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Donnerstag, den 12. [?] Mai 1825
Goethe sprach mit hoher Begeisterung über Menander. »Nächst dem Sophokles«, sagte er, »kenne ich keinen, der mir so lieb wäre. Er ist durchaus rein, edel, groß und heiter, seine Anmut ist unerreichbar. Daß wir so wenig von ihm besitzen, ist allerdings zu bedauern, allein auch das Wenige ist unschätzbar und für begabte Menschen viel daraus zu lernen.
Es kommt nur immer darauf an,« fuhr Goethe fort, »daß derjenige, von dem wir lernen wollen, unserer Natur gemäß sei. So hat z. B. Calderon, so groß er ist und so sehr ich ihn bewundere, auf mich gar keinen Einfluß gehabt, weder im Guten noch im Schlimmen. Schillern aber wäre er gefährlich gewesen, er wäre an ihm irre geworden, und es ist daher ein Glück, daß Calderon erst nach seinem Tode in Deutschland in allgemeine Aufnahme gekommen. Calderon ist unendlich groß im Technischen und Theatralischen; Schiller dagegen weit tüchtiger, ernster und größer im Wollen, und es wäre daher schade gewesen, von solchen Tugenden vielleicht etwas einzubüßen, ohne doch die Größe Calderons in anderer Hinsicht zu erreichen.«
Wir kamen auf Molière. »Molière«, sagte Goethe, »ist so groß, daß man immer von neuem erstaunt, wenn man ihn wieder liest. Er ist ein Mann für sich, seine Stücke grenzen ans Tragische, sie sind apprehensiv, und niemand hat den Mut, es ihm nachzutun. Sein ›Geiziger‹, wo das Laster zwischen Vater und Sohn alle Pietät aufhebt, ist besonders groß und im hohen Sinne tragisch. Wenn man aber in einer deutschen Bearbeitung aus dem Sohn einen Verwandten macht, so wird es schwach und will nicht viel mehr heißen. Man fürchtet, das Laster in seiner wahren Natur erscheinen zu sehen allein was wird es da, und was ist denn überhaupt tragisch wirksam als das Unerträgliche.
Ich lese von Molière alle Jahr einige Stücke, so wie ich auch von Zeit zu Zeit die Kupfer nach den großen italienischen Meistern betrachte. Denn wir kleinen Menschen sind nicht fähig, die Größe solcher Dinge in uns zu bewahren, und wir müssen daher von Zeit zu Zeit immer dahin zurückkehren, um solche Eindrücke in uns anzufrischen.
Man spricht immer von Originalität, allein was will das sagen! Sowie wir geboren werden, fängt die Welt an, auf uns zu wirken, und das geht so fort bis ans Ende. Und überhaupt, was können wir denn unser Eigenes nennen, als die Energie, die Kraft, das Wollen! Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.
Hiebei aber ist es keineswegs gleichgültig, in welcher Epoche unseres Lebens der Einfluß einer fremden bedeutenden Persönlichkeit stattfindet.
Daß Lessing, Winckelmann und Kant älter waren als ich, und die beiden ersteren auf meine Jugend, der letztere auf mein Alter wirkte, war für mich von großer Bedeutung.
Ferner: daß Schiller so viel jünger war und im frischesten Streben begriffen, da ich an der Welt müde zu werden begann; angleichen, daß die Gebrüder von Humboldt und Schlegel unter meinen Augen aufzutreten anfingen, war von der größten Wichtigkeit. Es sind mir daher unnennbare Vorteile entstanden.«
Nach solchen Äußerungen über die Einflüsse bedeutender Personen auf ihn kam das Gespräch auf die Wirkungen, die er auf andere gehabt, und ich erwähnte Bürger, bei welchem es mir problematisch erscheine, daß bei ihm, als einem reinen Naturtalent, gar keine Spur einer Einwirkung von Goethes Seite wahrzunehmen.
»Bürger«, sagte Goethe, »hatte zu mir wohl eine Verwandtschaft als Talent, allein der Baum seiner sittlichen Kultur wurzelte in einem ganz anderen Boden und hatte eine ganz andere Richtung. Und jeder geht in der aufsteigenden Linie seiner Ausbildung fort, so wie er angefangen. Ein Mann aber, der in seinem dreißigsten Jahre ein Gedicht wie die ›Frau Schnips‹ schreiben konnte, mußte wohl in einer Bahn gehen, die von der meinigen ein wenig ablag. Auch hatte er durch sein bedeutendes Talent sich ein Publikum gewonnen, dem er völlig genügte, und er hatte daher keine Ursache, sich nach den Eigenschaften eines Mitstrebenden umzutun, der ihn weiter nichts anging.
»Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »lernt man nur von dem, den man liebt. Solche Gesinnungen finden sich nun wohl gegen mich bei jetzt heranwachsenden jungen Talenten, allein ich fand sie sehr spärlich unter Gleichzeitigen. Ja ich wüßte kaum einen einzigen Mann von Bedeutung zu nennen, dem ich durchaus recht gewesen wäre. Gleich an meinem ›Werther‹ tadelten sie so viel, daß, wenn ich jede gescholtene Stelle hätte tilgen wollen, von dem ganzen Buche keine Zeile geblieben wäre. Allein aller Tadel schadete mir nichts, denn solche subjektive Urteile einzelner obgleich bedeutender Männer stellten sich durch die Masse wieder ins Gleiche. Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben.
Nun streitet sich das Publikum seit zwanzig Jahren, wer größer sei: Schiller oder ich, und sie sollten sich freuen, daß überhaupt ein paar Kerle da sind, worüber sie streiten können.«