Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Freitag, den 10. April 1829

»In Erwartung der Suppe will ich Ihnen indes eine Erquickung der Augen geben.« Mit diesen freundlichen Worten legte Goethe mir einen Band vor mit Landschaften von Claude Lorrain.

Es waren die ersten, die ich von diesem großen Meister gesehen. Der Eindruck war außerordentlich, und mein Erstaunen und Entzücken stieg, sowie ich ein folgendes und abermals ein folgendes Blatt umwendete. Die Gewalt der schattigen Massen hüben und drüben, nicht weniger das mächtige Sonnenlicht aus dem Hintergrunde hervor in der Luft und dessen Widerglanz im Wasser, woraus denn immer die große Klarheit und Entschiedenheit des Eindrucks hervorging, empfand ich als stets wiederkehrende Kunstmaxime des großen Meisters. So auch hatte ich mit Freude zu bewundern, wie jedes Bild durch und durch eine kleine Welt für sich ausmachte, in der nichts existierte, was nicht der herrschenden Stimmung gemäß war und sie beförderte. War es ein Seehafen mit ruhenden Schiffen, tätigen Fischern und dem Wasser angrenzenden Prachtgebäuden; war es eine einsame dürftige Hügelgegend mit naschenden Ziegen, kleinem Bach und Brücke, etwas Buschwerk und schattigem Baum, worunter ein ruhender Hirte die Schalmei bläst; oder war es eine tiefer liegende Bruchgegend mit stagnierendem Wasser, das bei mächtiger Sommerwärme die Empfindung behaglicher Kühle gibt; immer war das Bild durch und durch eins, nirgends die Spur von etwas Fremdem, das nicht zu diesem Element gehörte.

»Da sehen Sie einmal einen vollkommenen Menschen,« sagte Goethe, »der schön gedacht und empfunden hat und in dessen Gemüt eine Welt lag, wie man sie nicht leicht irgendwo draußen antrifft. Die Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit. Claude Lorrain kannte die reale Welt bis ins kleinste Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt seiner schönen Seele auszudrücken. Und das ist eben die wahre Idealität, die sich realer Mittel so zu bedienen weiß, daß das erscheinende Wahre eine Täuschung hervorbringt als sei es wirklich.«

»Ich dächte,« sagte ich, »das wäre ein gutes Wort, und zwar ebenso gültig in der Poesie wie in den bildenden Künsten.«

»Ich sollte meinen«, sagte Goethe.

»Indessen«, fuhr er fort, »wäre es wohl besser, Sie sparten sich den ferneren Genuß des trefflichen Claude zum Nachtisch, denn die Bilder sind wirklich zu gut, um viele davon hintereinander zu sehen.«

»Ich fühle so,« sagte ich, »denn mich wandelt jedesmal eine gewisse Furcht an, wenn ich das folgende Blatt umwenden will. Es ist eine Furcht eigener Art, die ich vor diesem Schönen empfinde, so wie es uns wohl mit einem trefflichen Buche geht, wo gehäufte kostbare Stellen uns nötigen innezuhalten und wir nur mit einem gewissen Zaudern weiter gehen.«

»Ich habe dem König von Bayern geantwortet,« versetzte Goethe nach einer Pause, »und Sie sollen den Brief lesen.«

»Das wird sehr lehrreich für mich sein,« sagte ich, »und ich freue mich dazu.«

»Indes«, sagte Goethe, »steht hier in der ›Allgemeinen Zeitung‹ ein Gedicht an den König, das der Kanzler mir gestern vorlas und das Sie doch auch sehen müssen.«

Goethe gab mir das Blatt, und ich las das Gedicht im stillen.

»Nun, was sagen Sie dazu?« sagte Goethe.

