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Mittwoch, den 21. Dezember 1831
Mit Goethe zu Tisch. Wir sprachen, woher es gekommen, daß seine ›Farbenlehre‹ sich so wenig verbreitet habe. »Sie ist sehr schwer zu überliefern,« sagte er, »denn sie will, wie Sie wissen, nicht bloß gelesen und studiert, sondern sie will getan sein, und das hat seine Schwierigkeit. Die Gesetze der Poesie und Malerei sind gleichfalls bis auf einen gewissen Grad mitzuteilen, allein um ein guter Poet und Maler zu sein, bedarf es Genie, das sich nicht überliefern läßt. Ein einfaches Urphänomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu erkennen und damit zu wirken, erfordert einen produktiven Geist, der vieles zu übersehen vermag, und ist eine seltene Gabe, die sich nur bei ganz vorzüglichen Naturen findet.
Und auch damit ist es noch nicht getan. Denn wie einer mit allen Regeln und allem Genie noch kein Maler ist, sondern wie eine unausgesetzte Übung hinzukommen muß, so ist es auch bei der Farbenlehre nicht genug, daß einer die vorzüglichsten Gesetze kenne und den geeigneten Geist habe, sondern er muß sich immerfort mit den einzelnen oft sehr geheimnisvollen Phänomenen und ihrer Ableitung und Verknüpfung zu tun machen.
»So wissen wir z. B. im allgemeinen recht gut, daß die grüne Farbe durch eine Mischung des Gelben und Blauen entsteht: allein bis einer sagen kann, er begreife das Grün des Regenbogens, oder das Grün des Laubes, oder das Grün des Meerwassers, dieses erfordert ein so allseitiges Durchschreiten des Farbenreiches und eine daraus entspringende solche Höhe von Einsicht, zu welcher bis jetzt kaum jemand gelangt ist.«
Zum Nachtisch betrachteten wir darauf einige Landschaften von Poussin. »Diejenigen Stellen,« sagte Goethe bei dieser Gelegenheit, »worauf der Maler das höchste Licht fallen läßt, lassen kein Detail in der Ausführung zu; weshalb denn Wasser, Felsstücke, nackter Erdboden und Gebäude für solche Träger des Hauptlichtes die günstigsten Gegenstände sind. Dinge dagegen, die in der Zeichnung ein größeres Detail erfordern, kann der Künstler nicht wohl an solchen Lichtstellen gebrauchen.
Ein Landschaftsmaler«, sagte Goethe ferner, »muß viele Kenntnisse haben. Es ist nicht genug, daß er Perspektive, Architektur und die Anatomie des Menschen und der Tiere verstehe, sondern er muß sogar auch einige Einsichten in die Botanik und Mineralogie besitzen. Erstere, damit er das Charakteristische der Bäume und Pflanzen, und letztere, damit er den Charakter der verschiedenen Gebirgsarten gehörig auszudrücken verstehe. Doch ist deshalb nicht nötig, daß er ein Mineralog vom Fache sei, indem er es vorzüglich nur mit Kalk-, Tonschiefer- und Sandsteingebirgen zu tun hat und er nur zu wissen braucht, in welchen Formen es liegt, wie es sich bei der Verwitterung spaltet, und welche Baumarten darauf gedeihen oder verkrüppeln.«
Goethe zeigte mir sodann einige Landschaften von Hermann von Schwanefeld, wobei er über die Kunst und Persönlichkeit dieses vorzüglichen Menschen verschiedenes aussprach.
