Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Donnerstag, den 11. September 1828

Heute zwei Uhr, bei dem herrlichsten Wetter, kam Goethe von Dornburg zurück. Er war rüstig und ganz braun von der Sonne. Wir setzten uns bald zu Tisch, und zwar in dem Zimmer, das unmittelbar an den Garten stößt und dessen Türen offen standen. Er erzählte von mancherlei gehabten Besuchen und erhaltenen Geschenken und schien sich überall in zwischengestreuten leichten Scherzen zu gefallen. Blickte man aber tiefer, so konnte man eine gewisse Befangenheit nicht verkennen, wie sie derjenige empfindet, der in einen alten Zustand zurückkehrt, der durch mancherlei Verhältnisse, Rücksichten und Anforderungen bedingt ist.

Wir waren noch bei den ersten Gerichten, als eine Sendung der Großherzogin-Mutter kam, die ihre Freude über Goethes Zurückkunft zu erkennen gab, mit der Meldung, daß sie nächsten Dienstag das Vergnügen haben werde, ihn zu besuchen.

Seit dem Tode des Großherzogs hatte Goethe niemanden von der fürstlichen Familie gesehen. Er hatte zwar mit der Großherzogin-Mutter in fortwährendem Briefwechsel gestanden, so daß sie sich über den erlittenen Verlust gewiß hinlänglich ausgesprochen hatten. Allein jetzt stand das persönliche Wiedersehen bevor, das ohne einige schmerzliche Regungen von beiden Seiten nicht wohl abgehen konnte, und das demnach im voraus mit einiger Apprehension mochte empfunden werden. So auch hatte Goethe den jungen Hof noch nicht gesehen und als neuer Landesherrschaft gehuldigt. Dieses alles stand ihm bevor, und wenn es ihn auch als großen Weltmann keineswegs genieren konnte, so genierte es ihn doch als Talent, das immer in seinen angeborenen Richtungen und in seiner Tätigkeit leben möchte.

Zudem drohten Besuche aus allen Gegenden. Das Zusammenkommen berühmter Naturforscher in Berlin hatte viele bedeutende Männer in Bewegung gesetzt, die, in ihren Wegen Weimar durchkreuzend, sich teils hatten melden lassen und deren Ankunft zu erwarten war. Wochenlange Störungen, die den inneren Sinn hinnahmen und aus der gewohnten Bahn lenkten, und was sonst für Unannehmlichkeiten mit übrigens so werten Besuchen in Verbindung stehen mochten, dieses alles mußte von Goethe gespenstisch vorausempfunden werden, sowie er wieder den Fuß auf die Schwelle setzte und die Räume seiner Zimmer durchschritt.

Was aber alles dieses Bevorstehende noch lästiger machte, war ein Umstand, den ich nicht übergehen darf. Die fünfte Lieferung seiner Werke, welche auch die ›Wanderjahre‹ enthalten soll, muß auf Weihnachten zum Druck abgeliefert werden. Diesen früher in einem Bande erschienenen Roman hat Goethe gänzlich umzuarbeiten angefangen, und das Alte mit so viel Neuem verschmolzen, daß es als ein Werk in drei Bänden in der neuen Ausgabe hervorgehen soll. Hieran ist nun zwar bereits viel getan, aber noch sehr viel zu tun. Das Manuskript hat überall weiße Papierlücken, die noch ausgefüllt sein wollen. Hier fehlt etwas in der Exposition, hier ist ein geschickter Übergang zu finden, damit dem Leser weniger fühlbar werde, daß es ein kollektives Werk sei; hier sind Fragmente von großer Bedeutung, denen der Anfang, andere, denen das Ende mangelt: und so ist an allen drei Bänden noch sehr viel nachzuhelfen, um das bedeutende Buch zugleich annehmlich und anmutig zu machen.

