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Mittwoch, den 18. April 1827
Mit Goethe vor Tisch spazieren gefahren eine Strecke die Straße nach Erfurt hinaus. Es begegnete uns allerhand Frachtfuhrwerk mit Waren für die Leipziger Messe. Auch einige Züge Koppelpferde, worunter sehr schöne Tiere.
»Ich muß über die Ästhetiker lachen,« sagte Goethe, »welche sich abquälen, dasjenige Unaussprechliche, wofür wir den Ausdruck ›schön‹ gebrauchen, durch einige abstrakte Worte in einen Begriff zu bringen. Das Schöne ist ein Urphänomen, das zwar nie selber zur Erscheinung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiedenen Äußerungen des schaffenden Geistes sichtbar wird und so mannigfaltig und so verschiedenartig ist, als die Natur selber.«
»Ich habe oft aussprechen hören,« sagte ich, »die Natur sei immer schön; sie sei die Verzweiflung des Künstlers, indem er selten fähig sei, sie ganz zu erreichen.«
»Ich weiß wohl,« erwiderte Goethe, »daß die Natur oft einen unerreichbaren Zauber entfaltet; allein ich bin keineswegs der Meinung, daß sie in allen ihren Äußerungen schön sei. Ihre Intentionen sind zwar immer gut, allein die Bedingungen sind es nicht, die dazu gehören, sie stets vollkommen zur Erscheinung gelangen zu lassen.
So ist die Eiche ein Baum, der sehr schön sein kann. Doch wie viele günstige Umstände müssen zusammentreffen, ehe es der Natur einmal gelingt, ihn wahrhaft schön hervorzubringen. Wächst die Eiche im Dickicht des Waldes heran, von bedeutenden Nachbarstämmen umgeben, so wird ihre Tendenz immer nach oben gehen, immer nach freier Luft und Licht. Nach den Seiten hin wird sie nur wenige schwache Äste treiben, und auch diese werden im Laufe des Jahrhunderts wieder verkümmern und abfallen. Hat sie aber endlich erreicht, sich mit ihrem Gipfel oben im Freien zu fühlen, so wird sie sich beruhigen und nun anfangen, sich nach den Seiten hin auszubreiten und eine Krone zu bilden. Allein sie ist auf dieser Stufe bereits über ihr mittleres Alter hinaus, ihr vieljähriger Trieb nach oben hat ihre frischesten Kräfte hingenommen, und ihr Bestreben, sich jetzt noch nach der Breite hin mächtig zu erweisen, wird nicht mehr den rechten Erfolg haben. Hoch, stark und schlankstämmig wird sie nach vollendetem Wuchse dastehen, doch ohne ein solches Verhältnis zwischen Stamm und Krone, um in der Tat schön zu sein.
Wächst hinwieder die Eiche an feuchten, sumpfigen Orten und ist der Boden zu nahrhaft, so wird sie, bei gehörigem Raum, frühzeitig viele Äste und Zweige nach allen Seiten treiben; es werden jedoch die widerstrebenden, retardierenden Einwirkungen fehlen, das Knorrige, Eigensinnige, Zackige wird sich nicht entwickeln, und, aus einiger Ferne gesehen, wird der Baum ein schwaches, lindenartiges Ansehen gewinnen, und er wird nicht schön sein, wenigstens nicht als Eiche.
