Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Mittwoch, den 17. Januar 1827

In der letzten Zeit, wo Goethe sich mitunter nicht ganz wohl befand, hatten wir in seiner nach dem Garten gehenden Arbeitsstube gesessen. Heute war wieder in dem sogenannten Urbino-Zimmer gedeckt, welches ich als ein gutes Zeichen nahm. Als ich hereintrat, fand ich Goethe und seinen Sohn; beide bewillkommten mich freundlich in ihrer naiven liebevollen Art – Goethe selbst schien in der heitersten Stimmung, wie dieses an seinem höchst belebten Gesicht zu bemerken war. Durch die offene Tür des angrenzenden sogenannten Deckenzimmers sah ich, über einen großen Kupferstich gebogen, den Herrn Kanzler von Müller; er trat bald zu uns herein, und ich freute mich, ihn als angenehme Tischgesellschaft zu begrüßen. Frau von Goethe wurde noch erwartet, doch setzten wir uns vorläufig zu Tisch. Es ward mit Bewunderung von dem Kupferstich gesprochen, und Goethe erzählte mir, es sei ein Werk des berühmten Gérard in Paris, womit dieser ihm in den letzten Tagen ein Geschenk gemacht. »Gehen Sie geschwind hin«, fügte er hinzu, »und nehmen Sie noch ein paar Augenvoll, ehe die Suppe kommt.«

Ich tat nach seinem Wunsch und meiner Neigung; ich freute mich an dem Anblick des bewundernswürdigen Werkes, nicht weniger an der Unterschrift des Malers, wodurch er es Goethen als einen Beweis seiner Achtung zueignet. Ich konnte jedoch nicht lange betrachten, Frau von Goethe trat herein, und ich eilte nach meinem Platz zurück. »Nicht wahr?« sagte Goethe, »das ist etwas Großes! Man kann es tage- und wochenlang studieren, ehe man die reichen Gedanken und Vollkommenheiten alle herausfindet. Dieses«, sagte er, »soll Ihnen auf andere Tage vorbehalten bleiben.«

Wir waren bei Tisch sehr heiter. Der Kanzler teilte einen Brief eines bedeutenden Mannes aus Paris mit, der zur Zeit der französischen Okkupation als Gesandter hier einen schweren Posten behauptet und von jener Zeit her mit Weimar ein freundliches Verhältnis fortgesetzt hatte. Er gedachte des Großherzogs und Goethes und pries Weimar glücklich, wo das Genie mit der höchsten Gewalt ein so vertrautes Verhältnis haben könne.

Frau von Goethe brachte in die Unterhaltung große Anmut. Es war von einigen Anschaffungen die Rede, womit sie den jungen Goethe neckte und wozu dieser sich nicht verstehen wollte. »Man muß den schönen Frauen nicht gar zu viel angewöhnen,« sagte Goethe, »denn sie gehen leicht ins Grenzenlose. Napoleon erhielt noch auf Elba Rechnungen von Putzmacherinnen, die er bezahlen sollte. Doch mochte er in solchen Dingen leichter zu wenig tun als zu viel. Früher in den Tuilerien wurden einst in seinem Beisein seiner Gemahlin von einem Modehändler kostbare Sachen präsentiert. Als Napoleon aber keine Miene machte, etwas zu kaufen, gab ihm der Mann zu verstehen, daß er doch wenig in dieser Hinsicht für seine Gemahlin tue. Hierauf sagte Napoleon kein Wort, aber er sah ihn mit einem solchen Blick an, daß der Mann seine Sachen sogleich zusammenpackte und sich nie wieder sehen ließ.« – »Tat er dieses als Konsul?« fragte Frau von Goethe. – »Wahrscheinlich als Kaiser,« antwortete Goethe, »denn sonst wäre sein Blick wohl nicht so furchtbar gewesen. Aber ich muß über den Mann lachen, dem der Blick in die Glieder fuhr und der sich wahrscheinlich schon geköpft oder erschossen sah.«

Wir waren in der heitersten Laune und sprachen über Napoleon weiter fort. »Ich möchte«, sagte der junge Goethe, »alle seine Taten in trefflichen Gemälden oder Kupferstichen besitzen und damit ein großes Zimmer dekorieren.« – »Das müßte sehr groß sein,« erwiderte Goethe, »und doch würden die Bilder nicht hineingehen, so groß sind seine Taten.«

