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Als die kleinen Reisenden wieder aufbrachen, begleitete die ganze Bevölkerung den »guten Mzimu« ein großes Stück, und alle nahmen mit Tränen Abschied und baten dringend, daß er geruhen möchte, wieder zu M'Rua zu kommen und an sein Volk zu denken. Eine Zeitlang schwankte Staß, ob er den Negern nicht den Hohlweg bezeichnen sollte, wo er die von Linde geerbten Sachen versteckt hatte, die er mangels Träger nicht mit sich führen konnte, aber als er bedachte, daß der Besitz dieser Schätze unter ihnen Neid, Zwist, Naschhaftigkeit und Unfrieden hervorrufen konnte, verwarf er diese Absicht. Dagegen erlegte er einen großen Büffel, den er ihnen zum Abschiedsmahl überließ. Und der Anblick einer so großen Menge »Nyama« half ihnen denn auch wirklich über den Abschiedsschmerz hinweg.
Die folgenden drei Tage durchzog die Karawane wieder ein unbewohntes Land. Die Tage waren schwül, die Nächte aber der hohen Lage wegen so kalt, daß Staß Mea befahl, Nel in zwei wollene Decken einzuhüllen. Sie ritten jetzt durch viele Bergschluchten, die teils öde, unfruchtbar und felsig, teils so üppig mit Pflanzen bewachsen waren, daß man nur mit großer Mühe hindurchkommen konnte. Auf den Felsabhängen sahen sie große Affen, hin und wieder auch Löwen und Panther, die in den Felsenhöhlen hausten. Staß erlegte auf Kalis Bitten einen Panther, dessen Fell sich Kali umhing als Erkennungszeichen für die Neger, daß sie es mit einer Person aus königlichem Geblüt zu tun hatten.
Hinter den Hohlwegen lagen auf einer Hochebene wieder Negerdörfer, einige ganz dicht beisammen, andere ein oder zwei Tagereisen voneinander entfernt. Alle waren zum Schutze gegen Löwen von einem dichten Zaunwerk umgeben, und so von Kletterpflanzen eingehüllt, daß sie selbst in der Nähe noch wie Gruppen jungfräulichen Waldes aussahen. Erst an den aus ihrer Mitte emporsteigenden Rauchwolken konnte man ersehen, daß dort Menschen wohnten.
Die Karawane wurde überall in mehr oder minder ähnlicher Weise empfangen wie in dem Dorfe M'Ruas, d. h. anfangs mit Furcht und Mißtrauen, welche sich später in Staunen, Bewunderung und Ehrfurcht verwandelte. Einmal aber ereignete es sich, daß ein ganzes Dörfchen beim Anblick Kings, Sabàs, der Pferde und der weißen Menschen in den nahegelegenen Wald entfloh, so daß niemand da war, mit dem sie sich verständigen konnten. Jedoch wurde keine einzige Lanze gegen die Reisendes geschleudert, denn die Neger waren, bevor der Mohammedanismus ihre Seelen mit Haß und Grausamkeit gegen die Ungläubigen vergiftete, eher furchtsam und sanft. Für gewöhnlich kam es so, daß Kali ein »Stück« des Ortskönigs und dieser ein »Stück« Kalis aß, worauf sich die gegenseitigen Beziehungen dann auf das freundschaftlichste gestalteten. Überall brachte man dem »guten Mzimu« Beweise der Huld und Gottesfurcht in Gestalt von Hühnern, Eiern und Honig, den sie mit Holzklötzchen gewannen, die mit Palmschnüren an den Zweigen großer Bäume angebunden waren. Der »große Herr«, der Gebieter des Elefanten, des Donners und der Feuerschlangen, flößte zumeist Furcht ein, die sich jedoch sehr schnell in ein Dankbarkeitsgefühl verwandelte, sobald man sich davon überzeugte, daß seine Freigebigkeit seiner Macht gleich kam. Dort, wo die Dörfer näher beieinander lagen, wurde die Ankunft der außergewöhnlichen Reisenden mit Hilfe von Trommelschlägen von einem Dorf zum andern bekanntgegeben; denn die Neger verstehen es, durch Trommelsignale einander Mitteilungen zu machen. So kam es häufig vor, daß die ganze Bevölkerung es sich von vornherein zur Pflicht machte, sie aufs freundlichste zu empfangen.
