Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Sonntag, den 1. April 1827

Abends bei Goethe. Ich sprach mit ihm über die gestrige Vorstellung seiner ›Iphigenie‹, worin Herr Krüger vom Königlichen Theater zu Berlin den Orest spielte, und zwar zu großem Beifall.

»Das Stück«, sagte Goethe, »hat seine Schwierigkeiten. Es ist reich an innerem Leben, aber arm an äußerem. Daß aber das innere Leben hervorgekehrt werde, darin liegts. Es ist voll der wirksamsten Mittel, die aus den mannigfaltigsten Greueln hervorwachsen, die dem Stück zugrunde liegen. Das gedruckte Wort ist freilich nur ein matter Widerschein von dem Leben, das in mir bei der Erfindung rege war. Aber der Schauspieler muß uns zu dieser ersten Glut, die den Dichter seinem Sujet gegenüber beseelte, wieder zurück bringen. Wir wollen von der Meerluft frisch angewehte, kraftvolle Griechen und Helden sehen, die, von mannigfaltigen Übeln und Gefahren geängstigt und bedrängt, stark herausreden, was ihnen das Herz im Busen gebietet; aber wir wollen keine schwächlich empfindenden Schauspieler, die ihre Rollen nur so obenhin auswendig gelernt haben, am wenigsten aber solche, die ihre Rollen nicht einmal können.

Ich muß gestehen, es hat mir noch nie gelingen wollen, eine vollendete Aufführung meiner ›Iphigenie‹ zu erleben. Das war auch die Ursache, warum ich gestern nicht hineinging. Denn ich leide entsetzlich, wenn ich mich mit diesen Gespenstern herumschlagen muß, die nicht so zur Erscheinung kommen, wie sie sollten.«

»Mit dem Orest, wie Herr Krüger ihn gab,« sagte ich, »würden Sie wahrscheinlich zufrieden gewesen sein. Sein Spiel hatte eine Deutlichkeit, daß nichts begreiflicher, nichts faßlicher war als seine Rolle. Es drang sich alles ein, und ich werde seine Bewegungen und Worte nicht vergessen.

Dasjenige, was in dieser Rolle der exaltierten Anschauung, der Vision gehört, trat durch seine körperlichen Bewegungen und den veränderten abwechselnden Ton seiner Stimme so aus seinem Innern heraus, daß man es mit leiblichen Augen zu sehen glaubte. Beim Anblick dieses Orest hätte Schiller die Furien sicher nicht vermißt; sie waren hinter ihm her, sie waren um ihn herum.

Die bedeutende Stelle, wo Orest, aus seiner Ermattung erwachend, sich in die Unterwelt versetzt glaubt, gelang zu hohem Erstaunen. Man sah die Reihen der Ahnherrn in Gesprächen wandeln, man sah Orest sich ihnen gesellen, sie befragen und sich an sie anschließen. Man fühlte sich selbst versetzt und in die Mitte dieser Seligen mit aufgenommen: so rein und tief war die Empfindung des Künstlers und so groß sein Vermögen, das Unfaßlichste uns vor die Augen zu bringen.«

»Ihr seid doch noch Leute, auf die sich wirken läßt!« erwiderte Goethe lachend. »Aber fahren Sie fort und sagen Sie weiter. Er scheint also wirklich gut gewesen zu sein und seine körperlichen Mittel von Bedeutung?«

»Sein Organ«, sagte ich, »war rein und wohltönend, auch viel geübt und dadurch der höchsten Biegsamkeit und Mannigfaltigkeit fähig. Physische Kraft und körperliche Gewandtheit standen ihm sodann bei Ausführung aller Schwierigkeiten zur Seite; es schien, daß er es sein lebelang an der mannigfaltigsten körperlichen Ausbildung und Übung nicht hatte fehlen lassen.«

»Ein Schauspieler«, sagte Goethe, »sollte eigentlich auch bei einem Bildhauer und Maler in die Lehre gehen. So ist ihm, um einen Griechischen Helden darzustellen, durchaus nötig, daß er die auf uns gekommenen antiken Bildwerke wohl studiert und sich die ungesuchte Grazie ihres Sitzens, Stehens und Gehens wohl eingeprägt habe.