Goethe teilte mir vergangenes Frühjahr das Manuskript zur Durchsicht mit, wir verhandelten damals sehr viel über diesen wichtigen Gegenstand mündlich und schriftlich; ich riet ihm, den ganzen Sommer der Vollendung dieses Werkes zu widmen und alle anderen Arbeiten so lange zur Seite zu lassen, er war gleichfalls von dieser Notwendigkeit überzeugt und hatte den festen Entschluß, so zu tun. Dann aber starb der Großherzog; in Goethes ganze Existenz war dadurch eine ungeheure Lücke gerissen, an eine so viele Heiterkeit und ruhigen Sinn verlangende Komposition war nicht mehr zu denken, und er hatte nur zu sehen, wie er sich persönlich oben halten und wiederherstellen wollte.

Jetzt aber, da er, mit Herbstesanfang von Dornburg zurückkehrend, die Zimmer seiner weimarischen Wohnung wieder betrat, mußte ihm auch der Gedanke an die Vollendung seiner ›Wanderjahre‹, wozu ihm nur noch die kurze Frist weniger Monate vergönnet war, lebendig vor die Seele treten, und zwar im Konflikt mit den mannigfaltigen Störungen, die ihm bevorstanden und einem reinen ruhigen Walten und Wirken seines Talentes im Wege waren.

Faßt man nun alles Dargelegte zusammen, so wird man mich verstehen, wenn ich sage, daß in Goethe, trotz seiner leichten heiteren Scherze bei Tisch, eine tiefer liegende Befangenheit nicht zu verkennen gewesen.

Warum ich aber diese Verhältnisse berühre, hat noch einen anderen Grund. Es steht mit einer Äußerung Goethes in Verbindung, die mir sehr merkwürdig erschien, die seinen Zustand und sein eigentümliches Wesen aussprach, und wovon ich nun reden will.

Professor Abeken zu Osnabrück hatte mir in den Tagen vor dem 28. August einen Einschluß zugesendet, mit dem Ersuchen, ihn Goethe zu seinem Geburtstage zu schicklicher Stunde zu überreichen. Es sei ein Andenken in bezug auf Schiller, das gewiß Freude verursachen werde.

Als nun Goethe heute bei Tisch von den mannigfaltigen Geschenken erzählte, die ihm zu seinem Geburtstag nach Dornburg gesendet worden, fragte ich ihn, was das Paket von Abeken enthalten.

»Es war eine merkwürdige Sendung,« sagte Goethe, »die mir viel Freude gemacht hat. Ein liebenswürdiges Frauenzimmer, bei der Schiller den Tee getrunken, hat die Artigkeit gehabt, seine Äußerungen niederzuschreiben. Sie hat alles sehr hübsch aufgefaßt und treu wiedergegeben, und das lieset sich nun nach so langer Zeit gar gut, indem man dadurch unmittelbar in einen Zustand versetzt wird, der mit tausend anderen bedeutenden vorübergegangen ist, in diesem Fall aber glücklicherweise in seiner Lebendigkeit auf dem Papiere gefesselt worden.

Schiller erscheint hier, wie immer, im absoluten Besitz seiner erhabenen Natur; er ist so groß am Teetisch, wie er es im Staatsrat gewesen sein würde. Nichts geniert ihn, nichts engt ihn ein, nichts zieht den Flug seiner Gedanken herab; was in ihm von großen Ansichten lebt, geht immer frei heraus ohne Rücksicht und ohne Bedenken. Das war ein rechter Mensch, und so sollte man auch sein! – Wir andern dagegen fühlen uns immer bedingt; die Personen, die Gegenstände, die uns umgeben, haben auf uns ihren Einfluß; der Teelöffel geniert uns, wenn er von Gold ist, da er von Silber sein sollte, und so, durch tausend Rücksichten paralysiert, kommen wir nicht dazu, was etwa Großes in unserer Natur sein möchte, frei auszulassen. Wir sind die Sklaven der Gegenstände und erscheinen geringe oder bedeutend, je nachdem uns diese zusammenziehen oder zu freier Ausdehnung Raum geben.«

Goethe schwieg, das Gespräch mischte sich anders; ich aber bedachte diese merkwürdigen, auch mein eigenes Innere berührenden und aussprechenden Worte in meinem Herzen.


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