»Es sind die Empfindungen eines Dilettanten,« sagte ich, »der mehr guten Willen als Talent hat und dem die Höhe der Literatur eine gemachte Sprache überliefert, die für ihn tönet und reimet, während er selber zu reden glaubt.«

»Sie haben vollkommen recht,« sagte Goethe, »ich halte das Gedicht auch für ein sehr schwaches Produkt; es gibt nicht die Spur von äußerer Anschauung, es ist bloß mental, und das nicht im rechten Sinne.«

»Um ein Gedicht gut zu machen,« sagte ich, »dazu gehören bekanntlich große Kenntnisse der Dinge, von denen man redet, und wem nicht, wie Claude Lorrain, eine ganze Welt zu Gebote steht, der wird, bei den besten ideellen Richtungen, selten etwas Gutes zutage bringen.«

»Und das Eigene ist,« sagte Goethe, »daß nur das geborene Talent eigentlich weiß, worauf es ankommt, und daß alle übrigen mehr oder weniger in der Irre gehen.«

»Das beweisen die Ästhetiker,« sagte ich, »von denen fast keiner weiß, was eigentlich gelehrt werden sollte, und welche die Verwirrung der jungen Poeten vollkommen machen. Statt vom Realen zu handeln, handeln sie vom Idealen, und statt den jungen Dichter darauf hinzuweisen, was er nicht hat, verwirren sie ihm das, was er besitzt. Wem z. B. von Haus aus einiger Witz und Humor angeboren wäre, wird sicher mit diesen Kräften am besten wirken, wenn er kaum weiß, daß er damit begabt ist; wer aber die gepriesenen Abhandlungen über so hohe Eigenschaften sich zu Gemüte führte, würde sogleich in dem unschuldigen Gebrauch dieser Kräfte gestört und gehindert werden, das Bewußtsein würde diese Kräfte paralysieren, und er würde, statt einer gehofften Förderung, sich unsäglich gehindert sehen.«

»Sie haben vollkommen recht, und es wäre über dieses Kapitel vieles zu sagen.

Ich habe indes«, fuhr er fort, »das neue Epos von Egon Ebert gelesen, und Sie sollen es auch tun, damit wir ihm vielleicht von hier aus ein wenig nachhelfen. Das ist nun wirklich ein recht erfreuliches Talent, aber diesem neuen Gedicht mangelt die eigentliche poetische Grundlage, die Grundlage des Realen. Landschaften, Sonnenauf- und -untergänge, Stellen, wo die äußere Welt die seinige war, sind vollkommen gut und nicht besser zu machen. Das übrige aber, was in vergangenen Jahrhunderten hinauslag, was der Sage angehörte, ist nicht in der gehörigen Wahrheit erschienen, und es mangelt diesem der eigentliche Kern. Die Amazonen und ihr Leben und Handeln sind ins Allgemeine gezogen, in das, was junge Leute für poetisch und romantisch halten und was dafür in der ästhetischen Welt gewöhnlich passiert.«

»Es ist ein Fehler,« sagte ich, »der durch die ganze jetzige Literatur geht. Man vermeidet das spezielle Wahre, aus Furcht, es sei nicht poetisch, und verfällt dadurch in Gemeinplätze.«

»Egon Ebert«, sagte Goethe, »hätte sich sollen an die Überlieferung der Chronik halten, da hätte aus seinem Gedicht etwas werden können. Wenn ich bedenke, wie Schiller die Überlieferung studierte, was er sich für Mühe mit der Schweiz gab, als er seinen ›Tell‹ schrieb, und wie Shakespeare die Chroniken benutzte und ganze Stellen daraus wörtlich in seine Stücke aufgenommen hat, so könnte man einem jetzigen jungen Dichter auch wohl dergleichen zumuten. In meinem ›Clavigo‹ habe ich aus den Memoiren des Beaumarchais ganze Stellen.«

»Es ist aber so verarbeitet,« sagte ich, »daß man es nicht merkt, es ist nicht stoffartig geblieben.«

