin konnte er hoffen, daß sie nicht schwieriger werden und länger währen würde als jene schreckliche Reise von den Nilufern, auf der er dank seiner Umsicht Nel vor so vielen Gefahren behütet hatte. Er zweifelte nicht, daß die Wa-hima sie Kalis wegen gastfreundlich aufnehmen und ihnen jede Hilfe gewähren würden. Übrigens hatte er schon die Neger genug kennen gelernt, um zu wissen, wie sie behandelt werden mußten, und er war fast sicher, daß er auch ohne Kali mit ihnen fertig werden würde.
»Weißt du,« sagte er zu Nel, »daß wir von Faschoda aus gerechnet, die größere Hälfte unseres Weges zurückgelegt haben, und daß wir auf der noch vor uns liegenden Reise wohl viel wilden Negern, aber keinen Derwischen mehr begegnen werden.«
»Ich ziehe Neger vor«, antwortete das kleine Mädchen.
»Ja, solange du für eine kleine Gottheit giltst. Aus Fayum wurde ich mit einem Fräulein entführt, das Nel hieß, und jetzt bringe ich einen ›Mzimu‹ zurück. Ich werde meinem Vater und Herrn Rawlison sagen, daß sie dich nicht anders nennen sollen.«
Ihre Augen leuchteten sogleich auf, und sie begann zu lachen.
»Vielleicht werden wir unsere Väterchen in Mombassa zu sehen bekommen.«
»Möglich. Wäre nicht dieser Krieg an den Ufern des Basso-Narok, so würden wir früher da sein. Was brauchte sich Fumba auch gerade jetzt in so etwas einzulassen!«
Nach diesen Worten winkte er Kali zu sich heran.
»Kali, hat der kranke Neger etwas vom Kriege gehört?«
»Hat gehört. Großer Krieg sein, sehr großer zwischen Fumba und Samburu.«
»Was soll denn nun werden? Wie werden wir durch das Land der Samburu hindurchkommen?«
»Samburu fliehen vor großem Herrn, vor King und Kali.«
»Auch vor Kali, weil Kali Gewehr hat, das donnert und tötet.«
Staß begann, über seine Stellung, die er in dem Kampfe der Wa-hima und Samburu nehmen mußte, nachzudenken, und er beschloß, sich so einzurichten, daß der Krieg der Reise keine Hindernisse in den Weg legen konnte. Er verstand, daß ihre Ankunft ein unerwartetes Ereignis war, das sogleich dem Fumba das Übergewicht über seinen Gegner sicherte. Der voraussichtliche Sieg mußte nur entsprechend ausgenutzt werden.
In den Dörfern, von denen der kranke Jäger gesprochen hatte, erhielten die Reisenden neue Nachrichten vom Krieg, die zwar den Vorzug hatten, ausführlicher zu sein, aber für Fumba ungünstig lauteten. Der König der Wa-hima führte einen Verteidigungskrieg, und die Samburu, unter der Führung ihres Königs Mamba, hatten bereits ein bedeutendes Stück des Wa-hima-Landes besetzt, und ihnen viele Kühe weggenommen. Man erzählte, daß der Krieg hauptsächlich am Südufer des großen Wassers wütete, wo auf einem hohen und breiten Felsen die große »Boma« Boma ist dasselbe wie im Sudan Zeriba. Eine große Boma kann auch eine Art Festung oder befestigtes Lager sein. Fumbas lag.
Kali grämte sich sehr über diese Nachrichten, und er bat Staß, möglichst schnell jenen Berg zu überschreiten, der sie noch von der Gegend, in der der Krieg sich abspielte, trennte. Er versicherte dabei, daß er einen Weg zu finden vermöge, den nicht nur die Pferde, sondern auch King gehen könnte. Sie befanden sich schon in einer Gegend, die der junge Neger gut kannte, und von der er mit großer Sicherheit die ihm von Kindheit her bekannten Berggipfel unterschied.
