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Am nächsten Tage regnete es etwas, aber es gab auch Stunden guten Wetters. Staß machte sich in aller Frühe auf den Weg, um die Gegend zu besichtigen, und bis zum Mittag hatte er alle Winkelchen und Ecken durchsucht. Die Umschau fiel im allgemeinen vortrefflich aus. Hinsichtlich der Sicherheit war der Lindeberg ein auserlesener Punkt in ganz Afrika. Höchstens Schimpansen konnten seine Abhänge erklimmen, weder Löwen noch Panther waren imstande, bis zum Plateau vorzudringen. Was den zu ihm führenden Felsenkamm anbetraf, so genügte es, King an seinem Ausgang aufzustellen, um ruhig auf beiden Ohren schlafen zu können. Staß kam auch zu der Überzeugung, daß er sich hier sogar gegen eine kleinere Schar von Derwischen verteidigen könnte; denn der Weg war so schmal, daß King kaum hindurchgehen konnte. Und ein mit einer guten Waffe versehener Mensch war imstande, den Durchgang für jedes lebende Wesen zu sperren. In der Mitte dieser »Insel« befand sich eine Quelle kalten, kristallklaren Wassers, die sich als Bach durch den Bananenhain hindurchschlängelte und schließlich in einem schmalen, bandähnlichen Streifen als Wasserfall von dem hohen Abhang herunter in den Fluß stürzte. Im Süden der »Insel« lagen Felder, die üppig von Manioka bewachsen waren, deren Wurzeln den Negern ein beliebtes Nahrungsmittel liefern. Hinter den Feldern erhoben sich Gruppen mächtiger, hochgewachsener Kokospalmen, deren Kronen herrliche Fächer bildeten.
Die »Insel« war rings vom Dschungelmeer umgeben, und der Ausblick von oben war ein ungeheuer weiter. Im Osten zog sich in einem blauen Bande das Karamoyogebirge hin. Auch im Süden erhoben sich nicht unbedeutende Berge, deren dunkle Farbe darauf schließen ließ, daß sie mit Wäldern bedeckt waren. Dagegen konnte das Auge nach Westen ungehindert bis zum fernen Horizont schweifen, wo das Dschungel mit dem Himmel zusammentraf. Mit Hilfe von Lindes Fernrohr erblickte Staß jedoch weite Schluchten und viele vereinzelt stehende mächtige Bäume, die sich wie Kirchen über Gräbern ausnahmen. An den Stellen, wo die Gräser noch nicht zu hoch gewachsen waren, konnte man sogar mit bloßem Auge ganze Herden von Antilopen und Zebras erblicken oder Scharen von Elefanten und Büffeln. Hier und da durchschnitten Giraffen die graugrüne Fläche des Dschungels, wie Fahrzeuge den Meeresspiegel durchschneiden. Am Flusse spielten einige Wasserböcke, andere tauchten alle Augenblicke mit ihren gehörnten Stirnen aus der Tiefe empor. Dort, wo das Wasser nicht bewegt war, sprangen fortwährend jene Fische in die Höhe, die Kali geangelt hatte. Sie glänzten in der Luft wie silberne Sterne und fielen dann wieder zurück in das Wasser. Staß nahm sich vor, sofort nach Eintritt guten Wetters Nel hierherzuführen, um ihr diese ganze Menagerie zu zeigen.
Auf der »Insel« dagegen lebten keinerlei große Tiere, aber dafür eine Menge Schmetterlinge und Vögel. Große, schneeweiße Papageien mit schwarzen Schnäbeln und gelben Schöpfen flogen über den Büschen dahin; winzige, wundervoll gefiederte Witwen wiegten sich auf den dünnen Stengeln der Maniokpflanzen und schimmerten und glänzten wie Edelsteine. Und von den hohen Kokospalmen klangen die Rufe des afrikanischen Kuckucks und das sanfte, Seufzern ähnliche Girren der Turteltauben.