»Man findet bei ihm«, sagte er, »die Kunst als Neigung und die Neigung als Kunst, wie bei keinem andern. Er besitzt eine innige Liebe zur Natur und einen göttlichen Frieden, der sich uns mitteilt, wenn wir seine Bilder betrachten. In den Niederlanden geboren, studierte er in Rom unter Claude Lorrain, durch welchen Meister er sich auf das vollkommenste ausbildete und seine schöne Eigentümlichkeit auf das freieste entwickelte.«
Wir schlugen darauf in einem Künstlerlexikon nach, um zu sehen, was über Hermann von Schwanefeld gesagt ward, wo man ihm denn vorwarf, daß er seinen Meister nicht erreicht habe. »Die Narren!« sagte Goethe. »Schwanefeld war ein anderer als Claude Lorrain, und dieser kann nicht sagen, daß er ein besserer gewesen. Wenn man aber weiter nichts vom Leben hätte, als was unsere Biographen und Lexikonschreiber von uns sagen, so wäre es ein schlechtes Metier und überhaupt nicht der Mühe wert.«
Am Schlusse dieses und zu Anfange des nächsten Jahres wandte sich Goethe ganz wieder seinen Lieblingsstudien, den Naturwissenschaften, zu und beschäftigte sich, teils auf Anregung von Boisserée, mit fernerer Ergründung der Gesetze des Regenbogens, sowie besonders auch, aus Teilnahme an dem Streit zwischen Cuvier und Saint-Hilaire, mit Gegenständen der Metamorphose der Pflanzen- und Tierwelt. Auch redigierte er mit mir gemeinschaftlich den historischen Teil der ›Farbenlehre‹, sowie er auch an einem Kapitel über die Mischung der Farben innigen Anteil nahm, das ich auf seine Anregung, um in den theoretischen Band aufgenommen zu werden, bearbeitete.
Es fehlte in dieser Zeit nicht an mannigfachen interessanten Unterhaltungen und geistreichen Äußerungen seinerseits. Allein, wie er in völliger Kraft und Frische mir täglich vor Augen war, so dachte ich, es würde immer so fortgehen, und war in Auffassung seiner Worte gleichgültiger als billig, bis es denn endlich zu spät war und ich am 22. März 1832 mit Tausenden von edlen Deutschen seinen unersetzlichen Verlust zu beweinen hatte.
Folgendes notierte ich nicht lange darauf aus der nächsten Erinnerung.
Anfangs März [?] 1832
Goethe erzählte bei Tisch, daß der Baron Karl von Spiegel ihn besucht, und daß er ihm über die Maßen wohl gefallen. »Er ist ein sehr hübscher junger Mann,« sagte Goethe; »er hat in seiner Art, in seinem Benehmen ein Etwas, woran man sogleich den Edelmann erkennet. Seine Abkunft könnte er ebensowenig verleugnen, als jemand einen höheren Geist verleugnen könnte. Denn beides, Geburt und Geist, geben dem, der sie einmal besitzet, ein Gepräge, das sich durch kein Inkognito verbergen läßt. Es sind Gewalten wie die Schönheit, denen man nicht nahe kommen kann, ohne zu empfinden, daß sie höherer Art sind.«
Einige Tage später
Wir sprachen über die tragische Schicksalsidee der Griechen.
»Dergleichen«, sagte Goethe, »ist unserer jetzigen Denkungsweise nicht mehr gemäß, es ist veraltet und überhaupt mit unseren religiösen Vorstellungen in Widerspruch. Verarbeitet ein moderner Poet solche frühere Ideen zu einem Theaterstück, so sieht es immer aus wie eine Art von Affektation. Es ist ein Anzug, der längst aus der Mode gekommen ist, und der uns, gleich der römischen Toga, nicht mehr zu Gesichte steht.
Wir Neueren sagen jetzt besser mit Napoleon: die Politik ist das Schicksal. Hüten wir uns aber mit unseren neuesten Literatoren zu sagen, die Politik sei die Poesie, oder sie sei für den Poeten ein passender Gegenstand. Der englische Dichter Thomson schrieb ein sehr gutes Gedicht über die Jahreszeiten, allein ein sehr schlechtes über die Freiheit, und zwar nicht aus Mangel an Poesie im Poeten, sondern aus Mangel an Poesie im Gegenstande.
Sowie ein Dichter politisch wirken will, muß er sich einer Partei hingeben, und sowie er dieses tut, ist er als Poet verloren; er muß seinem freien Geiste, seinem unbefangenen Überblick Lebewohl sagen und dagegen die Kappe der Borniertheit und des blinden Hasses über die Ohren ziehen.
Der Dichter wird als Mensch und Bürger sein Vaterland lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schöne, das an keine besondere Provinz und an kein besonderes Land gebunden ist, und das er ergreift und bildet, wo er es findet. Er ist darin dem Adler gleich, der mit freiem Blick über Ländern schwebt und dem es gleichviel ist, ob der Hase, auf den er hinabschießt, in Preußen oder in Sachsen läuft.
