Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Dienstag, den 24. Februar 1824

Heute um ein Uhr zu Goethe. Er legte mir Manuskripte vor, die er für das erste Heft des fünften Bandes von ›Kunst und Altertum‹ diktiert hatte. Zu meiner Beurteilung des deutschen ›Paria‹ fand ich von ihm einen Anhang gemacht, sowohl in bezug auf das französische Trauerspiel als seine eigene lyrische Trilogie, wodurch denn dieser Gegenstand gewissermaßen in sich geschlossen war.

»Es ist gut,« sagte Goethe, »daß Sie bei Gelegenheit Ihrer Rezension sich die indischen Zustände zu eigen gemacht haben; denn wir behalten von unsern Studien am Ende doch nur das, was wir praktisch anwenden.«

Ich gab ihm recht und sagte, daß ich bei meinem Aufenthalt auf der Akademie diese Erfahrung gemacht, indem ich von den Vorträgen der Lehrer nur das behalten, zu dessen Anwendung eine praktische Richtung in mir gelegen; dagegen hätte ich alles, was nicht später bei mir zur Ausübung gekommen, durchaus vergessen. »Ich habe«, sagte ich, »bei Heeren alte und neue Geschichte gehört, aber ich weiß davon kein Wort mehr. Würde ich aber jetzt einen Punkt der Geschichte in der Absicht studieren, um ihn etwa dramatisch darzustellen, so würde ich solche Studien mir sicher für immer zu eigen machen.«

»Überhaupt«, sagte Goethe, »treibt man auf Akademien viel zu viel und gar zu viel Unnützes. Auch dehnen die einzelnen Lehrer ihre Fächer zu weit aus, bei weitem über die Bedürfnisse der Hörer. In früherer Zeit wurde Chemie und Botanik als zur Arzneikunde gehörig vorgetragen, und der Mediziner hatte daran genug. Jetzt aber sind Chemie und Botanik eigene unübersehbare Wissenschaften geworden, deren jede ein ganzes Menschenleben erfordert, und man will sie dem Mediziner mit zumuten! Daraus aber kann nichts werden; das eine wird über das andere unterlassen und vergessen. Wer klug ist, lehnet daher alle zerstreuende Anforderungen ab und beschränkt sich auf ein Fach und wird tüchtig in einem

Darauf zeigte mir Goethe eine kurze Kritik, die er über Byrons ›Kain‹ geschrieben und die ich mit großem Interesse las.

»Man sieht,« sagte er, »wie einem freien Geiste wie Byron die Unzulänglichkeit der kirchlichen Dogmen zu schaffen gemacht und wie er sich durch ein solches Stück von einer ihm aufgedrungenen Lehre zu befreien gesucht. Die englische Geistlichkeit wird es ihm freilich nicht Dank wissen; mich soll aber wundern, ob er nicht in Darstellung nachbarlicher biblischer Gegensätze fortschreiten wird, und ob er sich ein Sujet wie den Untergang von Sodom und Gomorrha wird entgehen lassen.«

Nach diesen literarischen Betrachtungen lenkte Goethe mein Interesse auf die bildende Kunst, indem er mir einen antiken geschnittenen Stein zeigte, von welchem er schon tags vorher mit Bewunderung gesprochen. Ich war entzückt bei der Betrachtung der Naivität des dargestellten Gegenstandes. Ich sah einen Mann, der ein schweres Gefäß von der Schulter genommen, um einen Knaben daraus trinken zu lassen. Diesem aber ist es noch nicht bequem, noch nicht mundgerecht genug, das Getränk will nicht fließen, und indem er seine beiden Händchen an das Gefäß legt, blickt er zu dem Manne hinauf und scheint ihn zu bitten, es noch ein wenig zu neigen.

»Nun, wie gefällt Ihnen das?« sagte Goethe. »Wir Neueren«, fuhr er fort, »fühlen wohl die große Schönheit eines solchen rein natürlichen, rein naiven Motivs, wir haben auch wohl die Kenntnis und den Begriff, wie es zu machen wäre, allein wir machen es nicht, der Verstand herrschet vor, und es fehlet immer diese entzückende Anmut.«

Wir betrachteten darauf eine Medaille von Brandt in Berlin, den jungen Theseus darstellend, wie er die Waffen seines Vaters unter dem Stein hervornimmt. Die Stellung der Figur hatte viel Löbliches, jedoch vermißten wir eine genugsame Anstrengung der Glieder gegen die Last des Steines. Auch erschien es keineswegs gut gedacht, daß der Jüngling schon in der einen Hand die Waffen hält, während er noch mit der andern den Stein hebt; denn nach der Natur der Sache wird er zuerst den schweren Stein zur Seite werfen und dann die Waffen aufnehmen. »Dagegen«, sagte Goethe, »will ich Ihnen eine antike Gemme zeigen, worauf derselbe Gegenstand von einem Alten behandelt ist.«

Er ließ von Stadelmann einen Kasten herbeiholen, worin sich einige hundert Abdrücke antiker Gemmen fanden, die er bei Gelegenheit seiner italienischen Reise sich aus Rom mitgebracht. Da sah ich nun denselbigen Gegenstand von einem alten Griechen behandelt, und zwar wie anders! Der Jüngling stemmt sich mit aller Anstrengung gegen den Stein, auch ist er einer solchen Last gewachsen, denn man sieht das Gewicht schon überwunden und den Stein bereits zu dem Punkt gehoben, um sehr bald zur Seite geworfen zu werden. Seine ganze Körperkraft wendet der junge Held gegen die schwere Masse, und nur seine Blicke richtet er niederwärts auf die unten vor ihm liegenden Waffen.

Wir freuten uns der großen Naturwahrheit dieser Behandlung.

»Meyer pflegt immer zu sagen,« fiel Goethe lachend ein, » wenn nur das Denken nicht so schwer wäre! – Das Schlimme aber ist,« fuhr er heiter fort, »daß alles Denken zum Denken nichts hilft; man muß von Natur richtig sein, so daß die guten Einfälle immer wie freie Kinder Gottes vor uns dastehen und uns zurufen: da sind wir!«


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