In einem Dorfe, das ungefähr tausend Köpfe zählte, willigte der Häuptling, der zugleich König und Zauberer in einer Person war, ein, ihnen den »großen Fetisch« zu zeigen, der mit so außerordentlicher Ehre und Furcht umgeben war, daß sich die Neger seiner Kapelle, die aus Ebenholz gefertigt und mit Nashornfell bedeckt war, nicht zu nähern wagten und ihre Opfergaben in einer Entfernung von fünfzig Schritt niederlegten. Der König erzählte von diesem Fetisch, daß er unlängst vom Monde herniedergefallen sei und eine weiße Farbe und einen langen Schwanz hätte. Staß sagte ihm, daß er es sei, der ihn auf Befehl des guten Mzimu hergeschickt hätte. Und was er sagte, entsprach durchaus der Wahrheit. Denn es stellte sich heraus, daß der »große Fetisch« nichts anderes war als einer der von den Kindern vom Lindeberg losgelassenen Drachen. Der Knabe und Nel freuten sich in dem Gedanken, daß bei entsprechendem Winde andere Drachen vielleicht noch weitergeflogen seien, und sie beschlossen, damit fortzufahren, von erhöhten Stellen aus Drachen loszulassen. Staß fertigte an demselben Nachmittag noch einen Drachen, den er gleich steigen ließ. Dadurch überzeugte er die Neger nun endgültig davon, daß sowohl er als auch der »gute Mzimu« vom Mond auf die Erde gekommen und daß sie Gottheiten wären, denen man nicht demütig genug dienen konnte.
Aber noch mehr als diese Beweise der Demut und Huldigung erfreute Staß die Nachricht, daß der Basso-Narok nur noch etwa zehn bis zwanzig Reisetage entfernt lag, und daß die Einwohner des Dorfes, in dem sie sich jetzt aufhielten, aus jener Gegend Salz gegen Palmwein austauschten. Der König des Dorfes hatte sogar vom König Fumba, dem Beherrscher der »Doko«-Neger, gehört. Kali bestätigte, daß die weiter entfernten benachbarten Volksstämme die Wa-hima und Samburu so nannten. Weniger erfreulich war die Mitteilung, daß an den Ufern des großen Wassers ein Krieg wütete, und daß man nach dem Basso-Narok nur durch ganz wildes Bergland und durch Schluchten gelangen könnte, in denen es von Raubtieren wimmelte. Doch im Grunde störten Staß die Raubtiere nicht mehr sehr, und Berge, selbst die wildesten, zog er den Tiefebenen, in denen das Fieber herrschte, vor.
Nachdem sie sich alle ordentlich ausgeruht hatten, ging er wieder auf die Reise. Hinter dem letzten volkreichen Dorfe trafen sie nur noch eine elende Ansiedlung, die wie ein Nest an einem Bergabhange hing. Dann durchzogen sie eine niedrige Gebirgsgegend, die hier und da von tiefen Felsspalten zerklüftet war. Im Osten erhob sich eine Kette von dunklen Bergen, die aus der Ferne fast schwarz aussahen. Es war eine unerforschte Gegend, die sie nun betraten, ohne zu wissen, was ihnen dort noch, bevor sie in das Reich Fumbas kamen, begegnen konnte. Auf dem Weideland, das sie durchritten, fehlte es nicht an Bäumen, die in Gruppen wuchsen und kleine Haine bildeten, mit Ausnahme der Drachen- und Akazienbäume, die ganz vereinzelt standen. Die Reisenden machten in den kleinen Hainen Rast, um sich in ihrem Schatten zu stärken und auszuruhen.
