Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Dienstag, den 16. Dezember 1828

Ich war heute mit Goethe in seiner Arbeitsstube allein zu Tisch; wir sprachen über verschiedene literarische Dinge. »Die Deutschen«, sagte er, »können die Philisterei nicht loswerden. Da quengeln und streiten sie jetzt über verschiedene Distichen, die sich bei Schiller gedruckt finden und auch bei mir, und sie meinen, es wäre von Wichtigkeit, entschieden herauszubringen, welche denn wirklich Schillern gehören und welche mir. Als ob etwas darauf ankäme, als ob etwas damit gewonnen würde, und als ob es nicht genug wäre, daß die Sachen da sind!

Freunde wie Schiller und ich, jahrelang verbunden, mit gleichen Interessen, in täglicher Berührung und gegenseitigem Austausch, lebten sich ineinander so sehr hinein, daß überhaupt bei einzelnen Gedanken gar nicht die Rede und Frage sein konnte, ob sie dem einen gehörten oder dem andern. Wir haben viele Distichen gemeinschaftlich gemacht, oft hatte ich den Gedanken und Schiller machte die Verse, oft war das Umgekehrte der Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich den andern. Wie kann nun da von Mein und Dein die Rede sein! Man muß wirklich selbst noch tief in der Philisterei stecken, wenn man auf die Entscheidung solcher Zweifel nur die mindeste Wichtigkeit legen wollte.«

»Etwas Ähnliches«, sagte ich, »kommt in der literarischen Welt häufig vor, indem man z. B. an dieses oder jenes berühmten Mannes Originalität zweifelt und die Quellen auszuspüren sucht, woher er seine Kultur hat.«

»Das ist sehr lächerlich,« sagte Goethe »man könnte ebensogut einen wohlgenährten Mann nach den Ochsen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegessen und die ihm Kräfte gegeben. Wir bringen wohl Fähigkeiten mit, aber unsere Entwickelung verdanken wir tausend Einwirkungen einer großen Welt, aus der wir uns aneignen, was wir können und was uns gemäß ist. Ich verdanke den Griechen und Franzosen viel, ich bin Shakespeare, Sterne und Goldsmith Unendliches schuldig geworden. Allein damit sind die Quellen meiner Kultur nicht nachgewiesen; es würde ins Grenzenlose gehen und wäre auch nicht nötig. Die Hauptsache ist, daß man eine Seele habe, die das Wahre liebt und die es aufnimmt, wo sie es findet.

Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »ist die Welt jetzt so alt, und es haben seit Jahrtausenden so viele bedeutende Menschen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr zu finden und zu sagen ist. Meine Farbenlehre ist auch nicht durchaus neu. Plato, Leonardo da Vinci und viele andere Treffliche haben im einzelnen vor mir dasselbige gefunden und gesagt; aber daß ich es auch fand, daß ich es wieder sagte und daß ich dafür strebte, in einer konfusen Welt dem Wahren wieder Eingang zu verschaffen, das ist mein Verdienst.

Und denn, man muß das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder geprediget wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich, im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.

Oft lehret man auch Wahrheit und Irrtum zugleich, und hält sich an letzteren. So las ich vor einigen Tagen in einer englischen Enzyklopädie die Lehre von der Entstehung des Blauen. Obenan stand die wahre Ansicht von Leonardo da Vinci; mit der größten Ruhe aber folgte zugleich der Newtonische Irrtum, und zwar mit dem Bemerken, daß man sich an diesen zu halten habe, weil er das allgemein Angenommene sei.«

Ich mußte mich lachend verwundern, als ich dieses hörte. »Jede Wachskerze,« sagte ich, »jeder erleuchtete Küchenrauch, der etwas Dunkeles hinter sich hat, jeder duftige Morgennebel, wenn er vor schattigen Stellen liegt, überzeugen mich täglich von der Entstehung der blauen Farbe und lehren mich die Bläue des Himmels begreifen. Was aber die Newtonischen Schüler sich dabei denken mögen, daß die Luft die Eigenschaft besitze, alle übrigen Farben zu verschlucken und nur die blaue zurückzuwerfen, dieses ist mir völlig unbegreiflich, und ich sehe nicht ein, welchen Nutzen und welche Freude man an einer Lehre haben kann, wobei jeder Gedanke völlig stille steht und jede gesunde Anschauung durchaus verschwindet.«

»Gute Seele,« sagte Goethe, »um Gedanken und Anschauungen ist es den Leuten auch gar nicht zu tun. Sie sind zufrieden, wenn sie nur Worte haben, womit sie verkehren, welches schon mein Mephistopheles gewußt und nicht übel ausgesprochen hat:

Vor allem haltet euch an Worte!
Dann geht ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewißheit ein;
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.«

Goethe rezitierte diese Stelle lachend und schien überall in der besten Laune. »Es ist nur gut«, sagte er, »daß schon alles gedruckt steht; und so will ich fortfahren, ferner drucken zu lassen, was ich gegen falsche Lehren und deren Verbreiter noch auf dem Herzen habe.