Staß kehrte mit froher Seele von diesem Rundgang zurück. »Die Luft ist gesund,« sagte er sich, »die Sicherheit unbedingt, Nahrungsmittel in Hülle und Fülle, und dabei ist es schön hier wie im Paradiese!«
Als er zu Nels Hütte zurückkam, überzeugte er sich, daß es dennoch auf der Insel größere Tiere gab; denn Nasibu hatte im Bananendickicht eine Ziege mit ihrem Jungen entdeckt, die die Derwische nicht mit fortgeführt hatten. Die Ziege war schon ein wenig verwildert, aber das Zicklein befreundete sich sofort mit Nasibu, der grenzenlos erfreut war über seine Entdeckung und darüber, daß Bibi nun durch sein Dazutun täglich ausgezeichnete frische Milch haben würde. – – – –
»Was werden wir nun anfangen, Staßchen?« fragte eines Tages Nel, als sie sich auf der Insel häuslich eingerichtet hatten.
»Arbeit gibt es genug«, sprach der Knabe, und indem er die Finger seiner Hand ausspreizte, begann er an ihnen die auf sie wartenden Arbeiten aufzuzählen:
»Erstens, Kali und Mea sind Heiden, Nasibu als Sansibare Mohammedaner. Man muß sie unterrichten, zum Glauben bekehren und taufen. Zweitens muß sehr viel Fleisch für unsere bevorstehende Weiterreise geräuchert werden, dazu muß ich auf die Jagd gehen. Drittens, da wir Waffen und Patronen genug haben, will ich Kali das Schießen lehren, damit wir unser zwei zur Verteidigung sind. Und viertens, hast du denn ganz die Drachen vergessen?«
»Die Drachen?«
»Ja, die du leimen wirst, oder, was noch besser sein wird, die du nähst. Und das wird deine Beschäftigung sein.«
»Ich möchte aber nicht nur Spielerei treiben.«
»Das ist auch keine Spielerei, sondern vielleicht die nützlichste Arbeit von allen. Glaube nicht, daß es bei einem bleiben wird, du mußt ihrer fünfzig oder noch mehr anfertigen.«
»Aber wozu so viele?« fragte das neugierig gewordene kleine Mädchen.
Und Staß begann, ihr seine Pläne und Hoffnungen darzulegen. Auf jedem Drachen wollte er aufschreiben, wie sie heißen, daß sie sich aus den Händen der Derwische befreit hatten, wo sie sich befanden, und wohin sie zu reisen gedachten. Auch wollte er vermerken, daß sie um Hilfe bitten und um die Aufgabe einer Depesche nach Port Said. Und diese Drachen wollte er steigen lassen, sobald der Wind von Westen nach Osten wehen würde.
»Viele von ihnen«, sprach er, »werden nicht weit fortfliegen, viele andere werden durch die Berge aufgehalten werden. Aber wenn auch nur einer zur Küste fliegt und in europäische Hände gelangt, so sind wir gerettet!«
Nel war ganz begeistert von dem Plan. Sie erklärte, daß es nicht einmal King mit Staß' Klugheit aufnehmen könnte. Sie war fest überzeugt davon, daß sogar viele Drachen nicht nur an ihr Ziel, sondern sogar direkt zu ihren beiden Vätern kommen würden. Und sie versprach, vom Morgen bis zum Abend Drachen zu leimen. Ihre Freude war so groß, daß Staß ihren Eifer dämpfen mußte, weil er befürchtete, daß sie wieder Fieber bekäme.