Auch ist es mit dem Körperlichen noch nicht getan. Er muß auch durch ein fleißiges Studium der besten alten und neuen Schriftsteller seinem Geiste eine große Ausbildung geben, welches ihm denn nicht bloß zum Verständnis seiner Rolle zugute kommen, sondern auch seinem ganzen Wesen und seiner ganzen Haltung einen höheren Anstrich geben wird. Doch erzählen Sie weiter! Was war denn noch sonst Gutes an ihm zu bemerken?«

»Es schien mir,« sagte ich, »als habe ihm eine große Liebe für seinen Gegenstand beigewohnt. Er hatte durch ein emsiges Studium sich alles einzelne klar gemacht, so daß er in seinem Helden mit großer Freiheit lebte und webte und nichts übrig blieb, was nicht durchaus wäre das Seinige geworden. Hieraus entstand denn ein richtiger Ausdruck und eine richtige Betonung jedes einzelnen Wortes, und eine solche Sicherheit, daß für ihn der Souffleur eine ganz überflüssige Person war.«

»Das freut mich,« sagte Goethe, »und so ist es recht. Nichts ist schrecklicher, als wenn die Schauspieler nicht Herr ihrer Rolle sind und bei jedem neuen Satz nach dem Souffleur horchen müssen, wodurch ihr Spiel sogleich null ist und sogleich ohne alle Kraft und Leben. Wenn bei einem Stück wie meine ›Iphigenie‹ die Schauspieler in ihren Rollen nicht durchaus fest sind, so ist es besser, die Aufführung zu unterlassen. Denn das Stück kann bloß Erfolg haben, wenn alles sicher, rasch und lebendig geht.

Nun, nun! – Es ist mir lieb, daß es mit Krügern so gut abgelaufen. Zelter hatte ihn mir empfohlen, und es wäre mir fatal gewesen, wenn es mit ihm nicht so gut gegangen wäre, wie es ist. Ich werde ihm auch meinerseits einen kleinen Spaß machen und ihm ein hübsch eingebundenes Exemplar der ›Iphigenie‹ zum Andenken verehren mit einigen eingeschriebenen Versen in bezug auf sein Spiel.«

Das Gespräch lenkte sich auf die ›Antigone‹ von Sophokles, auf die darin waltende hohe Sittlichkeit und endlich auf die Frage: wie das Sittliche in die Welt gekommen.

»Durch Gott selber,« erwiderte Goethe, »wie alles andere Gute. Es ist kein Produkt menschlicher Reflexion, sondern es ist angeschaffene und angebotene schöne Natur. Es ist mehr oder weniger den Menschen im allgemeinen angeschaffen, im hohen Grade aber einzelnen ganz vorzüglich begabten Gemütern. Diese haben durch große Taten oder Lehren ihr göttliches Innere offenbart, welches sodann durch die Schönheit seiner Erscheinung die Liebe der Menschen ergriff und zur Verehrung und Nacheiferung gewaltig fortzog.

Der Wert des Sittlich-Schönen und Guten aber konnte durch Erfahrung und Weisheit zum Bewußtsein gelangen, indem das Schlechte sich in seinen Folgen als ein solches erwies, welches das Glück des Einzelnen wie des Ganzen zerstörte, dagegen das Edle und Rechte als ein solches, welches das besondere und allgemeine Glück herbeiführte und befestigte. So konnte das Sittlich-Schöne zur Lehre werden und sich als ein Ausgesprochenes über ganze Völkerschaften verbreiten.«

»Ich las neulich irgendwo die Meinung ausgesprochen,« versetzte ich, »die griechische Tragödie habe sich die Schönheit des Sittlichen zum besonderen Gegenstand gemacht.«

»Nicht sowohl das Sittliche,« erwiderte Goethe, »als das Rein-Menschliche in seinem ganzen Umfange; besonders aber in den Richtungen, wo es, mit einer rohen Macht und Satzung in Konflikt geratend, tragischer Natur werden konnte. In dieser Region lag denn freilich auch das Sittliche, als ein Hauptteil der menschlichen Natur.