»So ist es recht,« sagte Goethe, »wenn es so ist.«

Goethe erzählte mir sodann einige Züge von Beaumarchais. »Er war ein toller Christ,« sagte er, »und Sie müssen seine Memoiren lesen. Prozesse waren sein Element, worin es ihm erst eigentlich wohl wurde. Es existieren noch Reden von Advokaten aus einem seiner Prozesse, die zu dem Merkwürdigsten, Talentreichsten und Verwegensten gehören, was je in dieser Art verhandelt worden. Eben diesen berühmten Prozeß verlor Beaumarchais. Als er die Treppe des Gerichtshofes hinabging, begegnete ihm der Kanzler, der hinauf wollte. Beaumarchais sollte ihm ausweichen, allein dieser weigerte sich und bestand darauf, daß jeder zur Hälfte Platz machen müsse. Der Kanzler, in seiner Würde beleidigt, befahl den Leuten seines Gefolges, Beaumarchais auf die Seite zu schieben, welches geschah; worauf denn Beaumarchais auf der Stelle wieder in den Gerichtssaal zurückging und einen Prozeß gegen den Kanzler anhängig machte, den er gewann.«

Ich freute mich über diese Anekdote, und wir unterhielten uns bei Tisch heiter fort über verschiedene Dinge.

»Ich habe meinen ›Zweiten Aufenthalt in Rom‹ wieder vorgenommen,« sagte Goethe, »damit ich ihn endlich los werde und an etwas anderes gehen kann. Meine gedruckte ›Italienische Reise‹ habe ich, wie Sie wissen, ganz aus Briefen redigiert. Die Briefe aber, die ich während meines zweiten Aufenthaltes in Rom geschrieben, sind nicht der Art, um davon vorzüglichen Gebrauch machen zu können; sie enthalten zu viele Bezüge nach Haus, auf meine weimarischen Verhältnisse, und zeigen zu wenig von meinem italienischen Leben. Aber es finden sich darin manche Äußerungen, die meinen damaligen inneren Zustand ausdrücken. Nun habe ich den Plan, solche Stellen auszuziehen und einzeln übereinander zu setzen, und sie so meiner Erzählung einzuschalten, auf welche dadurch eine Art von Ton und Stimmung übergehen wird.« Ich fand dieses vollkommen gut und bestätigte Goethe in dem Vorsatz.

»Man hat zu allen Zeiten gesagt und wiederholt,« fuhr Goethe fort, »man solle trachten, sich selber zu kennen. Dies ist eine seltsame Forderung, der bis jetzt niemand genüget hat und der eigentlich auch niemand genügen soll. Der Mensch ist mit allem seinem Sinnen und Trachten aufs Äußere angewiesen, auf die Welt um ihn her, und er hat zu tun, diese insoweit zu kennen und sich insoweit dienstbar zu machen, als er es zu seinen Zwecken bedarf. Von sich selber weiß er bloß, wenn er genießt oder leidet, und so wird er auch bloß durch Leiden und Freuden über sich belehrt, was er zu suchen oder zu meiden hat. Übrigens aber ist der Mensch ein dunkeles Wesen, er weiß nicht, woher er kommt noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber. Ich kenne mich auch nicht, und Gott soll mich auch davor behüten. Was ich aber sagen wollte, ist dieses, daß ich in Italien in meinem vierzigsten Jahre klug genug war, um mich selber insoweit zu kennen, daß ich kein Talent zur bildenden Kunst habe, und daß diese meine Tendenz eine falsche sei. Wenn ich etwas zeichnete, so fehlte es mir an genugsamem Trieb für das Körperliche; ich hatte eine gewisse Furcht, die Gegenstände auf mich eindringend zu machen, vielmehr war das Schwächere, das Mäßige nach meinem Sinn. Machte ich eine Landschaft und kam ich aus den schwachen Fernen durch die Mittelgründe heran, so fürchtete ich immer, dem Vordergrund die gehörige Kraft zu geben, und so tat denn mein Bild nie die rechte Wirkung. Auch machte ich keine Fortschritte, ohne mich zu üben, und ich mußte immer wieder von vorne anfangen, wenn ich eine Zeitlang ausgesetzt hatte. Ganz ohne Talent war ich jedoch nicht, besonders zu Landschaften, und Hackert sagte sehr oft: ›Wenn Sie achtzehn Monate bei mir bleiben wollen, so sollen Sie etwas machen, woran Sie und andere Freude haben.‹«

