Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Montag, den 5. April 1830

Es ist bekannt, daß Goethe kein Freund von Brillen ist.

»Es mag eine Wunderlichkeit von mir sein,« sagte er mir bei wiederholten Anlässen, »aber ich kann es einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der Brille auf der Nase zu mir hereintritt, kommt sogleich eine Verstimmung über mich, der ich nicht Herr werden kann. Es geniert mich so sehr, daß es einen großen Teil meines Wohlwollens sogleich auf der Schwelle hinwegnimmt und meine Gedanken so verdirbt, daß an eine unbefangene natürliche Entwickelung meines eigenen Innern nicht mehr zu denken ist. Es macht mir immer den Eindruck des Desobligeanten, ungefähr so, als wollte ein Fremder mir bei der ersten Begrüßung sogleich eine Grobheit sagen. Ich empfinde dieses noch stärker, nachdem ich seit Jahren es habe drucken lassen, wie fatal mir die Brillen sind. Kommt nun ein Fremder mit der Brille, so denke ich gleich: er hat deine neuesten Gedichte nicht gelesen – und das ist schon ein wenig zu seinem Nachteil; oder er hat sie gelesen, er kennt deine Eigenheit und setzt sich darüber hinaus – und das ist noch schlimmer. Der einzige Mensch, bei dem die Brille mich nicht geniert, ist Zelter; bei allen anderen ist sie mir fatal. Es kommt mir immer vor, als sollte ich den Fremden zum Gegenstand genauer Untersuchung dienen, und als wollten sie durch ihre gewaffneten Blicke in mein geheimstes Innere dringen und jedes Fältchen meines alten Gesichtes erspähen. Während sie aber so meine Bekanntschaft zu machen suchen, stören sie alle billige Gleichheit zwischen uns, indem sie mich hindern, zu meiner Entschädigung auch die ihrige zu machen. Denn was habe ich von einem Menschen, dem ich bei seinen mündlichen Äußerungen nicht ins Auge sehen kann und dessen Seelenspiegel durch ein paar Gläser, die mich blenden, verschleiert ist!«

»Es hat jemand bemerken wollen,« versetzte ich, »daß das Brillentragen die Menschen dünkelhaft mache, indem die Brille sie auf eine Stufe sinnlicher Vollkommenheit hebe, die weit über das Vermögen ihrer eigenen Natur erhaben, wodurch denn zuletzt sich die Täuschung bei ihnen einschleiche, daß diese künstliche Höhe die Kraft ihrer eigenen Natur sei.«

»Die Bemerkung ist sehr artig,« erwiderte Goethe, »sie scheint von einem Naturforscher herzurühren. Doch genau besehen, ist sie nicht haltbar. Denn wäre es wirklich so, so müßten ja alle Blinden sehr bescheidene Menschen sein, dagegen alle mit trefflichen Augen begabten dünkelhaft. Dies ist aber durchaus nicht so; vielmehr finden wir, daß alle geistig wie körperlich durchaus naturkräftig ausgestatteten Menschen in der Regel die bescheidensten sind, dagegen alle besonders geistig verfehlten weit eher einbilderischer Art. Es scheint, daß die gütige Natur allen denen, die bei ihr in höherer Hinsicht zu kurz gekommen sind, die Einbildung und den Dünkel als versöhnendes Ausgleichungs- und Ergänzungsmittel gegeben hat.

Übrigens sind Bescheidenheit und Dünkel sittliche Dinge so geistiger Art, daß sie wenig mit dem Körper zu schaffen haben. Bei Bornierten und geistig Dunkelen findet sich der Dünkel; bei geistig Klaren und Hochbegabten aber findet er sich nie. Bei solchen findet sich höchstens ein freudiges Gefühl ihrer Kraft; da aber diese Kraft wirklich ist, so ist dieses Gefühl auch alles andere, aber kein Dünkel.«

Wir unterhielten uns noch über verschiedene andere Gegenstände und kamen zuletzt auch auf das ›Chaos‹, dieser von Frau von Goethe geleiteten weimarischen Zeitschrift, woran nicht bloß hiesige deutsche Herren und Damen, sondern vorzüglich auch die hier sich aufhaltenden jungen Engländer, Franzosen und andere Fremdlinge teilnehmen, so daß denn fast jede Nummer ein Gemisch fast aller bekanntesten europäischen Sprachen darbietet.

»Es ist doch hübsch von meiner Tochter,« sagte Goethe, »und man muß sie loben und es ihr Dank wissen, daß sie das höchst originelle Journal zustande gebracht und die einzelnen Mitglieder unserer Gesellschaft so in Anregung zu erhalten weiß, daß es doch nun bald ein Jahr besteht. Es ist freilich nur ein dilettantischer Spaß, und ich weiß recht gut, daß nichts Großes und Dauerhaftes dabei herauskommt; allein es ist doch artig und gewissermaßen ein Spiegel der geistigen Höhe unserer jetzigen weimarischen Gesellschaft. Und dann, was die Hauptsache ist, es gibt unseren jungen Herren und Damen, die oft gar nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen, etwas zu tun; auch haben sie dadurch einen geistigen Mittelpunkt, der ihnen Gegenstände der Besprechung und Unterhaltung bietet und sie also gegen den ganz nichtigen und hohlen Klatsch schützet. Ich lese jedes Blatt, sowie es frisch aus der Presse kommt, und kann sagen, daß mir im ganzen noch nichts Ungeschicktes vorgekommen ist, vielmehr mitunter sogar einiges recht Hübsche. Was wollen Sie z. B. gegen die Elegie der Frau von Bechtolsheim auf den Tod der Frau Großherzogin-Mutter einwenden? Ist das Gedicht nicht sehr artig? Das einzige, was sich gegen dieses sowie gegen das meiste unserer jungen Damen und Herren sagen ließe, wäre etwa, daß sie, gleich zu saftreichen Bäumen, die eine Menge Schmarotzerschößlinge treiben, einen Überfluß von Gedanken und Empfindungen haben, deren sie nicht Herr sind, so daß sie sich selten zu beschränken und da aufzuhören wissen, wo es gut wäre. Dieses ist auch der Frau von Bechtolsheim passiert. Um einen Reim zu bewahren, hatte sie einen anderen Vers hinzugefügt, der dem Gedicht durchaus zum Nachteil gereichte, ja es gewissermaßen verdarb. Ich sah diesen Fehler im Manuskript und konnte ihn noch zeitig genug ausmerzen. Man muß ein alter Praktikus sein«, fügte er lachend hinzu, »um das Streichen zu verstehen. Schiller war hierin besonders groß. Ich sah ihn einmal bei Gelegenheit seines ›Musenalmanachs‹ ein pompöses Gedicht von zweiundzwanzig Strophen auf sieben reduzieren, und zwar hatte das Produkt durch diese furchtbare Operation keineswegs verloren, vielmehr enthielten diese sieben Strophen noch alle guten und wirksamen Gedanken jener zweiundzwanzig.«


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