Dennoch erwies sich das Passieren des Berges nicht als so leicht, und wenn man sich nicht durch Geschenke die Hilfe der letzten Dorfbewohner gesichert hätte, so wäre man genötigt gewesen, einen anderen Weg zu suchen. Die Dorfbewohner wußten noch besser als Kali die Hohlwege diesseits des Berges. Und nach zwei mühseligen Reisetagen, während derer man in den Nächten sehr unter der Kälte zu leiden hatte, gelangte die Karawane glücklich auf den Gipfel des Berges und von dort in das Tal, das schon im Lande der Wa-hima lag.
Staß machte am Morgen in dem von Gebüschen umgebenen Tale Halt. Kali, der um die Erlaubnis gebeten hatte, in der Richtung der väterlichen Boma, die ungefähr eine Tagereise weit entfernt lag, auf Kundschaft auszureiten, machte sich noch in derselben Nacht auf den Weg. Als Staß und Nel vierundzwanzig Stunden mit größter Unruhe gewartet hatten und schon glaubten, daß Kali umgekommen oder in die Hände der Feinde gefallen wäre, erschien er schließlich auf dem abgemagerten und schäumenden Pferde, selbst ganz ermattet und so niedergeschlagen, daß es einem leid tat, wenn man ihn nur ansah.
Sofort stürzte er sich Staß zu Füßen und begann, ihn um Rettung anzuflehen.
»O großer Herr! Samburu besiegen Fumbas Krieger; sie haben schon viele Krieger getötet und die anderen vertrieben und belagern Fumba in der großen Boma auf dem Berge Boko. Fumba und seine Krieger haben nichts zu essen in Boma und umkommen, wenn großer Herr Mamba nicht tötet und alle Samburu mit Mamba.«
So flehend umfaßte er Staß' Knie. Der aber versank mit gerunzelten Brauen in tiefe Gedanken, er überlegte, was er zu tun hatte, da es sich wie immer und überall um Nel handelte.
»Wo sind«, fragte er endlich, jene Krieger von Fumba, die die Samburu auseinandergesprengt haben?«
»Kali hat sie gefunden – und sie kommen gleich hierher.«
»Wie viele sind es denn?«
Der junge Neger bewegte mehr als zehnmal die Finger beider Hände und Füße, aber er konnte offenbar nicht die Zahl bezeichnen, aus dem einfachen Grunde, weil er nicht weiter als bis zu zehn zählen konnte. Jede größere Zahl bedeutete für ihn nicht mehr als »wengi«, d. h. viel.
»Nun, wenn sie hierherkommen, so stelle dich an ihre Spitze und ziehe zum Entsatz deines Vaters aus«, sagte Staß.
»Sie fürchten sich vor Samburu und werden nicht mit Kali gehen, aber mit großem Herrn werden sie gehen und töten wengi, wengi Samburu.«
Staß versank wiederum in Gedanken.
»Nein,« sagte er endlich, »ich kann Bibi weder in die Schlacht mitnehmen noch sie allein hier lassen. – Das kann ich um nichts in der Welt tun.«
Darauf erhob sich Kali, und indem er die Hände faltete, wiederholte er mehrmals:
»Luela! Luela! Luela!«
»Was ist denn das, Luela?« fragte Staß.
»Eine große Boma für die Weiber der Wa-hima und Samburu«, antwortete der junge Neger.