Ich hörte dieses mit großem Interesse. »Wie aber«, sagte ich, »soll man erkennen, daß einer zur bildenden Kunst ein wahrhaftes Talent habe?«

»Das wirkliche Talent«, sagte Goethe, »besitzt einen angeborenen Sinn für die Gestalt, die Verhältnisse und die Farbe, so daß es alles dieses unter weniger Anleitung sehr bald und richtig macht. Besonders hat es den Sinn für das Körperliche, und den Trieb, es durch die Beleuchtung handgreiflich zu machen. Auch in den Zwischenpausen der Übung schreitet es fort und wächst im Innern. Ein solches Talent ist nicht schwer zu erkennen, am besten aber erkennt es der Meister.

Ich habe diesen Morgen das Fürstenhaus besucht,« fuhr Goethe sehr heiter fort; »die Zimmer der Großherzogin sind höchst geschmackvoll geraten, und Coudray hat mit seinen Italienern neue Proben großer Geschicklichkeit abgelegt. Die Maler waren an den Wänden noch beschäftigt; es sind ein paar Mailänder; ich redete sie gleich italienisch an und merkte, daß ich die Sprache nicht vergessen hatte. Sie erzählten mir, daß sie zuletzt das Schloß des Königs von Württemberg gemalt, daß sie sodann nach Gotha verschrieben worden, wo sie indes nicht hätten einig werden können; man habe aber zur selben Zeit in Weimar von ihnen erfahren und sie hieher berufen, um die Zimmer der Großherzogin zu dekorieren. Ich hörte und sprach das Italienische einmal wieder gern, denn die Sprache bringt doch eine Art von Atmosphäre des Landes mit. Die guten Menschen sind seit drei Jahren aus Italien heraus; sie wollen aber wie sie sagten, von hier direkt nach Hause eilen, nachdem sie zuvor im Auftrag des Herrn von Spiegel noch eine Dekoration für unser Theater gemalt haben, worüber Ihr wahrscheinlich nicht böse sein werdet. Es sind sehr geschickte Leute; der eine ist ein Schüler des ersten Dekorationsmalers in Mailand, und Ihr könnt also eine gute Dekoration hoffen.«

Nachdem Friedrich den Tisch abgeräumt hatte, ließ Goethe sich einen kleinen Plan von Rom vorlegen. »Für uns andere«, sagte er, »wäre Rom auf die Länge kein Aufenthalt; wer dort bleiben und sich ansiedeln will, muß heiraten und katholisch werden, sonst hält er es nicht aus und hat eine schlechte Existenz. Hackert tat sich nicht wenig darauf zugute, daß er sich als Protestant so lange dort erhalten.«

Goethe zeigte mir sodann auch auf diesem Grundriß die merkwürdigsten Gebäude und Plätze. »Dies«, sagte er, »ist der Farnesische Garten.«

»War es nicht hier,« sagte ich, »wo Sie die Hexenszene des ›Faust‹ geschrieben?«

»Nein,« sagte er, »das war im Garten Borghese.«

Ich erquickte mich darauf ferner an den Landschaften von Claude Lorrain, und wir sprachen noch manches über diesen großen Meister. »Sollte ein jetziger junger Künstler«, sagte ich, »sich nicht nach ihm bilden können?«

»Wer ein ähnliches Gemüt hätte,« antwortete Goethe, »würde ohne Frage sich an Claude Lorrain auf das trefflichste entwickeln. Allein wen die Natur mit ähnlichen Gaben der Seele im Stiche gelassen, würde diesem Meister höchstens nur Einzelnheiten absehen und sich deren nur als Phrase bedienen.«


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