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»Nel, kannst du unsere Reisen von Fayum an aufzählen?« fragte Staß.
»Ich denke wohl.«
Bei diesen Worten zog die Kleine nachdenklich die Brauen hoch und begann, an den Fingern abzuzählen.
»Warte. Von Fayum nach Chartum – die erste – von Chartum nach Faschoda – die zweite – von Faschoda nach der Schlucht, in der wir King fanden – die dritte – und vom Lindeberg bis zum See – die vierte.«
»Ja. – In der ganzen Welt gibt es wohl keine zweite Fliege, die solch ein Stück von Afrika durchfliegen würde.«
»Schön würde diese Fliege aussehen, wenn sie dich nicht hätte!«
Und Staß begann zu lachen.
»Eine Fliege auf einem Elefanten, haha! Eine Fliege auf einem Elefanten!«
»Aber keine Tse-tse! Nicht wahr, Staßchen? Keine Tse-tse?«
»Nein,« entgegnete er, »sogar eine ziemlich liebe Fliege.«
Nel, glücklich über das Lob, lehnte ihr Köpfchen an seine Schulter und fragte weiter:
»Und wann brechen wir zur fünften Reise auf?«
»Sobald du dich ausgeruht haben wirst und ich den Negern, die Kali mir mitzugeben versprach, das Schießen etwas beigebracht haben werde.«
»Und werden wir lange reisen müssen?«
»Oi! lange, Nel! – lange! Wer weiß, ob es nicht unsere längste Reise sein wird!«
»Aber du wirst dir schon zu helfen wissen, wie immer.«
»Ich muß wohl!«
Und in der Tat, Staß half sich, wie er nur konnte; denn diese fünfte Reise verlangte viele Vorbereitungen. Sie mußten wieder in unbekannte Länder vordringen, in denen ihnen die verschiedensten Gefahren drohten. Daher versuchte Staß, sich vor ihnen besser zu sichern, als er es vordem tun konnte. Er lehrte daher vierzig junge Wa-hima, aus Remingtongewehren zu schießen, denn sie sollten die bewaffnete Hauptmacht, gewissermaßen Nels Garde bilden. Mehr Schützen konnte er nicht ausbilden, da King nur fünfundzwanzig Karabiner und die Pferde nur fünfzehn hatten tragen können. Den Rest des Heeres sollten hundert mit Lanzen und Armbrüsten bewaffnete Wa-hima und hundert Samburu bilden, die Faru ihm versprochen hatte, mitzugeben, damit sie möglichst alle Schwierigkeiten auf der Reise durch das große, wilde, von Samburunegern besetzte Land beseitigten. Nicht ohne Stolz dachte Staß daran, daß er aus Faschoda nur mit Nel und zwei Negern gänzlich ohne Hilfsmittel geflohen war und nun an die Küste des Ozeans mit zweihundert bewaffneten Negern, mit einem Elefanten und mit Pferden kommen würde. Er stellte sich vor, was die Engländer, die Mut und Tatkraft so hoch schätzen, sagen, vor allem aber, wie sein Vater und Herr Rawlison sein Tun beurteilen würden. Und dieser Gedanke ließ ihn alle Mühen leichter ertragen.
Dennoch war er noch nicht so recht über Nels und sein Schicksal beruhigt. Zwar, das von den Samburu und den Wa-hima besetzte Land zu durchziehen, würde keine Gefahren bringen, – aber was dann weiter? Auf welche anderen Stämme würde er stoßen? Was für Gegenden mußten sie durchreisen, und wie weit war der Weg, den sie noch zurückzulegen hatten? Lindes Andeutungen waren zu allgemein gehalten. Am meisten quälte es Staß, daß er eigentlich gar nicht wußte, wo er sich befand; denn dieser Teil Afrikas glich auf den geographischen Karten einem unbeschriebenen Blatt. Er hatte daher keinerlei Vorstellung von der Lage und Größe des Basso-Narok. Zurzeit befand er sich am Südufer des Sees, der hier ungefähr zehn Kilometer breit war. Aber wie weit sich der See nach Norden ausdehnte, das konnten ihm weder die Wa-hima noch die Samburu sagen. Kali antwortete ihm auf alle Fragen nur: »bali! bali!«, d. h. weit! weit! Mehr vermochte er aus ihm nicht herauszubringen.
Da die Berge, die im Norden den Horizont verdeckten, ziemlich nahe zu liegen schienen, nahm Staß an, daß es ein nicht zu breiter Bergsee sei, wie man deren viele in Afrika findet. Einige Jahre später stellte sich heraus, daß er sich in einem großen Irrtum Es war ein großer See, den 1888 der bekannte Reisende Teleki entdeckte und Rudolf-See benannte. befand. Augenblicklich lag Staß weniger an der Kenntnis der Ausdehnung des Basso-Narok, als daran, zu wissen, ob ihm nicht ein Fluß entströmte, der sich in den Ozean ergösse.
Die Untertanen des Faru behaupteten, daß im Osten ihres Landes eine große, wasserlose Wüste lag, die noch kein Mensch durchreist hätte. Staß, der die Neger von den Erzählungen vieler Reisenden, von Linde her und auch aus eigener Erfahrung kannte, wußte, daß viele von ihnen, vielleicht gar alle, einfach umkehren würden, sobald Gefahren und Mühseligkeiten ihren Anfang nahmen. In diesem Falle befand er sich allein mit Nel in der Wüste. Vor allem aber wußte er, daß Wassermangel die Karawane sofort auseinandersprengen würde. Darum forschte er so nachdrücklich nach einem Fluß, an dessen Ufern man der schrecklichen Gefahr des Verdurstens, der Reisende in wasserarmen Gegenden so oft ausgesetzt sind, entgehen konnte.