Und er begann außergewöhnliche Dinge zu erzählen. Fumba und Mamba führen seit langen Jahren Krieg miteinander. Sie vernichten sich gegenseitig ihre Plantagen und rauben einander das Vieh. Aber an dem südlichen Ufer des Sees lag eine Ortschaft, die Luela hieß. Hier, trafen sich selbst während der erbittertsten Kämpfe die Frauen der beiden Völker, um Handel zu treiben. Es war ein heiliger Ort. Der Krieg wurde nur von Männern geführt, keine Niederlage, kein Sieg beeinflußte das Los der Weiber, die in Luela hinter Lehmmauern, die einen Marktplatz umgaben, eine völlig sichere Zufluchtsstätte fanden. Viele hatten dort während der Unruhen mit ihren Kindern und ihrem Hab und Gut Unterkunft gesucht. Andere kamen sogar aus weit entfernten Dörfern und brachten geräuchertes Fleisch, Säbelbohnen, Hirse, Maniok und verschiedene andere Vorräte hin. Die Krieger durften nur in so großer Entfernung von Luela kämpfen, daß der Schrei eines Hahnes in Luela nicht bis zum Schlachtfelde dringen konnte, auch durften sie nicht die Lehmmauer übersteigen, die den Marktplatz umgab. Sie konnten nur vor der Mauer stehen, und die Weiber reichten ihnen dann Nahrungsmittel und Vorräte, die an langen Bambusstangen angebunden waren, heraus. So war es von alters her Sitte, und es kam nie vor, daß sie von irgendeiner Partei gebrochen wurde. Es war daher immer eine Aufgabe des Siegers, dem Besiegten den Weg nach Luela zu verlegen und ihm nicht zu erlauben, sich der heiligen Stätte so zu nähern, daß ein Hahnenschrei bis zu ihr herüberdrang.
»O großer Herr,« flehte Kali, indem er von neuem Staß' Knie umfaßte, »der große Herr Bibi nach Luela bringen und nehmen selbst King und Kali, die Flinten und die Feuerschlangen und schlagen die bösen Samburu.«
Staß glaubte den Erzählungen des jungen Negers wohl, denn er hatte schon früher gehört, daß in vielen Gegenden Afrikas der Krieg die Frauen nicht in Mitleidenschaft zieht. Er erinnerte sich, daß ein gewisser deutscher Missionär einmal in Port Said erzählt hatte, daß in der Umgebung des riesengroßen Kilimandscharo der sehr kriegerische Stamm der Massaineger Authentisch. eine heilige Sitte bewahrt hatte, kraft deren die Frauen der kämpfenden Parteien völlig ungehindert bestimmte Marktplätze besuchen können, ohne irgendwelchen Überfällen ausgesetzt zu sein. Es freute Staß ungemein, daß auch an den Ufern des Basso-Narok diese Sitte bestand, denn nun konnte er beruhigt sein, daß der Krieg für Nel keinerlei Gefahr brachte. Er beabsichtigte, unverzüglich mit dem kleinen Mädchen nach Luela aufzubrechen, um so mehr, als er sowieso vor Beendigung des Krieges nicht an die Weiterreise denken konnte, da er dazu nicht nur die Hilfe der Wa-hima, sondern auch die der Samburu benötigte.
An schnelle Entschlüsse gewöhnt, war es dem Knaben schon klar, wie er zu handeln hatte. Fumba befreien, die Samburu schlagen, ohne den Wa-hima zu gestatten, blutige Vergeltung zu üben. Es schien ihm nicht nur für ihn, sondern auch für die Neger am vorteilhaftesten, dann einen Waffenstillstand anzuordnen und die Kämpfenden zu versöhnen. »So muß es sein, und so wird es sein«, gelobte er sich im Geiste. Und da er den jungen Neger, der ihm sehr leid tat, trösten wollte, so teilte er ihm mit, daß er seine Hilfe nicht verweigern wollte.
»Wie weit ist es von hier nach Luela?« fragte er.
