Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Montag, den 10. November 1823

Goethe befindet sich seit einigen Tagen nicht zum besten; eine heftige Erkältung scheint in ihm zu stecken. Er hustet viel, obgleich laut und kräftig; doch scheint der Husten schmerzlich zu sein, denn er faßt dabei gewöhnlich mit der Hand nach der Seite des Herzens.

Ich war diesen Abend vor dem Theater ein halbes Stündchen bei ihm. Er saß in einem Lehnstuhl, mit dem Rücken in ein Kissen gesenkt; das Reden schien ihm schwer zu werden.

Nachdem wir einiges gesprochen, wünschte er, daß ich ein Gedicht lesen möchte, womit er ein neues jetzt im Werke begriffenes Heft von ›Kunst und Altertum‹ eröffnet. Er blieb in seinem Stuhle sitzen und bezeichnete mir den Ort, wo es lag. Ich nahm ein Licht und setzte mich ein wenig entfernt von ihm an seinen Schreibtisch, um es zu lesen.

Das Gedicht trug einen wunderbaren Charakter, so daß ich mich nach einmaligem Lesen, ohne es jedoch ganz zu verstehen, davon eigenartig berührt und ergriffen fühlte. Es hatte die Verherrlichung des Paria zum Gegenstande und war als Trilogie behandelt. Der darin herrschende Ton war mir wie aus einer fremden Welt herüber, und die Darstellung der Art, daß mir die Belebung des Gegenstandes sehr schwer ward. Auch war Goethes persönliche Nähe einer reinen Vertiefung hinderlich; bald hörte ich ihn husten, bald hörte ich ihn seufzen, und so war mein Wesen geteilt: meine eine Hälfte las, und die andere war im Gefühl seiner Gegenwart. Ich mußte das Gedicht daher lesen und wieder lesen, um nur einigermaßen hineinzukommen. Je mehr ich aber eindrang, von desto bedeutenderem Charakter und auf einer desto höheren Stufe der Kunst wollte es mir erscheinen.

Ich sprach darauf mit Goethe sowohl über den Gegenstand als die Behandlung, wo mir denn durch einige seiner Andeutungen manches lebendiger entgegentrat.

»Freilich,« sagte er darauf, »die Behandlung ist sehr knapp, und man muß gut eindringen, wenn man es recht besitzen will. Es kommt mir selber vor wie eine aus Stahldrähten geschmiedete Damaszenerklinge. Ich habe aber auch den Gegenstand vierzig Jahre mit mir herumgetragen, so daß er denn freilich Zeit hatte, sich von allem Ungehörigen zu läutern.«

»Es wird Wirkung tun,«sagte ich, »wenn es beim Publikum hervortritt.«

»Ach, das Publikum!« seufzete Goethe.

»Sollte es nicht gut sein,« sagte ich, »wenn man dem Verständnis zu Hülfe käme und es machte wie bei der Erklärung eines Gemäldes, wo man durch Vorführung der vorhergegangenen Momente das wirklich Gegenwärtige zu beleben sucht?«

»Ich bin nicht der Meinung«, sagte Goethe. »Mit Gemälden ist es ein anderes; weil aber ein Gedicht gleichfalls aus Worten besteht, so hebt ein Wort das andere auf.«

Goethe scheint mir hierdurch sehr treffend die Klippe angedeutet zu haben, woran Ausleger von Gedichten gewöhnlich scheitern. Es frägt sich aber, ob es nicht möglich sei, eine solche Klippe zu vermeiden und einem Gedichte dennoch durch Worte zu Hülfe zu kommen, ohne das Zarte seines innern Lebens im mindesten zu verletzen.

Als ich ging, wünschte er, daß ich die Bogen von ›Kunst und Altertum‹ mit nach Hause nehme, um das Gedicht ferner zu betrachten; desgleichen die ›Östlichen Rosen‹ von Rückert, von welchem Dichter er viel zu halten und die besten Erwartungen zu hegen scheint.


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