Die Samburu konnten ihm jedoch nichts Sicheres darüber mitteilen, und er selbst konnte keine längere Orientierungsreise am Ostufer unternehmen, weil ihm andere Angelegenheiten in Boko festhielten. Er hatte sich ausgerechnet, daß wahrscheinlich kein einziger der Drachen, die er vom Lindeberg oder unterwegs von den Negerdörfern aus hatte aufsteigen lassen, die Bergkette, die den Basso-Narok umgab, überflogen hatte. Daher hieß es jetzt, neue anzufertigen und fliegen zu lassen, denn erst jetzt konnte der Wind sie über die flache Wüste weit hinweg und bis zum Ozean tragen. Diese Arbeit mußte er zum Teil persönlich leiten, da Nel wohl verstand, Drachen zu kleben, die Kali aufsteigen lassen konnte, – aber niemand außer Staß war imstande, alles das aufzuschreiben, was geschrieben werden mußte. Und da Staß sich viel von den Drachen versprach, mochte er diese Arbeit nicht vernachlässigen. So kam es, daß die Karawane erst nach drei Wochen reisefertig war. Am Vorabend der Abreise, die bei Tagesanbruch stattfinden sollte, erschien der junge König der Wa-hima bei Staß, verbeugte sich tief und sagte:
»Kali gehen mit dem großen Herrn und Bibi bis zum Wasser, wo die großen Boote der weißen Menschen schwimmen.«
Staß rührte dieser Beweis von Kalis Anhänglichkeit, aber er begriff, daß er kein Recht hatte, den Knaben auf eine so weite Reise mitzunehmen, von der zurückzukehren sehr ungewiß war.
»Wozu willst du mit uns kommen?« fragte er.
»Kali lieben großen Herrn und Bibi.«
Staß legte seine Hand auf Kalis Krauskopf.
»Ich weiß wohl, Kali, daß du ein rechtschaffener und guter Mensch bist, aber was soll aus dem Königreich werden, und wer wird für die Wa-hima regieren?«
»M'Tana, der Bruder von Kalis Mutter.«
Staß, der wußte, daß man auch unter den Negern um die Herrschaft kämpft, und daß die Herrscherwürde den Negern ebenso begehrenswert ist wie den weißen Menschen, überlegte einen Augenblick und sagte dann:
»Nein, Kali, ich kann dich nicht mitnehmen. Du mußt bei den Wa-hima bleiben und gute Menschen aus ihnen machen.«
»Kali kehrt zu ihnen zurück.«
»M'Tana hat viele Söhne. Was wird sein, wenn er selbst König werden und das Königreich seinen Söhnen hinterlassen will und zu diesem Zweck die Wa-hima überredet, dich zu verjagen?«
»M'Tana ist gut, er macht das nicht.«
»Wenn er es aber doch tut?«
»Dann wird Kali wieder an das große Wasser zum Herrn und Bibi gehen.«
»Wir werden dann aber nicht mehr dort sein.«
»Kali wird sich dann ans Wasser setzen und vor Herzeleid weinen.«
Bei diesen Worten legte er die Hände auf den Kopf und flüsterte nach einiger Zeit:
»Kali sehr lieben großen Herrn und Bibi! – sehr!« – Und zwei große Tränen erglänzten in seinen Augen.
Staß begann zu schwanken, wie er sich entscheiden sollte. Kali tat ihm leid, aber er willigte nicht gleich in seine Bitte ein. Er verstand, daß, abgesehen von der gefahrvollen Rückkehr, M'Tana oder die Zauberer die Neger in Kalis Abwesenheit aufwiegeln konnten, und daß ihm dann nicht nur die Vertreibung, sondern der Tod drohte.
»Kali, es wird für dich besser sein, wenn du bleibst,« fuhr Staß fort »viel, viel besser!«
Als er diese Worte sprach, trat Nel herein, die die ganze Unterhaltung im Nebenraum gehört hatte, der nur durch eine dünne Matte von dem anderen getrennt war. Sie bemerkte die Tränen in Kalis Augen, trocknete sie ihm mit den Fingern ab und wandte sich dann zu Staß:
»Kali wird mit uns gehen!« sagte sie mit großer Entschiedenheit.
»Oho!« antwortete Staß ein wenig bestürzt, »das hängt nicht von dir ab!«
»Kali wird mit uns gehen!« wiederholte Nel.
»Oder er wird nicht mit uns gehen!«
Plötzlich stampfte die Kleine mit dem Füßchen auf.
»Ich will es!«
Dann begann sie herzzerbrechend zu weinen.
Staß sah sie mit maßlosem Erstaunen an; er begriff einfach nicht, was aus dem sanften kleinen Mädchen geworden war. Als er aber sah, daß sie beide Fäustchen vor die Augen preßte und wie ein Vögelchen mit geöffnetem Mund nach Luft schnappte, rief er ganz schnell:
»Kali geht mit uns! er geht! er geht! Was weinst du denn? Das ist ja einfach nicht auszuhalten! – Er geht schon! – Wie sie mich zu nehmen versteht! – Er geht ja! – Hörst du?«
Und so geschah es. Staß schämte sich den ganzen Abend seiner Schwäche dem »guten Mzimu« gegenüber, und der »gute Mzimu« war, nachdem er seinen Willen durchgesetzt hatte, so still, sanft und gehorsam wie immer.