Der Kanzler brachte Ludens ›Geschichte der Deutschen‹ ins Gespräch, und ich hatte zu bewundern, mit welcher Gewandtheit und Eindringlichkeit der junge Goethe dasjenige, was öffentliche Blätter an dem Buche zu tadeln gefunden, aus der Zeit, in der es geschrieben, und den nationalen Empfindungen und Rücksichten, die dabei in dem Verfasser gelebt, herzuleiten wußte. Es ergab sich, daß Napoleons Kriege erst jene des Cäsars aufgeschlossen. »Früher«, sagte Goethe, »war Cäsars Buch freilich nicht viel mehr als ein bloßes Exerzitium gelehrter Schulen.«

Von der altdeutschen Zeit kam das Gespräch auf die gotische. Es war von einem Bücherschranke die Rede, der einen gotischen Charakter habe; sodann kam man auf den neuesten Geschmack, ganze Zimmer in altdeutscher und gotischer Art einzurichten und in einer solchen Umgebung einer veralteten Zeit zu wohnen.

»In einem Hause,« sagte Goethe, »wo so viele Zimmer sind, daß man einige derselben leer stehen läßt und im ganzen Jahr vielleicht nur drei-, viermal hineinkommt, mag eine solche Liebhaberei hingehen, und man mag auch ein gotisches Zimmer haben, so wie ich es ganz hübsch finde, daß Madame Panckoucke in Paris ein chinesisches hat. Allein sein Wohnzimmer mit so fremder und veralteter Umgebung auszustaffieren, kann ich gar nicht loben. Es ist immer eine Art von Maskerade, die auf die Länge in keiner Hinsicht wohltun kann, vielmehr auf den Menschen, der sich damit befaßt, einen nachteiligen Einfluß haben muß. Denn so etwas steht im Widerspruch mit dem lebendigen Tage, in welchen wir gesetzt sind, und wie es aus einer leeren und hohlen Gesinnungs- und Denkungsweise hervorgeht, so wird es darin bestärken. Es mag wohl einer an einem lustigen Winterabend als Türke zur Maskerade gehen, allein was würden wir von einem Menschen halten, der ein ganzes Jahr sich in einer solchen Maske zeigen wollte? Wir würden von ihm denken, daß er entweder schon verrückt sei oder daß er doch die größte Anlage habe, es sehr bald zu werden.«

Wir fanden Goethes Worte über einen so sehr ins Leben eingreifenden Gegenstand durchaus überzeugend, und da keiner der Anwesenden etwas davon als leisen Vorwurf auf sich selbst beziehen konnte, so fühlten wir ihre Wahrheit in der heitersten Stimmung.

Das Gespräch lenkte sich auf das Theater, und Goethe neckte mich, daß ich am letzten Montag abend es ihm geopfert. »Er ist nun drei Jahre hier,« sagte er, zu den übrigen gewendet, »und dies ist der erste Abend, wo er mir zuliebe im Theater gefehlt hat; ich muß ihm das hoch anrechnen. Ich hatte ihn eingeladen, und er hatte versprochen zu kommen, aber doch zweifelte ich, daß er Wort halten würde, besonders als es halb sieben schlug und er noch nicht da war. Ja ich hätte mich sogar gefreut, wenn er nicht gekommen wäre; ich hätte doch sagen können: Das ist ein ganz verrückter Mensch, dem das Theater über seine liebsten Freunde geht und der sich durch nichts von seiner hartnäckigen Neigung abwenden läßt. Aber ich habe Sie auch entschädigt! Nicht wahr? Habe ich Ihnen nicht schöne Sachen vorgelegt?« Goethe zielte mit diesen Worten auf die neue Novelle.

Wir sprachen sodann über Schillers ›Fiesco‹, der am letzten Sonnabend war gegeben worden. »Ich habe das Stück zum ersten Male gesehen,« sagte ich, »und es hat mich nun sehr beschäftigt, ob man nicht die ganz rohen Szenen mildem könnte; allein ich finde, daß sich wenig daran tun läßt, ohne den Charakter des Ganzen zu verletzen.«