Wächst sie endlich an bergigen Abhängen, auf dürftigem, steinichtem Erdreich, so wird sie zwar im Übermaß zackig und knorrig erscheinen, allein es wird ihr an freier Entwickelung fehlen, sie wird in ihrem Wuchs frühzeitig kümmern und stocken, und sie wird nie erreichen, daß man von ihr sage: es walte in ihr etwas, das fähig sei, uns in Erstaunen zu setzen.«
Ich freute mich dieser guten Worte. »Sehr schöne Eichen«, sagte ich, »habe ich gesehen, als ich vor einigen Jahren von Göttingen aus mitunter kleine Touren ins Wesertal machte. Besonders mächtig fand ich sie im Solling in der Gegend von Höxter.«
»Ein sandiger oder mit Sand gemischter Boden,« fuhr Goethe fort, »wo ihr nach allen Richtungen hin mächtige Wurzeln zu treiben vergönnt ist, scheint ihr am günstigsten zu sein. Und dann will sie einen Stand, der ihr gehörigen Raum gewährt, alle Einwirkungen von Licht und Sonne und Regen und Wind von allen Seiten her in sich aufzunehmen. Im behaglichen Schutz vor Wind und Wetter herangewachsen, wird aus ihr nichts; aber ein hundertjähriger Kampf mit den Elementen macht sie stark und mächtig, so daß nach vollendetem Wuchs ihre Gegenwart uns Erstaunen und Bewunderung einflößt.«
»Könnte man nicht aus diesen Ihren Andeutungen«, versetzte ich, »ein Resultat ziehen und sagen: ein Geschöpf sei dann schön, wenn es zu dem Gipfel seiner natürlichen Entwickelung gelangt sei?«
»Recht wohl,« erwiderte Goethe; »doch müßte man zuvor aussprechen, was man unter dem Gipfel der natürlichen Entwickelung wolle verstanden haben.«
»Ich würde damit«, erwiderte ich, »diejenige Periode des Wachstums bezeichnen, wo der Charakter, der diesem oder jenem Geschöpf eigentümlich ist, vollkommen ausgeprägt erscheint.«
»In diesem Sinne«, erwiderte Goethe, »wäre nichts dagegen einzuwenden, besonders wenn man noch hinzufügte, daß zu solchem vollkommen ausgeprägten Charakter zugleich gehöre, daß der Bau der verschiedenen Glieder eines Geschöpfes dessen Naturbestimmung angemessen und also zweckmäßig sei.
So wäre z. B. ein mannbares Mädchen, dessen Naturbestimmung ist, Kinder zu gebären und Kinder zu säugen, nicht schön ohne gehörige Breite des Beckens und ohne gehörige Fülle der Brüste. Doch wäre auch ein Zuviel nicht schön, denn das würde über das Zweckmäßige hinausgehen.
Warum konnten wir vorhin einige der Reitpferde, die uns begegneten, schön nennen, als eben wegen der Zweckmäßigkeit ihres Baues? Es war nicht bloß das Zierliche, Leichte, Graziöse ihrer Bewegungen, sondern noch etwas mehr, worüber ein guter Reuter und Pferdekenner reden müßte und wovon wir anderen bloß den allgemeinen Eindruck empfinden.«
»Könnte man nicht auch«, sagte ich, »einen Karrengaul schön nennen, wie uns vorhin einige sehr starke vor den Frachtwagen der Brabanter Fuhrleute begegneten?«
»Allerdings,« erwiderte Goethe; »und warum nicht? Ein Maler fände an dem stark ausgeprägten Charakter, an dem mächtigen Ausdruck von Knochen, Sehnen und Muskeln eines solchen Tieres wahrscheinlich noch ein weit mannigfaltigeres Spiel von allerlei Schönheiten, als an dem milderen, egaleren Charakter eines zierlichen Reitpferdes.
Die Hauptsache ist immer,« fuhr Goethe fort, »daß die Rasse rein und der Mensch nicht seine verstümmelnde Hand angelegt hat. Ein Pferd, dem Schweif und Mähne abgeschnitten, ein Hund mit gestutzen Ohren, ein Baum, dem man die mächtigsten Zweige genommen und das übrige kugelförmig geschnitzelt hat, und über alles eine Jungfrau, deren Leib von Jugend auf durch Schnürbrüste verdorben und entstellt worden, alles dieses sind Dinge, von denen sich der gute Geschmack abwendet und die bloß in dem Schönheits-Katechismus der Philister ihre Stelle haben.«
Unter diesen und ähnlichen Gesprächen waren wir wieder zurückgekehrt. Wir machten vor Tisch noch einige Gänge im Hausgarten. Das Wetter war sehr schön; die Frühlingssonne fing an mächtig zu werden und an Büschen und Hecken schon allerlei Laub und Blüten hervorzulocken. Goethe war voller Gedanken und Hoffnungen eines genußreichen Sommers.
Darauf bei Tisch waren wir sehr heiter. Der junge Goethe hatte die ›Helena‹ seines Vaters gelesen und sprach darüber mit vieler Einsicht eines natürlichen Verstandes. Über den im antiken Sinne gedichteten Teil ließ er eine entschiedene Freude blicken, während ihm die opernartige romantische Hälfte, wie man merken konnte, beim Lesen nicht lebendig geworden.
