Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Montag, den 2. [?] August 1830*

Die Nachrichten von der begonnenen Julirevolution gelangten heute nach Weimar und setzten alles in Aufregung. Ich ging im Laufe des Nachmittags zu Goethe. »Nun,« rief er mir entgegen, »was denken Sie von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen; alles steht in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung bei geschlossenen Türen!«

»Eine furchtbare Geschichte!« erwiderte ich. »Aber was ließ sich bei den bekannten Zuständen und bei einem solchen Ministerium anderes erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen königlichen Familie endigen würde.«

»Wir scheinen uns nicht zu verstehen, mein Allerbester«, erwiderte Goethe. »Ich rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge. Ich rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekommenen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire!«

Diese Äußerung Goethes war mir so unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte, und daß ich während einiger Minuten einen völligen Stillstand in meinen Gedanken verspürte.

»Die Sache ist von der höchsten Bedeutung,« fuhr Goethe fort, »und Sie können sich keinen Begriff machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli empfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de Saint-Hilaire einen mächtigen Alliierten auf die Dauer. Ich sehe aber zugleich daraus, wie groß die Teilnahme der französischen wissenschaftlichen Welt an dieser Angelegenheit sein muß, indem, trotz der furchtbaren politischen Aufregung, die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten Hause stattfand. Das Beste aber ist, daß die von Geoffroy in Frankreich eingeführte synthetische Behandlungsweise der Natur jetzt nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Angelegenheit ist durch die freien Diskussionen in der Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Publikums, jetzt öffentlich geworden, sie läßt sich nicht mehr an geheime Ausschüsse verweisen und bei geschlossenen Türen abtun und unterdrücken. Von nun an wird auch in Frankreich bei der Naturforschung der Geist herrschen und über die Materie Herr sein. Man wird Blicke in große Schöpfungsmaximen tun, in die geheimnisvolle Werkstatt Gottes! – Was ist auch im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analytischem Wege bloß mit einzelnen materiellen Teilen uns zu schaffen machen, und wir nicht das Atmen des Geistes empfinden, der jedem Teile die Richtung vorschreibt und jede Ausschweifung durch ein inwohnendes Gesetz bändigt oder sanktioniert!

Ich habe mich seit funfzig Jahren in dieser großen Angelegenheit abgemüht; anfänglich einsam, dann unterstützt und zuletzt zu meiner großen Freude überragt durch verwandte Geister. Als ich mein erstes Aperçu vom Zwischenknochen an Peter Camper schickte, ward ich zu meiner innigsten Betrübnis völlig ignoriert. Mit Blumenbach ging es mir nicht besser, obgleich er nach persönlichem Verkehr auf meine Seite trat. Dann aber gewann ich Gleichgesinnte an Sömmering, Oken, D'Alton, Carus und anderen gleich trefflichen Männern. Jetzt ist nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle seine bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert, und ich jubele mit Recht über den endlich erlebten allgemeinen Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet habe und die ganz vorzüglich auch die meinige ist.«


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