»Sie haben ganz recht, es geht nicht,« erwiderte Goethe; »Schiller hat sehr oft mit mir darüber gesprochen, denn er selbst konnte seine ersten Stücke nicht leiden, und er ließ sie, während wir am Theater waren, nie spielen. Nun fehlte es uns aber an Stücken, und wir hätten gerne jene drei gewaltsamen Erstlinge dem Repertoire gewonnen. Es wollte aber nicht gehen, es war alles zu sehr miteinander verwachsen, so daß Schiller selbst an dem Unternehmen verzweifelte und sich genötigt sah, seinen Vorsatz aufzugeben und die Stücke zu lassen, wie sie waren.«

»Es ist schade darum«, sagte ich; »denn trotz aller Roheiten sind sie mir doch tausendmal lieber als die schwachen, weichen, forcierten und unnatürlichen Stücke einiger unserer neuesten Tragiker. Bei Schiller spricht doch immer ein grandioser Geist und Charakter.«

»Das wollte ich meinen«, sagte Goethe. »Schiller mochte sich stellen, wie er wollte, er konnte gar nichts machen, was nicht immer bei weitem größer herauskam als das Beste dieser neueren; ja wenn Schiller sich die Nägel beschnitt, war er größer als diese Herren.«

Wir lachten und freuten uns des gewaltigen Gleichnisses.

»Aber ich habe doch Personen gekannt,« fuhr Goethe fort, »die sich über die ersten Stücke Schillers gar nicht zufrieden geben konnten. Eines Sommers in einem Bade ging ich durch einen eingeschlossenen sehr schmalen Weg, der zu einer Mühle führte. Es begegnete mir der Fürst Putjatin, und da in demselben Augenblick einige mit Mehlsäcken beladene Maultiere auf uns zukamen, so mußten wir ausweichen und in ein kleines Haus treten. Hier, in einem engen Stübchen, gerieten wir nach Art dieses Fürsten sogleich in tiefe Gespräche über göttliche und menschliche Dinge – wir kamen auch auf Schillers ›Räuber‹, und der Fürst äußerte sich folgendermaßen: ›Wäre ich Gott gewesen,‹ sagte er, ›im Begriff die Welt zu erschaffen, und ich hätte in dem Augenblick vorausgesehen, daß Schillers ›Räuber‹ darin würden geschrieben werden, ich hätte die Welt nicht erschaffen.‹« Wir mußten lachen. »Was sagen Sie dazu?« sagte Goethe; »das war doch eine Abneigung, die ein wenig weit ging und die man sich kaum erklären konnte.«

»Von dieser Abneigung«, versetzte ich, »haben dagegen unsere jungen Leute, besonders unsere Studenten, gar nichts. Die trefflichsten, reifsten Stücke von Schiller und anderen können gegeben werden, und man sieht von jungen Leuten und Studierenden wenige oder gar keine im Theater; aber man gebe Schillers ›Räuber‹ oder Schillers ›Fiesco‹, und das Haus ist fast allein von Studenten gefüllt.« – »Das war«, versetzte Goethe, »vor funfzig Jahren wie jetzt und wird auch wahrscheinlich nach funfzig Jahren nicht anders sein. Was ein junger Mensch geschrieben hat, wird auch wieder am besten von jungen Leuten genossen werden. Und dann denke man nicht, daß die Welt so sehr in der Kultur und gutem Geschmack vorschritte, daß selbst die Jugend schon über eine solche rohere Epoche hinaus wäre! Wenn auch die Welt im ganzen vorschreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorne anfangen und als Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen. Mich irritiert das nicht mehr, und ich habe längst einen Vers darauf gemacht, der so lautet:

Johannisfeuer sei unverwehrt,
Die Freude nie verloren!
Besen werden immer stumpf gekehrt
Und Jungens immer geboren.

Ich brauche nur zum Fenster hinauszusehen, um in straßenkehrenden Besen und herumlaufenden Kindern die Symbole der sich ewig abnutzenden und immer sich verjüngenden Welt beständig vor Augen zu haben. Kinderspiele und Jugendvergnügungen erhalten sich daher und pflanzen sich von Jahrhundert zu Jahrhundert fort; denn so absurd sie auch einem reiferen Alter erscheinen mögen, Kinder bleiben doch immer Kinder und sind sich zu allen Zeiten ähnlich. Deshalb soll man auch die Johannisfeuer nicht verbieten und den lieben Kindern die Freude daran nicht verderben.«

Unter solchen und ähnlichen heiteren Unterhaltungen gingen die Stunden des Tisches schnell vorüber. Wir jüngeren Leute gingen sodann hinauf in die oberen Zimmer, während der Kanzler bei Goethe blieb.


 << zurück weiter >>