»Du hast im Grunde recht, und es ist ein eigenes Ding«, sagte Goethe. »Man kann zwar nicht sagen, daß das Vernünftige immer schön sei; allein das Schöne ist doch immer vernünftig, oder wenigstens es sollte so sein. Der antike Teil gefällt dir aus dem Grunde, weil er faßlich ist, weil du die einzelnen Teile übersehen und du meiner Vernunft mit der deinigen beikommen kannst. In der zweiten Hälfte ist zwar auch allerlei Verstand und Vernunft gebraucht und verarbeitet worden, allein es ist schwer und erfordert einiges Studium, ehe man den Dingen beikommt und ehe man mit eigener Vernunft die Vernunft des Autors wieder herausfindet.«
Goethe sprach darauf mit allerlei Lob und Anerkennung über die Gedichte der Madame Tastü, mit deren Lektüre er sich in diesen Tagen beschäftiget.
Als die übrigen gingen und ich mich auch anschickte zu gehen, bat er mich, noch ein wenig zu bleiben. Er ließ ein Portefeuille mit Kupferstichen und Radierungen niederländischer Meister herbeibringen.
»Ich will Sie doch«, sagte er, »zum Nachtisch noch mit etwas Gutem traktieren.« Mit diesen Worten legte er mir ein Blatt vor, eine Landschaft von Rubens. »Sie haben«, sagte er, »dieses Bild zwar schon bei mir gesehen; allein man kann etwas Vortreffliches nicht oft genug betrachten, und diesmal handelt es sich noch dazu um etwas ganz Besonderes. Möchten Sie mir wohl sagen, was Sie sehen?«
»Nun,« sagte ich, »wenn ich von der Tiefe anfange, so haben wir im äußersten Hintergrunde einen sehr hellen Himmel, wie eben nach Sonnenuntergang. Dann gleichfalls in der äußersten Ferne ein Dorf und eine Stadt in der Helle des Abendlichtes. In der Mitte des Bildes sodann einen Weg, worauf eine Herde Schafe dem Dorfe zueilet. Rechts im Bilde allerlei Heuhaufen und einen Wagen, der soeben vollgeladen worden. Angeschirrte Pferde grasen in der Nähe. Ferner, seitwärts in Gebüschen zerstreut, mehrere weidende Stuten mit ihren Fohlen, die das Ansehen haben, als würden sie in der Nacht draußen bleiben. Sodann, näher dem Vordergrunde zu, eine Gruppe großer Bäume; und zuletzt, ganz im Vordergrunde links, verschiedene nach Hause gehende Arbeiter.«
»Gut,« sagte Goethe, »das wäre wohl alles. Aber die Hauptsache fehlt noch. Alle diese Dinge, die wir dargestellt sehen: die Herde Schafe, der Wagen mit Heu, die Pferde, die nach Hause gehenden Feldarbeiter, von welcher Seite sind sie beleuchtet?«
»Sie haben das Licht«, sagte ich, »auf der uns zugekehrten Seite und werfen die Schatten in das Bild hinein. Besonders die nach Hause gehenden Feldarbeiter im Vordergrunde sind sehr im Hellen, welches einen trefflichen Effekt tut.«
»Wodurch hat aber Rubens diese schöne Wirkung hervorgebracht
»Dadurch,« antwortete ich, »daß er diese hellen Figuren auf einem dunkelen Grunde erscheinen läßt.«
»Aber dieser dunkele Grund,« erwiderte Goethe, »wodurch entsteht er?«
»Es ist der mächtige Schatten,« sagte ich, »den die Baumgruppe den Figuren entgegenwirft. – Aber wie,« fuhr ich mit Überraschung fort, »die Figuren werfen die Schatten in das Bild hinein, die Baumgruppe dagegen wirft den Schatten den Beschauer entgegen! – Da haben wir ja das Licht von zwei entgegengesetzten Seiten, welches aber ja gegen alle Natur ist!«
»Das ist eben der Punkt,« erwiderte Goethe mit einigem Lächeln. »Das ist es, wodurch Rubens sich groß erweiset und an den Tag legt, daß er mit freiem Geiste über der Natur steht und sie seinen höheren Zwecken gemäß traktiert. Das doppelte Licht ist allerdings gewaltsam und Sie können immerhin sagen, es sei gegen die Natur. Allein wenn es gegen die Natur ist, so sage ich zugleich, es sei höher als die Natur, so sage ich, es sei der kühne Griff des Meisters, wodurch er auf geniale Weise an den Tag legt, daß die Kunst der natürlichen Notwendigkeit nicht durchaus unterworfen ist, sondern ihre eigenen Gesetze hat.
Der Künstler«, fuhr Goethe fort, »muß freilich die Natur im einzelnen treu und fromm nachbilden, er darf in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen und Muskeln eines Tieres nichts willkürlich ändern, so daß dadurch der eigentümliche Charakter verletzt würde; denn das hieße die Natur vernichten. Allein in den höheren Regionen des künstlerischen Verfahrens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bilde wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier sogar zu Fiktionen schreiten, wie Rubens in dieser Landschaft mit dem doppelten Lichte getan.