»Eine halbe Tagereise.«
»So höre, wir werden Bibi sofort hinbringen, dann werde ich auf King weiterreiten und die Samburu von der Boma deines Vaters wegtreiben. Du reitest mit mir und wirst mit ihnen kämpfen.«
»Kali wird sie mit der Flinte töten.«
Im Umsehen verwandelte sich die Verzweiflung des jungen Negers in ausgelassenste Freude; er begann umherzuspringen und Staß mit solchem Eifer zu danken, als wenn der Sieg schon vollendet wäre. Seine weiteren Dankbarkeits- und Freudenausbrüche wurden dann durch die Ankunft jener Krieger unterbrochen, die er auf seinem Kundschaftszuge gesammelt und vor das Antlitz des weißen Herrn befohlen hatte. Es waren ungefähr dreihundert Mann, die mit Schilden aus Nilpferdhaut, mit Wurfspießen, Armbrüsten und Messern bewaffnet waren. Auf den Köpfen trugen sie Federn, Pavianmähnen und Farnkräuter. Beim Anblick des Elefanten, der einem Menschen gehorchte, der weißen Gesichter, des Sabà und der Pferde erfaßte sie Angst und ein gleiches Staunen wie zuvor die Neger jener Dörfer, durch die die Karawane hindurchgezogen. Kali hatte ihnen jedoch im voraus erzählt, daß sie den guten Mzimu und einen mächtigen Herrn zu sehen bekommen würden, der den Löwen und den Wobo getötet habe, vor dem sich der Elefant fürchte, der Felsen sprenge, Feuerschlangen in die Luft schicke und anderes mehr. Daher flohen die Krieger nicht; sie stellten sich in langen Reihen schweigend und voll von Bewunderung auf; das Weiße in ihren Augen leuchtete. Sie wußten nicht recht, wie sie sich zu benehmen hätten, ob sie auf die Knie oder auf das Gesicht fallen sollten, aber das schienen sie alle zu wissen, daß, wenn die außerordentlichen Wesen ihnen helfen würden, es mit den Siegen der Samburu ein Ende hatte. Staß ritt auf dem Elefanten die Front entlang, ganz wie ein Heerführer, der seine Truppen besichtigt. Danach befahl er Kali, den Negern zu wiederholen, daß er versprochen habe, Fumba zu entsetzen, und gab den Befehl zum Aufbruch.
Kali ritt mit einigen Kriegern voraus, um den versammelten Weibern beider Stämme zu verkünden, daß sie das unsagbare, noch nie dagewesene Glück haben würden, den »guten Mzimu« zu sehen, der auf einem Elefanten zu ihnen angeritten käme. Diese Mitteilung klang den Frauen so ungeheuerlich, daß selbst jene Wa-hima-Frauen, die in Kali den verschollenen Thronfolger erkannten, meinten, daß der junge Königssohn mit ihnen scherze, und sie wunderten sich darüber, daß er jetzt, wo der ganze Stamm und auch Fumba so Schweres durchlebten, zu scherzen aufgelegt sei. Als sie jedoch nach wenigen Stunden den Riesenelefanten erblickten, der sich ihren Wällen näherte und auf dem Rücken einen Palankin trug, gerieten sie in wahnsinnige Freude und empfingen den »guten Mzimu« mit solchem Geschrei und Gerufe, daß Staß im ersten Augenblick diesen Lärm für einen Zornesausbruch hielt, um so mehr, da die ungewöhnliche Häßlichkeit der Negerinnen sie Hexen ähnlich machte.
Aber wie gesagt, dieser Höllenlärm war nur der Ausdruck außergewöhnlicher Ehrenbezeigungen. Als Nels Zelt in einer Ecke des Marktplatzes im Schatten zweier Bäume aufgestellt wurde, schmückten die Negerinnen beider Stämme es mit Girlanden und Blumenkränzen. Dann schleppten sie so viele Lebensmittel herbei, daß nicht nur die kleine Gottheit, sondern auch ihr Gefolge einen ganzen Monat damit ausreichen konnte. Die begeisterten Frauen verbeugten sich fortwährend auch vor Mea, die, mit rosa Perkal gekleidet und mit himmelblauen Glasperlenschnüren geschmückt, ihnen als Dienerin des »guten Mzimu« ein viel höheres Wesen als eine gewöhnliche Negerin zu sein schien.
Auch Nasibu war seines jugendlichen Alters wegen noch hinter den Wall hineingelassen worden, und er zog sogleich aus den Opfergaben, die für Nel so treulich herbeigeschleppt waren, so viel Nutzen, daß sein kleiner Bauch schon nach einer Stunde an eine afrikanische Kriegstrommel erinnerte.