Treffliche Menschen«, fuhr er nach einer Pause fort, »kommen jetzt in den Naturwissenschaften heran, und ich sehe ihnen mit Freuden zu. Andere fangen gut an, aber sie halten sich nicht; ihr vorwaltendes Subjektive führt sie in die Irre. Wiederum andere halten zu sehr auf Fakta und sammeln deren zu einer Unzahl, wodurch nichts bewiesen wird. Im ganzen fehlt der theoretische Geist, der fähig wäre, zu Urphänomenen durchzudringen und der einzelnen Erscheinungen Herr zu werden.«

Ein kurzer Besuch unterbrach unsere Unterhaltung; bald aber wieder allein gelassen, lenkte sich das Gespräch auf die Poesie, und ich erzählte Goethen, daß ich dieser Tage seine kleinen Gedichte wieder betrachtet und besonders bei zweien verweilet habe, bei der Ballade nämlich von den Kindern und dem Alten, und bei den ›Glücklichen Gatten‹.

»Ich halte auf diese beiden Gedichte selber etwas,« sagte Goethe, »wiewohl das deutsche Publikum bis jetzt nicht viel daraus hat machen können.«

»In der Ballade«, sagte ich, »ist ein sehr reicher Gegenstand in große Enge zusammengebracht, mittels aller poetischen Formen und Künste und Kunstgriffe, worunter ich besonders den hochschätze, daß das Vergangene der Geschichte den Kindern von dem Alten bis zu dem Punkt erzählt wird, wo die Gegenwart eintritt und das übrige sich vor unsern Augen entwickelte

»Ich habe die Ballade lange mit mir herumgetragen,« sagte Goethe, »ehe ich sie niederschrieb; es stecken Jahre von Nachdenken darin, und ich habe sie drei- bis viermal versucht, ehe sie mir so gelingen wollte, wie sie jetzt ist.«

»Das Gedicht von den ›Glücklichen Gatten‹«, fuhr ich fort, »ist gleichfalls sehr reich an Motiven; es erscheinen darin ganze Landschaften und Menschenleben, durchwärmt von dem Sonnenschein eines anmutigen Frühlingshimmels, der sich über dem Ganzen ausbreitet.«

»Ich habe das Gedicht immer lieb gehabt,« sagte Goethe, »und es freut mich, daß Sie ihm ein besonderes Interesse schenken. Und daß der Spaß zuletzt noch auf eine Doppelkindtaufe hinausgeht, dächte ich, wäre doch artig genug.«

Wir kamen sodann auf den ›Bürgergeneral‹, wovon ich erzählte, daß ich dieses heitere Stück in diesen Tagen mit einem Engländer gelesen, und daß in uns beiden der lebhafte Wunsch entstanden, es auf dem Theater zu sehen. »Dem Geiste nach«, sagte ich, »ist darin nichts veraltet, und im einzelnen der dramatischen Entwickelung ist darin kein Zug, der nicht für die Bühne gedacht wäre.«

»Es war zu seiner Zeit ein sehr gutes Stück,« sagte Goethe, »und es hat uns manchen heiteren Abend gemacht. Freilich, es war trefflich besetzt und so vortrefflich einstudiert, daß der Dialog Schlag auf Schlag ging, im völligsten Leben. Malkolmi spielte den Märten, man konnte nichts Vollkommneres sehen.«

»Die Rolle des Schnaps«, sagte ich, »erscheint mir nicht weniger glücklich; ich dächte, das Repertoire hätte nicht viele aufzuweisen, die dankbarer und besser wären. Es ist in dieser Figur wie im ganzen Stück eine Deutlichkeit, eine Gegenwart, wie sie das Theater nur wünschen kann. Die Szene, wo er mit dem Felleisen kommt und nacheinander die Sachen hervorbringt, wo er Märten den Schnurrbart anklebt und sich selbst mit Freiheitsmütze, Uniform und Degen bekleidet, gehört zu den vorzüglichsten.«

»Diese Szene«, sagte Goethe, »hat in früherer Zeit auf unserm Theater immer viel Glück gemacht. Es kam dazu noch der Umstand, daß das Felleisen mit den Sachen ein wirklich historisches war. Ich fand es nämlich zur Zeit der Revolution auf meiner Reise an der französischen Grenze, wo die Flucht der Emigrierten durchgegangen war, und wo es einer mochte verloren oder weggeworfen haben. Die Sachen, so wie sie im Stück vorkommen, waren alle darin, ich schrieb danach die Szene, und das Felleisen mit allem Zubehör spielte nachher, zu nicht geringem Vergnügen unserer Schauspieler, immer mit, sooft das Stück gegeben wurde.«

Die Frage, ob man den ›Bürgergeneral‹ noch jetzt mit Interesse und Nutzen sehen könne, machte noch eine Weile den Gegenstand unserer Unterhaltung.

