Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Sonntag, den 10. Januar 1830

Heute zum Nachtisch bereitete Goethe mir einen hohen Genuß, indem er mir die Szene vorlas, wo Faust zu den Müttern geht.

Das Neue, Ungeahndete des Gegenstandes, sowie die Art und Weise, wie Goethe mir die Szene vortrug, ergriff mich wundersam, so daß ich mich ganz in die Lage von Faust versetzt fühlte, den bei der Mitteilung des Mephistopheles gleichfalls ein Schauer überläuft.

Ich hatte das Dargestellte wohl gehört und wohl empfunden, aber es blieb mir so vieles rätselhaft, daß ich mich gedrungen fühlte, Goethe um einigen Aufschluß zu bitten. Er aber, in seiner gewöhnlichen Art, hüllte sich in Geheimnisse, indem er mich mit großen Augen anblickte und mir die Worte wiederholte:

Die Mütter! Mütter! – 's klingt so wunderlich!

»Ich kann Ihnen weiter nichts verraten,« sagte er darauf, »als daß ich beim Plutarch gefunden, daß im griechischen Altertume von Müttern als Gottheiten die Rede gewesen. Dies ist alles, was ich der Überlieferung verdanke, das übrige ist meine eigene Erfindung. Ich gebe Ihnen das Manuskript mit nach Hause, studieren Sie alles wohl und sehen Sie zu, wie Sie zurecht kommen.«

Ich war darauf glücklich bei wiederholter ruhiger Betrachtung dieser merkwürdigen Szene und entwickelte mir über der Mütter eigentliches Wesen und Wirken, über ihre Umgebung und Aufenthalt, die nachfolgende Ansicht.

Könnte man sich den ungeheuren Weltkörper unserer Erde im Innern als leeren Raum denken, so daß man Hunderte von Meilen in einer Richtung darin fortzustreben vermöchte, ohne auf etwas Körperliches zu stoßen, so wäre dieses der Aufenthalt jener unbekannten Göttinnen, zu denen Faust hinabgeht. Sie leben gleichsam außer allem Ort, denn es ist nichts Festes, das sie in einiger Nähe umgibt; auch leben sie außer aller Zeit, denn es leuchtet ihnen kein Gestirn, welches auf- oder unterginge und den Wechsel von Tag und Nacht andeutete.

So in ewiger Dämmerung und Einsamkeit beharrend, sind die Mütter schaffende Wesen, sie sind das schaffende und erhaltende Prinzip, von dem alles ausgeht, was auf der Oberfläche der Erde Gestalt und Leben hat. Was zu atmen aufhört, geht als geistige Natur zu ihnen zurück, und sie bewahren es, bis es wieder Gelegenheit findet, in ein neues Dasein zu treten. Alle Seelen und Formen von dem, was einst war und künftig sein wird, schweift in dem endlosen Raum ihres Aufenthaltes wolkenartig hin und her; es umgibt die Mütter, und der Magier muß also in ihr Reich gehen, wenn er durch die Macht seiner Kunst über die Form eines Wesens Gewalt haben und ein früheres Geschöpf zu einem Scheinleben hervorrufen will.

Die ewige Metamorphose des irdischen Daseins, des Entstehens und Wachsens, des Zerstörens und Wiederbildens, ist also der Mütter nie aufhörende Beschäftigung. Und wie nun bei allem, was auf der Erde durch Fortzeugung ein neues Leben erhält, das Weibliche hauptsächlich wirksam ist, so mögen jene schaffenden Gottheiten mit Recht weiblich gedacht, und es mag der ehrwürdige Name Mütter ihnen nicht ohne Grund beigelegt werden.

Freilich ist dieses alles nur eine poetische Schöpfung; allein der beschränkte Mensch vermag nicht viel weiter zu dringen, und er ist zufrieden, etwas zu finden, wobei er sich beruhigen möchte. Wir sehen auf Erden Erscheinungen und empfinden Wirkungen, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen, und wohin sie gehen. Wir schließen auf einen geistigen Urquell, auf ein Göttliches, wofür wir keine Begriffe und keinen Ausdruck haben, und welches wir zu uns herabziehen und anthropomorphisieren müssen, um unsere dunkelen Ahndungen einigermaßen zu verkörpern und faßlich zu machen.

So sind alle Mythen entstanden, die von Jahrhundert zu Jahrhundert in den Völkern fortlebten, und ebenso diese neue von Goethe, die wenigstens den Schein einiger Naturwahrheit hat und die wohl den besten gleichzustellen sein dürfte, die je gedacht worden.


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