Das Sittliche der ›Antigone‹ ist übrigens nicht von Sophokles erfunden, sondern es lag im Sujet, welches aber Sophokles um so lieber wählen mochte, als es neben der sittlichen Schönheit so viel Dramatisch-Wirksames in sich hatte.«

Goethe sprach sodann über den Charakter des Kreon und der Ismene und über die Notwendigkeit dieser beiden Figuren zur Entwickelung der schönen Seele der Heldin. »Alles Edle«, sagte er, »ist an sich stiller Natur und scheint zu schlafen, bis es durch Widerspruch geweckt und herausgefordert wird. Ein solcher Widerspruch ist Kreon, welcher teils der Antigone wegen da ist, damit sich ihre edle Natur und das Recht, was auf ihrer Seite liegt, an ihm hervorkehre, teils aber um sein selbst willen, damit sein unseliger Irrtum uns als ein Hassenswürdiges erscheine.

Da aber Sophokles uns das hohe Innere seiner Heldin auch vor der Tat zeigen wollte, so mußte noch ein anderer Widerspruch da sein, woran sich ihr Charakter entwickeln konnte, und das ist die Schwester Ismene. In dieser hat der Dichter uns nebenbei ein schönes Maß des Gewöhnlichen gegeben, woran uns die ein solches Maß weit übersteigende Höhe der Antigone desto auffallender sichtbar wird.«

Das Gespräch wendete sich auf dramatische Schriftsteller im allgemeinen, und welche bedeutende Wirkung auf die große Masse des Volkes von ihnen ausgehe und ausgehen könne.

»Ein großer dramatischer Dichter,« sagte Goethe, »wenn er zugleich produktiv ist und ihm eine mächtige edle Gesinnung beiwohnt, die alle seine Werke durchdringt, kann erreichen, daß die Seele seiner Stücke zur Seele des Volkes wird. Ich dächte, das wäre etwas, das wohl der Mühe wert wäre. Von Corneille ging eine Wirkung aus, die fähig war, Heldenseelen zu bilden. Das war etwas für Napoleon, der ein Heldenvolk nötig hatte; weshalb er denn von Corneille sagte, daß, wenn er noch lebte, er ihn zum Fürsten machen würde. Ein dramatischer Dichter, der seine Bestimmung kennt, soll daher unablässig an seiner höheren Entwickelung arbeiten, damit die Wirkung, die von ihm auf das Volk ausgeht, eine wohltätige und edle sei.

Man studiere nicht die Mitgeborenen und Mitstrebenden, sondern große Menschen der Vorzeit, deren Werke seit Jahrhunderte gleichen Wert und gleiches Ansehen behalten haben. Ein wirklich hochbegabter Mensch wird das Bedürfnis dazu ohnedies in sich fühlen, und gerade dieses Bedürfnis des Umgangs mit großen Vorgängern ist das Zeichen einer höheren Anlage. Man studiere Molière, man studiere Shakespeare, aber vor allen Dingen die alten Griechen und immer die Griechen.«

»Für hochbegabte Naturen«, bemerkte ich, »mag das Studium der Schriften des Altertums allerdings ganz unschätzbar sein; allein im allgemeinen scheint es auf den persönlichen Charakter wenig Einfluß auszuüben. Wenn das wäre, so müßten ja alle Philologen und Theologen die vortrefflichsten Menschen sein. Dies ist aber keineswegs der Fall, und es sind solche Kenner der Griechischen und lateinischen Schriften des Altertums eben tüchtige Leute oder auch arme Wichte, je nach den guten oder schlechten Eigenschaften, die Gott in ihre Natur gelegt oder die sie von Vater und Mutter mitbrachten.«

»Dagegen ist nichts zu erinnern,« erwiderte Goethe; »aber damit ist durchaus nicht gesagt, daß das Studium der Schriften des Altertums für die Bildung eines Charakters überhaupt ohne Wirkung wäre. Ein Lump bleibt freilich ein Lump, und eine kleinliche Natur wird durch einen selbst täglichen Verkehr mit der Großheit antiker Gesinnung um keinen Zoll größer werden. Allein ein edler Mensch, in dessen Seele Gott die Fähigkeit künftiger Charaktergröße und Geisteshoheit gelegt, wird durch die Bekanntschaft und den vertraulichen Umgang mit den erhabenen Naturen griechischer und römischer Vorzeit sich auf das herrlichste entwickeln und mit jedem Tage zusehends zu ähnlicher Größe heranwachsen.«


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