Der Künstler bat zur Natur ein zwiefaches Verhältnis: er ist ihr Herr und ihr Sklave zugleich. Er ist ihr Sklave, insofern er mit irdischen Mitteln wirken muß, um verstanden zu werden; ihr Herr aber, insofern er diese irdischen Mittel seinen höheren Intentionen unterwirft und ihnen dienstbar macht.
Der Künstler will zur Welt durch ein Ganzes sprechen; dieses Ganze aber findet er nicht in der Natur, sondern es ist die Frucht seines eigenen Geistes oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchtenden göttlichen Odems.
Betrachten wir diese Landschaft von Rubens nur so obenhin, so kommt uns alles so natürlich vor, als sei es nur geradezu von der Natur abgeschrieben. Es ist aber nicht so. Ein so schönes Bild ist nie in der Natur gesehen worden, ebensowenig als eine Landschaft von Poussin oder Claude Lorrain, die uns auch sehr natürlich erscheint, die wir aber gleichfalls in der Wirklichkeit vergebens suchen.«
»Ließen sich nicht auch«, sagte ich, »ähnliche kühne Züge künstlerischer Fiktion, wie dieses doppelte Licht von Rubens, in der Literatur finden?«
»Da brauchen wir nicht eben weit zu gehen,« erwiderte Goethe nach einigem Nachdenken. »Ich könnte sie Ihnen im Shakespeare zu Dutzenden nachweisen. Nehmen Sie nur den ›Macbeth‹. Als die Lady ihren Gemahl zur Tat begeistern will, sagt sie:
Ich habe Kinder aufgesäugt –
Ob dieses wahr ist oder nicht, kommt gar nicht darauf an; aber die Lady sagt es, und sie muß es sagen, um ihrer Rede dadurch Nachdruck zu geben. Im späteren Verlauf des Stückes aber, als Macduff die Nachricht von dem Untergange der Seinen erfährt, ruft er im wilden Grimme aus:
Er hat keine Kinder!
Diese Worte des Macduff kommen also mit denen der Lady in Widerspruch – aber das kümmert Shakespeare nicht. Ihm kommt es auf die Kraft der jedesmaligen Rede an, und so wie die Lady zum höchsten Nachdruck ihrer Worte sagen mußte: ›Ich habe Kinder aufgesäugt‹, so mußte auch zu eben diesem Zweck Macduff sagen: ›Er hat keine Kinder!‹
Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »sollen wir es mit dem Pinselstriche eines Malers oder dem Worte eines Dichters nicht so genau und kleinlich nehmen; vielmehr sollen wir ein Kunstwerk, das mit kühnem und freiem Geiste gemacht worden, auch wo möglich mit ebensolchem Geiste wieder anschauen und genießen.
So wäre es töricht, wenn man aus den Worten des Macbeth:
Gebier mir keine Töchter –
den Schluß ziehen wollte, die Lady sei ein ganz jugendliches Wesen, das noch nicht geboren habe. Und ebenso töricht wäre es, wenn man weiter gehen und verlangen wollte, die Lady müsse auf der Bühne als eine solche sehr jugendliche Person dargestellt werden.
Shakespeare läßt den Macbeth diese Worte keineswegs sagen, um damit die Jugend der Lady zu beweisen, sondern diese Worte, wie die vorhin angeführten der Lady und des Macduff, sind bloß rhetorischer Zwecke wegen da und wollen weiter nichts beweisen, als daß der Dichter seine Personen jedesmal das reden läßt, was eben an dieser Stelle gehörig, wirksam und gut ist, ohne sich viel und ängstlich zu bekümmern und zu kalkulieren, ob diese Worte vielleicht mit einer anderen Stelle in scheinbaren Widerspruch geraten möchten.
Überhaupt hat Shakespeare bei seinen Stücken schwerlich daran gedacht, daß sie als gedruckte Buchstaben vorliegen würden, die man überzählen und gegeneinander vergleichen und berechnen möchte; vielmehr hatte er die Bühne vor Augen, als er schrieb; er sah seine Stücke als ein Bewegliches, Lebendiges an, das von den Brettern herab den Augen und Ohren rasch vorüberfließen würde, das man nicht festhalten und im einzelnen bekritteln könnte, und wobei es bloß darauf ankam, immer nur im gegenwärtigen Moment wirksam und bedeutend zu sein.«