Und was heißt denn: sein Vaterland lieben, und was heißt denn: patriotisch wirken? Wenn ein Dichter lebenslänglich bemüht war, schädliche Vorurteile zu bekämpfen, engherzige Ansichten zu beseitigen, den Geist seines Volkes aufzuklären, dessen Geschmack zu reinigen und dessen Gesinnungs- und Denkweise zu veredeln, was soll er denn da Besseres tun? und wie soll er denn da patriotischer wirken? – An einen Dichter so ungehörige und undankbare Anforderungen zu machen, wäre ebenso, als wenn man von einem Regimentschef verlangen wolle: er müsse, um ein rechter Patriot zu sein, sich in politische Neuerungen verflechten und darüber seinen nächsten Beruf vernachlässigen. Das Vaterland eines Regimentschefs aber ist sein Regiment, und er wird ein ganz vortrefflicher Patriot sein, wenn er sich um politische Dinge gar nicht bemüht, als soweit sie ihn angehen, und wenn er dagegen seinen ganzen Sinn und seine ganze Sorge auf die ihm untergebenen Bataillons richtet und sie so gut einzuexerzieren und in so guter Zucht und Ordnung zu erhalten sucht, daß sie, wenn das Vaterland einst in Gefahr kommt, als tüchtige Leute ihren Mann stehen.
Ich hasse alle Pfuscherei wie die Sünde, besonders aber die Pfuscherei in Staatsangelegenheiten, woraus für Tausende und Millionen nichts als Unheil hervorgeht.
Sie wissen, ich bekümmere mich im ganzen wenig um das, was über mich geschrieben wird, aber es kommt mir doch zu Ohren, und ich weiß recht gut, daß, so sauer ich es mir auch mein lebelang habe werden lassen, all mein Wirken in den Augen gewisser Leute für nichts geachtet wird, eben weil ich verschmäht habe, mich in politische Parteiungen zu mengen. Um diesen Leuten recht zu sein, hätte ich müssen Mitglied eines Jakobinerklubs werden und Mord und Blutvergießen predigen! – Doch kein Wort mehr über diesen schlechten Gegenstand, damit ich nicht unvernünftig werde, indem ich das Unvernünftige bekämpfe.«
Gleicherweise tadelte Goethe die von anderen so sehr gepriesene politische Richtung in Uhland. »Geben Sie acht,« sagte er, »der Politiker wird den Poeten aufzehren. Mitglied der Stände sein und in täglichen Reibungen und Aufregungen leben, ist keine Sache für die zarte Natur eines Dichters. Mit seinem Gesange wird es aus sein, und das ist gewissermaßen zu bedauern. Schwaben besitzt Männer genug, die hinlänglich unterrichtet, wohlmeinend, tüchtig und beredt sind, um Mitglied der Stände zu sein, aber es hat nur einen Dichter der Art wie Uhland.«
Der letzte Fremde, den Goethe gastfreundlich bei sich bewirtete, war der älteste Sohn der Frau von Arnim; das Letzte, was er geschrieben, waren einige Verse in das Stammbuch des gedachten jungen Freundes.
Am andern Morgen nach Goethes Tode ergriff mich eine tiefe Sehnsucht, seine irdische Hülle noch einmal zu sehen. Sein treuer Diener Friedrich schloß mir das Zimmer auf, wo man ihn hingelegt hatte. Auf dem Rücken ausgestreckt, ruhte er wie ein Schlafender: tiefer Friede und Festigkeit waltete auf den Zügen seines erhaben-edlen Gesichts. Die mächtige Stirn schien noch Gedanken zu hegen. Ich hatte das Verlangen nach einer Locke von seinen Haaren, doch die Ehrfurcht verhinderte mich, sie ihm abzuschneiden. Der Körper lag nackend in ein weißes Bettuch gehüllet, große Eisstücke hatte man in einiger Nähe umhergestellt, um ihn frisch zu erhalten so lange als möglich. Friedrich schlug das Tuch auseinander, und ich erstaunte über die göttliche Pracht dieser Glieder. Die Brust überaus mächtig, breit und gewölbt; Arme und Schenkel voll und sanft muskulös, die Füße zierlich und von der reinsten Form, und nirgends am ganzen Körper eine Spur von Fettigkeit oder Abmagerung und Verfall. Ein vollkommener Mensch lag in großer Schönheit vor mir, und das Entzücken, das ich darüber empfand, ließ mich auf Augenblicke vergessen, daß der unsterbliche Geist eine solche Hülle verlassen. Ich legte meine Hand auf sein Herz – es war überall eine tiefe Stille – und ich wendete mich abwärts, um meinen verhaltenen Tränen freien Lauf zu lassen.