In den Bäumen wimmelte es von Vögeln. Verschiedene Arten von Tauben, große Nashornvögel, die Staß Pfefferfresser nannte, Krähen, Stare, graublaue Turteltauben und eine Unmenge allerliebster Bengalis flogen im Dickicht umher oder zogen von einem Hain in den anderen, einzeln oder in Scharen, in allen Farben des Regenbogens schillernd. Manche Bäume schienen von weitem wie mit buntfarbigen Blumen übersät zu sein. Nel war ganz besonders von dem Anblick der Paradiesvögel, »Fliegenfänger« Terpsichone viridis. , bezaubert und von einer größeren Vogelart, die schwarz war, mit hochroter Brust, und deren Stimmen an die Töne einer Hirtenflöte Laniarius erythrogaster. erinnerten. Wunderschöne Bienenspechte Merops Nubiensis. Stolzmann »Am Weißen Nil«., oben rosa, unten hellblau gefärbt, flogen im Sonnenglanze geschäftig hin und her und fingen im Fluge Bienen und Grashüpfer. Hoch oben von den Baumkronen ertönte weithin das Geschrei grüner Papageien, und manchmal erklang wie ein silbernes Glöckchen die Stimme graugrüner Vögelchen, die sich unter den Blättern der Adansoni versteckt hatten und sich gegenseitig begrüßten. Vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang flogen so unzählige Scharen von Sperlingen Quelea Aethiopica. Stolzmann »Am Weißen Nil«. vorüber, daß man sie für Wolken halten konnte, wenn man nicht ihr Gezwitscher und das Rauschen ihrer Flügelchen vernommen hätte. Staß nahm an, daß es Rotschnäbelchen seien, die sich während des Tages verstreut in den einzelnen Baumgruppen aufhielten.
Aber die allergrößte Verwunderung und das höchste Entzücken der Kinder galt anderen Vögeln, die in kleinen Scharen umherschwirrten und wahre Konzerte veranstalteten. In jeder Schar befanden sich fünf oder sechs Weibchen und ein Männchen Herbert Ward: » Chex les Cennibales de l'Afrique centreal.«, dessen Federn von metallischem Glanze waren. Zumeist ließen sie sich auf alleinstehenden Akazienbäumen nieder, und zwar so, daß das Männchen sich in die Baumkrone setzte und die Weibchen etwas niedriger. Nach den ersten Tönen, bei denen sie ihre Kehlchen zu stimmen schienen, eröffnete das Männchen den Gesang. Die Weibchen hörten schweigend zu, bis es geendet hatte, dann wiederholten sie im einstimmigen Chor die letzten Töne des Gesanges. Eine kleine Pause folgte, bis das Männchen wieder von neuem zu singen anhub und die anderen wieder die letzten Töne im Chor wiederholten. Hierauf flog die ganze Schar in leisem, wellenartigem Flug auf die zunächststehende Akazie, wo das aus Solo und Chorgesang bestehende Konzert in der Stille des Mittags wiederum ertönte. Die Kinder konnten sich nicht satt daran hören. Nel hatte das Leitmotiv dieses Konzerts behalten und sang mit dem Chor der Weibchen mit ihrem feinen Stimmchen die Töne in möglichst schnellem Tempo wiederholend mit: »Tui, tui, tui, tui, twillingting ting!«
Einmal entfernten sich die Kinder, von Baum zu Baum den geflügelten Musikanten folgend, ungefähr einen Kilometer weit vom Lager, in dem die drei Neger und King und Sabà zurückgeblieben waren. Den letzteren hatte Staß, der gleichzeitig auf die Jagd gehen wollte, nicht mitgenommen, damit er ihm nicht das Wild verscheuchte. Als nun die kleine Schar endlich von der letzten Akazie auf die andere Seite eines breiten Hohlweges flog, blieb Staß stehen und sagte:
»Jetzt werde ich dich zu King zurückbringen und dann im hohen Dschungel nach Antilopen oder Zebras Umschau halten, denn Kali sagte, daß wir nur noch für zwei Tage Vorrat an geräuchertem Fleisch haben.«
»Ich bin doch schon groß«, entgegnete Nel, der immer viel daran lag, nicht für ein kleines Kind gehalten zu werden. »Ich werde also allein umkehren. Das Lager ist von hier aus ausgezeichnet zu sehen, und der Rauch auch.«
»Ich fürchte aber, du wirst dich verirren.«
»Ich werde mich nicht verirren. Im hohen Dschungel würde ich mich vielleicht verirren, aber hier – sieh nur, wie niedrig das Gras ist.«
»Es könnte dich jemand überfallen.«
»Du hast selbst gesagt, daß Löwen und Panther nicht am Tage auf Beute ausgehen. Außerdem hörst du, wie King vor Sehnsucht nach uns trompetet. Welcher Löwe wird es wagen, da zu jagen, wohin Kings Stimme dringt?«
Staß schwankte zuerst, aber schließlich willigte er ein. Das Lager und der Rauch waren tatsächlich zu sehen, und King, der sich nach Nel sehnte, trompetete alle Augenblicke. In dem niedrigen Gras war ein Verfehlen des Lagers unmöglich, und was Panther und Hyänen betraf, so brauchte man die wirklich nicht zu fürchten, da sie nur in der Nacht auf Raub ausgehen. Auch wußte Staß, daß er der Kleinen mit nichts eine solche Freude erweisen konnte, als wenn er ihr zeigte, daß er sie nicht mehr für ein kleines Kind hielt.
