Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Sonnabend, den 6. [Freitag, den 5.] März 1830*

Goethe liest seit einiger Zeit die ›Memoiren‹ von Saint-Simon.

»Mit dem Tode von Ludwig dem Vierzehnten«, sagte er mir vor einigen Tagen, »habe ich jetzt Halt gemacht. Bis dahin hat mich das Dutzend Bände im hohen Grade interessiert, und zwar durch den Kontrast der Willensrichtungen des Herrn und der aristokratischen Tugend des Dieners. Aber von dem Augenblick an, wo jener Monarch abgeht und eine andere Personnage auftritt, die zu schlecht ist, als daß Saint-Simon sich zu seinem Vorteil neben ihr ausnehmen könnte, machte die Lektüre mir keine Freude mehr; der Widerwille trat ein, und ich verließ das Buch da, wo mich der ›Tyrann‹ verließ.«

Auch den ›Globe‹ und ›Temps‹, den Goethe seit mehreren Monaten mit dem größten Eifer las, hat er seit etwa vierzehn Tagen zu lesen aufgehört. So wie die Nummern bei ihm unter Kreuzband ankommen, legt er sie uneröffnet beiseite. Indes bittet er seine Freunde, ihm zu erzählen, was in der Welt vorgeht. Er ist seit einiger Zeit sehr produktiv und ganz vertieft im zweiten Teile seines ›Faust‹. Besonders ist es die ›Klassische Walpurgisnacht‹, die ihn seit einigen Wochen ganz hinnimmt und die dadurch auch rasch und bedeutend heranwächst. In solchen durchaus produktiven Epochen liebt Goethe die Lektüre überhaupt nicht, es wäre denn, daß sie als etwas Leichtes und Heiteres ihm als ein wohltätiges Ausruhen diente, oder auch, daß sie mit dem Gegenstande, den er eben unter Händen hat, in Harmonie stände und dazu behilflich wäre. Er meidet sie dagegen ganz entschieden, wenn sie so bedeutend und aufregend wirkte, daß sie seine ruhige Produktion stören und sein tätiges Interesse zersplittern und ablenken könnte. Das letztere scheint jetzt mit dem ›Globe‹ und ›Temps‹ der Fall zu sein. »Ich sehe,« sagte er, »es bereiten sich in Paris bedeutende Dinge vor; wir sind am Vorabend einer großen Explosion. Da ich aber darauf keinen Einfluß habe, so will ich es ruhig abwarten, ohne mich von dem spannenden Gang des Dramas unnützerweise täglich aufregen zu lassen. Ich lese jetzt so wenig den ›Globe‹ als den ›Temps‹, und meine ›Walpurgisnacht‹ rückt dabei gar nicht schlecht vorwärts.«

Er sprach darauf über den Zustand der neuesten französischen Literatur, die ihn sehr interessiert. »Was die Franzosen«, sagte er, »bei ihrer jetzigen literarischen Richtung für etwas Neues halten, ist im Grunde weiter nichts als der Widerschein desjenigen, was die deutsche Literatur seit funfzig Jahren gewollt und geworden. Der Keim der historischen Stücke, die bei ihnen jetzt etwas Neues sind, findet sich schon seit einem halben Jahrhundert in meinem ›Götz‹. Übrigens«, fügte er hinzu, »haben die deutschen Schriftsteller niemals daran gedacht und nie in der Absicht geschrieben, auf die Franzosen einen Einfluß ausüben zu wollen. Ich selbst habe immer nur mein Deutschland vor Augen gehabt, und es ist erst seit gestern oder ehegestern, daß es mir einfällt, meine Blicke westwärts zu wenden, um auch zu sehen, wie unsere Nachbarn jenseits des Rheines von mir denken. Aber auch jetzt haben sie auf meine Produktionen keinen Einfluß. Selbst Wieland, der die französischen Formen und Darstellungsweisen nachgeahmt, ist im Grunde durchaus immer deutsch geblieben und würde sich in einer Übertragung schlecht ausnehmen.«


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