Von nun an führten sie die Arbeiten, von denen Staß gesprochen hatte, alle mit großem Eifer aus. Kali, dem aufgetragen worden war, möglichst viel von den springenden Fischen einzufangen, hörte auf, dies mit der Angel zu tun. Er baute statt dessen aus dünnen Bambusstäben eine Art hohen Zaunes, richtiger gesagt, eine Art Gitter, und stellte diese Sperre quer in den Fluß. In der Mitte des Gitters befand sich eine große Öffnung, durch die die Fische, wenn sie wieder in freies Wasser gelangen wollten, notwendig hindurch mußten. Diesen Durchgang versperrte er mit einem kräftigen, aus Palmschnüren geflochtenen Netz. Auf diese Weise sicherte er sich täglich einen reichen Fang. Mit Kings Hilfe trieb Kali die Fische in das verräterische Netz. Er führte den Elefanten in das Wasser, das dieser so aufrührte und trübte, daß nicht nur die silbernen Springfische, sondern auch andere Geschöpfe in die klare Wassertiefe flohen. Dabei kam es dann auch oft zu Zerstörungen der Anlage, denn die fliehenden Krokodile stürzten das Gitter um. Manchmal tat es auch King selbst. Da er gegen die Krokodile einen angeborenen Haß hegte, so eilte er ihnen nach. Fand er sie im flachen Wasser, so ergriff er sie mit dem Rüssel, schleuderte sie an das Ufer und zerstampfte sie dann.
Oft fanden sich in den Netzen auch Schildkröten, aus denen die kleinen Verbannten sich dann ausgezeichnete Suppe kochten. Kali machte die gefangenen Fische zurecht, trocknete ihr Fleisch in der Sonne und brachte die Blasen Nel, die sie aufschnitt, auf einem Brett spannte und sie in ungefähr zwei Hände große Papierblätter verwandelte.
Staß und Mea halfen ihr bei dieser Arbeit, die durchaus nicht leicht war. Die Häutchen waren zwar gröber als die der Blasen unserer Flußfische, aber nach dem Trocknen wurden sie äußerst brüchig. Erst nach einiger Zeit entdeckte Staß, daß man sie im Schatten trocknen müßte. Zeitweilig verlor er jedoch bei dieser Arbeit die Geduld, und daß er es nicht aufgab, die Drachen aus Häutchen zu fertigen, geschah nur, weil er sie leichter und im Regen für widerstandsfähiger hielt als solche aus Papier. Es nahte zwar die trockene Jahreszeit, aber es war doch nicht sicher, daß es im Sommer nicht auch manchmal regnete, besonders im Gebirge.
Er klebte jedoch auch Drachen aus Papier, da er unter Lindes Sachen viel Vorrat gefunden hatte. Der erste große und leichte Drachen, den er bei Westwind steigen ließ, erhob sich gleich sehr hoch, und nachdem Staß ihn von der Schnur losgeschnitten hatte, flog er, von einem starken Luftstoß mit fortgetragen, nach dem Karamoyogebirge hin. Staß beobachtete seinen Flug mit Hilfe des Fernrohres, bis er so klein wurde wie ein Schmetterling, dann wie eine Fliege, die schließlich im klaren Blau des Himmels verschwand. Am folgenden Tage ließ er einen zweiten, schon aus Fischblasen gefertigten, los, der stieg noch schneller hoch, war aber, wahrscheinlich wegen der Durchsichtigkeit der Häutchen, sehr bald ihren Augen gänzlich entschwunden.
Nel arbeitete außerordentlich eifrig. Zuletzt wurden ihre kleinen Fingerchen so geschickt, daß weder Staß noch Mea mit ihr in der Arbeit Schritt halten konnten. An Kräften mangelte es ihr jetzt nicht mehr. Das gesunde Klima des Lindeberges hatte sie neu belebt. Die Zeit für den dritten, tödlichen Fieberanfall war endgültig vorüber. Staß hatte sich an dem letzten Tage in das Dickicht des Bananenhaines verkrochen und vor Freude Tränen vergossen. Nach zweiwöchigem Aufenthalte auf dem Berge bemerkte er, daß der »gute Mzimu« ganz anders aussah als unten im Dschungel. Ihre Bäckchen waren wieder rund geworden, statt der grauen, gelben und durchsichtigen Farbe hatten sie sich rosig überzogen, und ihre Äuglein blickten froh und voller Glanz unter dem reichen Kopfhaar in die Welt. Der Knabe segnete die kühlen Nächte, das klare, gesunde Wasser, das Bananenmehl und vor allem Linde.