»Gut denn,« sprach er, »geh allein, aber geh geradeswegs und halte dich nicht unterwegs auf!«
»Aber diese Blumen kann ich doch pflücken?« Und Nel zeigte auf einen Kussostrauch Brajera anthelmitica, eine herrliche Pflanze, deren Körner eine bekannte Medizin gegen den Bandwurm sind. Sie wächst hauptsächlich im südlichen Abessinien., der mit sehr vielen rosigen Blüten bedeckt war.
Staß hatte jedoch kaum hundert Schritte zurückgelegt, als ihn eine tiefe Unruhe erfaßte. »Es war doch dumm von mir,« dachte er, »daß ich ihr erlaubte, hier in Afrika allein zu gehen, dumm! dumm! So ein Kind. Ich darf sie nicht einen Schritt allein gehen lassen ohne King. – Wer weiß, was ihr zustoßen kann? Wer weiß, ob unter diesem rosigen Strauch nicht eine Schlange lauert? Affen können aus der Schlucht hervorkommen und sie mir entführen oder sie beißen. Gott behüte! – Ich habe eine ungeheure Dummheit gemacht!«
Und seine Unruhe verwandelte sich in Zorn über sich selbst und in ein beklemmendes Angstgefühl. Ohne weiter zu überlegen, kehrte er um, wie von einer bösen Ahnung befallen. Er ging schnell, mit der außerordentlichen Gewandtheit, die er infolge seiner täglichen Jagden erlangt hatte, hielt die Flinte schußbereit und bewegte sich durch die dornigen Mimosen ohne jedes Geräusch vorwärts, ganz wie ein Panther, der sich in der Nacht zu einer Antilopenherde heranschleicht. Nach einiger Zeit hob er den Kopf aus den hohen Gräsern hervor, blickte um sich – und stand starr.
Nel stand unter dem Kussostrauch mit vorgestreckten Ärmchen, die rosigen Blumen, die sie vor Entsetzen hatte fallen lassen, lagen ihr zu Füßen, und in einer Entfernung von ungefähr zweihundert Schritten kroch ein großes, gelbgraues Tier in dem niedrigen Grase auf sie zu.
Staß sah deutlich die grünen Augen des Tieres, die auf das kreideweiße Gesicht des Kindes geheftet waren, seinen nach vorn schmaler werdenden Kopf mit den flach anliegenden Ohren, seine infolge der schleichenden und kriechenden Haltung erhobenen Schulterblätter, den langen Rumpf mit dem noch längeren Schwanz, dessen Ende sich leise katzenartig bewegte. Einen Augenblick noch – ein Sprung, und es war um Nel geschehen! – –
Bei diesem Anblick begriff der abgehärtete und an Gefahren gewöhnte Knabe in einem Augenblick, daß, wenn er jetzt nicht kaltes Blut bewahrte, wenn er sich jetzt nicht zur Ruhe und Geistesgegenwart zwingen konnte und schlecht schießen und den Angreifer nur verwunden würde, es um das kleine Mädchen geschehen sei. Und unter dem Einfluß dieses Gedankens vermochte er sich so zu beherrschen, daß seine Beine und Hände plötzlich ganz ruhig und fest wurden wie Stahlfedern. Mit einem Blick bemerkte er, daß das Tier in der Nähe seines Ohres einen dunklen Punkt hatte. Mit leichter Bewegung richtete er den Lauf der Büchse auf diesen Fleck und drückte ab.
