Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Nordheim, den 6. November 1830

Der Mensch denkt – und Gott lenkt, und ehe man eine Hand umwendet, sind unsere Zustände und Wünsche anders, als wir es voraus dachten.

Vor einigen Wochen hatte ich eine gewisse Furcht, nach Weimar zurückzukehren, und jetzt stehen die Sachen so, daß ich nicht allein bald und gerne zurückkomme, sondern auch mit Gedanken umgehe, mich dort häuslich einzurichten und für immer zu befestigen.

Ich habe vor einigen Tagen ein Schreiben von Soret erhalten, mit dem Anerbieten eines fixen Gehaltes von seiten der Frau Großherzogin, wenn ich zurückkommen und in meinem bisherigen Unterricht mit dem Prinzen fortfahren wolle. Noch anderes Gute will Soret mir mündlich mitteilen, und so sehe ich denn aus allem, daß man gnädige Gesinnungen gegen mich hegen mag.

Ich schriebe nun gerne eine zustimmende Antwort an Soret; allein ich höre, er ist zu den Seinigen nach Genf gereiset, und so bleibt mir weiter nichts übrig, als mich an Eure Exzellenz mit der Bitte zu wenden: der Kaiserlichen Hoheit den Entschluß meiner baldigen Zurückkunft geneigtest mitzuteilen.

Ihnen selbst hoffe ich zugleich durch diese Nachricht einige Freude zu machen, indem doch mein Glück und meine Beruhigung Ihnen seit lange am Herzen liegt.

Ich sende die schönsten Grüße allen lieben Ihrigen und hoffe ein baldiges frohes Wiedersehen.

E.

 

Am 20. November nachmittags reiste ich von Nordheim ab, auf dem Wege nach Göttingen, das ich in der Dunkelheit erreichte.

Abends an Table d'hôte, als der Wirt hörte, daß ich aus Weimar sei und dahin zurück wolle, äußerte er in gemütlicher Ruhe, daß doch der große Dichter Goethe in seinem hohen Alter noch ein schweres Leid habe erfahren müssen, indem, wie er heut in den Zeitungen gelesen, sein einziger Sohn in Italien am Schlage gestorben sei.

Man mag denken, was ich bei diesen Worten empfand. Ich nahm ein Licht und ging auf mein Zimmer, um nicht die anwesenden Fremden zu Zeugen meiner inneren Bewegung zu machen.

Ich verbrachte die Nacht schlaflos. Das mich so nahe berührende Ereignis war mir beständig vor der Seele. Die folgenden Tage und Nächte unterwegs und in Mühlhausen und Gotha vergingen mir nicht besser. Einsam im Wagen, bei den trüben Novembertagen und in den öden Feldern, wo nichts Äußeres mich zu zerstreuen und aufzuheitern geeignet war, bemühte ich mich vergebens, andere Gedanken zu fassen, und in den Gasthöfen unter Menschen hörte ich, als von einer Neuigkeit des Tages, immer von dem mich so nahe betreffenden traurigen Fall. Meine größte Besorgnis war, daß Goethe in seinem hohen Alter den heftigen Sturm väterlicher Empfindungen nicht überstehen möchte. Und welchen Eindruck – sagte ich mir – wird deine Ankunft machen, da du mit seinem Sohn gegangen bist und nun alleine zurückkommst! Er wird ihn erst zu verlieren glauben, wenn er dich wiedersieht.

Unter solchen Gedanken und Empfindungen erreichte ich Dienstag, den 23. November, abends sechs Uhr, das letzte Chausseehaus vor Weimar. Ich fühlte abermals in meinem Leben, daß das menschliche Dasein schwere Momente habe, durch die man hindurch müsse. Meine Gedanken verkehrten mit höheren Wesen über mir, als mich ein Blick des Mondes traf, der auf einige Sekunden aus dichtem Gewölk glänzend hervortrat und sich dann wieder finster verhüllte wie zuvor. War dieses nun Zufall, oder war es etwas mehr, genug, ich nahm es als ein günstiges Zeichen von oben und gewann daraus eine unerwartete Stärkung.

Kaum daß ich meine Wirtsleute begrüßt hatte, so war mein erster Weg in das Goethesche Haus. Ich ging zuerst zu Frau von Goethe. Ich fand sie bereits in tiefer Trauerkleidung, jedoch ruhig und gefaßt, und wir hatten viel gegeneinander auszusprechen.

Ich ging sodann zu Goethe hinunter. Er stand aufrecht und fest und schloß mich in seine Arme. Ich fand ihn vollkommen heiter und ruhig. Wir setzten uns und sprachen sogleich von gescheiten Dingen, und ich war höchst beglückt, wieder bei ihm zu sein. Er zeigte mir zwei angefangene Briefe, die er nach Nordheim an mich geschrieben, aber nicht hatte abgehen lassen. Wir sprachen sodann über die Frau Großherzogin, über den Prinzen und manches andere, seines Sohnes jedoch ward mit keiner Silbe gedacht.


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