Er selbst war abgemagert und braun gebrannt, was als ein Zeichen dafür galt, daß das Fieber ihm nichts anhaben würde, denn die am Fieber Erkrankten verbrennen nicht in der Sonne. Aber er war gewachsen und männlicher geworden. Die Bewegung und die physische Arbeit stählten ihm die Muskelkraft und auch seine Tüchtigkeit. Seine Arm- und Beinmuskeln waren wie aus Stahl gegossen. Er glich nun wirklich einem abgehärteten Afrikareisenden. Da er jeden Tag auf die Jagd ging und nur mit Kugeln schoß, so wurde er ein unvergleichlicher Schütze. Vor wilden Tieren hatte er gar keine Furcht mehr, denn er wußte, daß eine Begegnung mit ihm den zottigen oder gestreiften Jägern im Dschungel viel gefährlicher war als ihm selbst. Einmal erlegte er mit einem Schuß ein großes Nashorn, das, aus dem Schlummer unter einer Akazie erwacht, ihn plötzlich angriff. Aus den afrikanischen Büffeln, die leicht geneigt sind, einen Menschen anzufallen, und die oft ganze Karawanen auseinandertreiben, machte er sich gar nichts.
Beide Kinder fanden neben ihren vielen Beschäftigungen noch Zeit, Kali, Mea und Nasibu zu bekehren. Aber das ging schwieriger vor sich, als sie erwartet hatten. Das schwarze Trio hörte mit größter Lust der Belehrung zu, aber sie verstanden sie auf ihre, den Negern eigene Art. Als Staß ihnen von der Erschaffung der Welt erzählte, vom Paradiese und der Schlange, machte sich die Sache leidlich. Aber als er zu der Stelle kam, wo Kain Abel erschlug, streichelte sich Kali unwillkürlich den Bauch und fragte in aller Ruhe:
»Hat er ihn nachher aufgegessen?«
Der schwarze Junge behauptete zwar immer, daß die Wa-himas nie Menschen fräßen; aber anscheinend lebte die Erinnerung daran noch als eine Art Volkstradition bei ihnen fort.
Er konnte ebenfalls nicht begreifen, weshalb der Herrgott nicht den schlechten »Mzimu« tötet und viele andere ähnliche Dinge mehr. Über die Begriffe von Gut und Böse hatte er auch zu sehr afrikanische Ansichten, und es kam daher einmal zwischen dem Lehrer und Schüler zu folgender Unterhaltung:
»Sage mir,« fragte Staß, »was ist denn eine schlechte Tat?«
»Wenn jemand Kali die Kühe wegnimmt,« antwortete Kali nach kurzer Überlegung, »das ist eine schlechte Tat.«
»Ausgezeichnet«, rief Staß. »Und eine gute?«
Diesmal kam die Antwort ohne Zaudern.
»Eine gute, wenn Kali jemand die Kühe wegnimmt.«
Staß war zu jung, um zu wissen, daß solche Ansichten über gute und schlechte Taten in Europa nicht nur von Politikern, sondern auch von ganzen Völkern ausgesprochen werden.
Jedoch nach und nach dämmerte es in den schwarzen Köpfen, und das, was diese nicht begriffen, erfaßten ihre Herzen. Nach einiger Zeit konnte man schon an die Taufe denken, die sehr feierlich vor sich ging. Die Taufpaten schenkten jedem Täufling je vier Dotis Ein Maß, das der polnischen Elle gleichkommt. weißen Perkal und je eine Schnur himmelblauer Glasperlen. Mea fühlte sich jedoch ein wenig enttäuscht, denn in ihrem kindlichen Verstande hatte sie geglaubt, daß sie sogleich nach der Taufe eine weiße Haut bekäme. Und ihr Erstaunen war groß, als sie bemerkte, daß sie schwarz geblieben war. Nel tröstete sie aber, indem sie ihr versicherte, daß sie nun eine weiße Seele habe.