Der Knall des Schusses, ein Aufschrei Nels und ein kurzes, heiseres Brüllen ließen sich in demselben Augenblick vernehmen. Staß sprang zu Nel, und indem er sie mit dem eigenen Körper deckte, zielte er noch einmal auf den Angreifer.
Aber der zweite Schuß erwies sich als überflüssig; denn die furchtbare Katze lag platt ausgestreckt wie ein Leichnam mit der Nase nach unten, mit in das Gras geschlagenen Pfoten, fast ohne zu zucken. Die Explosivkugel hatte ihr den ganzen Hinterkopf mitsamt den Nackenwirbeln weggerissen. Über den Augen schimmerte blutigweiß zerfetzte Gehirnmasse.
Der kleine Jäger und Nel standen eine Zeitlang, sahen das getötete Tier und dann sich gegenseitig an, ohne ein Wort hervorbringen zu können. Dann ereignete sich etwas Seltsames. Derselbe Staß, der vor kurzem durch seine Kaltblütigkeit und Ruhe den gewiegtesten Schützen der ganzen Welt in Staunen versetzt hätte, erbleichte plötzlich, seine Beine zitterten, und aus seinen Augen stürzten Tränen, er faßte seinen Kopf mit den Händen und wiederholte:
»O Nel! Nel! Wenn ich nicht umgekehrt wäre!«
Ein so tiefes Entsetzen, eine solche nachträgliche Verzweiflung überfiel ihn, daß ihm die Pulse schlugen, als wenn er fieberte. Nach der außergewöhnlich starken Beherrschung des Willens und sämtlicher Seelen- und Körperkräfte trat der Augenblick der völligen Erschöpfung und Abspannung ein. Vor seinen Augen stand das Bild des schrecklichen Tieres, das mit blutiger Schnauze in einer dunklen Höhle den zerfleischten Körper Nels verschlang. So hätte es geschehen können und wäre es geschehen, wenn er nicht umgekehrt wäre! Eine Minute, eine Sekunde länger – und es wäre zu spät gewesen! – Diesen Gedanken konnte er nicht ertragen. –
Es endete schließlich damit, daß Nel ihn trösten mußte, nachdem sie sich von dem Schreck erholt hatte. Das kleine, gutherzige Geschöpf warf beide Händchen um seinen Hals und begann unter Tränen ihn laut anzurufen, als wenn sie ihn aus dem Schlaf wecken wollte:
»Staßchen, Staßchen! mir ist nichts! Sieh doch nur, daß mir nichts ist! Staßchen, Staßchen!«
Aber er kam erst nach langer Zeit zu sich und beruhigte sich dann. Bald kam auch Kali zu den Kindern, der den nicht weit vom Lager abgegebenen Schuß gehört hatte. Er brachte, da er wußte, daß der »Bwana Kubwa« nicht fehl schießt, gleich ein Pferd mit, um das erlegte Wild abzuholen. Als der junge Neger das getötete Tier erblickte, sprang er jäh zurück, und sein Gesicht wurde aschgrau.
»Wobo!« schrie er.
Die Kinder näherten sich jetzt erst dem schon starr gewordenen Körper; denn Staß hatte bis dahin keinen rechten Begriff gehabt, was für ein Raubtier er durch seinen Schuß getötet hatte. Auf den ersten Blick meinte er, daß es ein außergewöhnlich grober Serval wäre Graue Tiere von der Größe eines Luchses, eine Katzenart., jedoch bei näherer Betrachtung erkannte er, daß dem nicht so war. Das getötete Tier übertraf an Größe sogar einen Leoparden. Sein gelbes Fell war mit kastanienfarbenen Punkten übersät, aber es hatte einen schmaleren Kopf als der Leopard, wodurch es ein wenig einem Wolfe ähnelte, seine Beine waren höher, die Tatzen breiter und seine Augen riesengroß. Eins von ihnen hatte Staß Kugel herausgeschossen, das andere war noch unbeweglich und schauerlich auf die Kinder gerichtet. Staß kam zu der Überzeugung, daß es irgendeine Pantherart sei, von der die Zoologen noch ebensowenig wußten wie die Geographen vom Basso-Narok.