Goethe erkundigte sich sodann nach meinen Fortschritten in der französischen Literatur, und ich erzählte ihm, daß ich mich abwechselnd noch immer mit Voltaire beschäftige, und daß das große Talent dieses Mannes mir das reinste Glück gewähre. »Ich kenne immer noch nur wenig von ihm,« sagte ich; »ich halte mich noch immer in dem Kreise seiner kleinen Gedichte an Personen, die ich lese und immer wieder lese und von denen ich mich nicht trennen kann.«

»Eigentlich«, sagte Goethe, »ist alles gut, was ein so großes Talent wie Voltaire schreibt, wiewohl ich nicht alle seine Frechheiten gelten lassen möchte. Aber Sie haben nicht unrecht, wenn Sie so lange bei seinen kleinen Gedichten an Personen verweilen; sie gehören ohne Frage zu den liebenswürdigsten Sachen, die er geschrieben. Es ist darin keine Zeile, die nicht voller Geist, Klarheit, Heiterkeit und Anmut wäre.«

»Und man sieht darin«, sagte ich, »seine Verhältnisse zu allen Großen und Mächtigen der Erde und bemerkt mit Freuden, welche vornehme Figur Voltaire selber spielt, indem er sich den Höchsten gleich zu empfinden scheint, und man ihm nie anmerkt, daß irgendeine Majestät seinen freien Geist nur einen Augenblick hat genieren können.«

»Ja,« sagte Goethe, »vornehm war er. Und bei all seiner Freiheit und Verwegenheit hat er sich immer in den Grenzen des Schicklichen zu halten gewußt, welches fast noch mehr sagen will. Ich kann wohl die Kaiserin von Österreich als eine Autorität in solchen Dingen anführen, die sehr oft gegen mich wiederholt hat, daß in Voltaires Gedichten an fürstliche Personen keine Spur sei, daß er je die Linie der Konvenienz überschritten habe.«

»Erinnern sich Euer Exzellenz«, sagte ich, »des kleinen Gedichtes, wo er der Prinzeß von Preußen, nachherigen Königin von Schweden, die artige Liebeserklärung macht, indem er sagt, daß er sich im Traum zum Rang der Könige habe erhoben gesehen?«

»Es ist eins seiner vorzüglichsten«, sagte Goethe, indem er rezitierte:

»Je vous aimais, princesse, et j'osais vous le dire.
Les Dieux à mon réveil ne m'ont pas tout ôté,
Je n'ai perdu que mon empire.

Ja, das ist artig! Und dann«, fuhr Goethe fort, »hat es wohl nie einen Poeten gegeben, dem sein Talent jeden Augenblick so zur Hand war wie Voltaire. Ich erinnere mich einer Anekdote, wo er eine Zeitlang zum Besuch bei seiner Freundin Du Chatelet gewesen war und in dem Augenblick der Abreise, als schon der Wagen vor der Tür steht, einen Brief von einer großen Anzahl junger Mädchen eines benachbarten Klosters erhält, die zum Geburtstag ihrer Äbtissin den ›Tod Julius Cäsars‹ aufführen wollen und ihn um einen Prolog bitten. Der Fall war zu artig, als daß Voltaire ihn ablehnen konnte; schnell läßt er sich daher Feder und Papier geben und schreibt stehend auf dem Rande eines Kamins das Verlangte. Es ist ein Gedicht von etwa zwanzig Versen, durchaus durchdacht und vollendet, ganz für den gegebenen Fall passend, genug, von der besten Sorte.«

»Ich hin sehr begierig, es zu lesen«, sagte ich.

»Ich zweifle,« sagte Goethe, »daß es in Ihrer Sammlung steht, es ist erst kürzlich zum Vorschein gekommen, wie er denn solche Gedichte zu Hunderten gemacht hat, von denen noch manche hie und dort im Privatbesitz verborgen sein mögen.«

»Ich fand dieser Tage eine Stelle in Lord Byron,« sagte ich, »woraus zu meiner Freude hervorging, welche außerordentliche Achtung auch Byron vor Voltaire gehabt. Auch sieht man es ihm wohl an, wie sehr er Voltaire mag gelesen, studiert und benutzt haben.«

»Byron«, sagte Goethe, »wußte zu gut, wo etwas zu holen war, und er war zu gescheit, als daß er aus dieser allgemeinen Quelle des Lichts nicht auch hätte schöpfen sollen.«

Das Gespräch wendete sich hiernächst ganz auf Byron und einzelne seiner Werke, wobei Goethe häufigen Anlaß fand, manche seiner früheren Äußerungen von Anerkennung und Bewunderung jenes großen Talentes zu wiederholen.

»In alles, was Euer Exzellenz über Byron sagen,« erwiderte ich, »stimme ich von Herzen bei; allein wie bedeutend und groß jener Dichter als Talent auch sein mag, so möchte ich doch sehr zweifeln, daß aus seinen Schriften für reine Menschenbildung ein entschiedener Gewinn zu schöpfen.«

»Da muß ich Ihnen widersprechen«, sagte Goethe. »Byrons Kühnheit, Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? – Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. – Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.«


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