Kali blickte mit dem größten Entsetzen auf das hingestreckte Tier; er wiederholte leise, als wenn er es zu wecken fürchtete:
»Wobo! – – Der große Herr hat einen Wobo getötet!«
Staß wandte sich zu der kleinen Nel, legte seine Hand auf ihr Köpfchen, wie um sich endgültig zu überzeugen, daß der Wobo sie nicht geraubt hatte, und sagte:
»Siehst du, Nel, siehst du, wenn du selbst riesengroß wärest, so dürftest du doch nicht im Dschungel allein umhergehen.«
»Das ist wahr, Staßchen«, entgegnete Nel mit zerknirschter Miene. »Aber mit dir oder King darf ich doch?«
»Erzähle doch, wie war es denn? Hast du es gehört, wie er sich dir näherte?«
»Nein. – – – Nur aus den Blumen flog eine große, goldene Fliege heraus, nach der ich mich umdrehte, und da erblickte ich es, wie es aus dem Hohlweg herauskroch.«
»Und dann?«
»Und dann blieb es stehen und sah mich an.«
»Hat es dich lange angesehen?«
»Lange, Staßchen. Erst als ich die Blumen fallen ließ und mich vor ihm mit den Händen schützen wollte, begann es auf mich zuzukriechen –«
Staß fiel ein, daß, wenn Nel eine Negerin gewesen wäre, er sie sofort zerrissen hätte, und daß sie ihre Rettung nur dem Staunen des Tieres verdankte, das beim Anblick eines ihm ganz unbekannten Wesens nicht gleich wußte, was es tun sollte.
Und ein Schauder durchflog wieder des Knaben Körper.
»Gott sei Dank! Gott sei Dank, daß ich umgekehrt bin!«
Dann fragte er weiter:
»Was hast du dir denn in dem Augenblick gedacht?«
»Ich wollte nach dir rufen, und – – ich konnte nicht, aber – –«
»Aber ich dachte, daß du mich beschützen würdest. – – Ich weiß selbst nicht.« –
Bei diesen Worten umfaßte sie ihn wieder, und er strich liebevoll über ihr Haar.
»Fürchtest du dich nicht mehr?«
»Nein!«
»Mein kleiner Mzimu! Mein Mzimu! – Siehst du, das heißt in Afrika leben.«
»Ja, aber du wirst jedes abscheuliche Tier töten?«
»Das werde ich tun.«
Beide betrachteten wieder das Raubtier. Staß, der zur Erinnerung das Fell aufbewahren wollte, befahl Kali, es abzuziehen. Kali jedoch, der befürchtete, daß ein zweiter Wobo aus dem Hohlweg herauskriechen könnte, bat Staß, ihn nicht allein zu lassen. Und als Staß ihn fragte, ob er den Wobo denn mehr fürchte als den Löwen, antwortete er:
»Löwe brüllt in der Nacht, aber springt nicht über Hecke. Wobo aber springt am hellen Tag hinüber, tötet viele Neger im Dorf, zerreißt dann einen und frißt auf. Vor Wobo schützen keine Lanzen, keine Armbrust, nur Zauber, denn Wobo kann man nicht töten.«
»Dummheit!« sagte Staß. »Sieh dir den hier doch an, ob er nicht tot ist.«
»Ein weißer Herr kann Wobo töten, ein schwarzer Mensch nie!« entgegnete Kali.
Diese Begebenheit endete damit, daß die Riesenkatze mit einem Strick an das Pferd gebunden und so in das Lager geschleppt wurde. Staß sollte jedoch nicht in den Besitz des Felles gelangen, und das war Kings Verschulden. Das kluge Tier hatte anscheinend erraten, daß der Wobo seine Herrin zerreißen wollte; denn als er das Tier erblickte, geriet er in einen solchen Zorn, daß es nicht einmal Staß' Befehlen gelang, ihn zu bändigen. King ergriff das getötete Tier mit seinem Rüssel, warf es zweimal in die Höhe, schleuderte es mehrfach gegen einen Baum und zerstampfte es schließlich mit den Beinen, so daß er es in eine formlose, breiige Masse verwandelte. Staß gelang es nur, die Kiefer zu retten, die er mit den anderen Schädelresten einer Ameisenkolonne in den Weg legte. Diese säuberten die Knochen so völlig im Verlaufe einer Stunde, daß nicht eine Spur von Fleisch oder Blut mehr an ihnen zu finden war.