Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Sonntag, den 20. März 1831

Goethe erzählte mir bei Tisch, daß er in diesen Tagen ›Daphnis und Chloe‹ gelesen.

»Das Gedicht ist so schön,« sagte er, »daß man den Eindruck davon, bei den schlechten Zuständen, in denen man lebt, nicht in sich behalten kann und daß man immer von neuem erstaunt, wenn man es wieder liest. Es ist darin der helleste Tag, und man glaubt lauter herkulanische Bilder zu sehen, so wie auch diese Gemälde auf das Buch zurückwirken und unserer Phantasie beim Lesen zu Hülfe kommen.«

»Mir hat«, sagte ich, »eine gewisse Abgeschlossenheit sehr wohl getan, worin alles gehalten ist. Es kommt kaum eine fremde Anspielung vor, die uns aus dem glücklichen Kreise herausführte. Von Gottheiten sind bloß Pan und Nymphen wirksam, eine andere wird kaum genannt, und man sieht auch, daß das Bedürfnis der Hirten an diesen Gottheiten genug hat.«

»Und doch, bei aller mäßigen Abgeschlossenheit«, sagte Goethe, »ist darin eine vollständige Welt entwickelt. Wir sehen Hirten aller Art, Feldbautreibende, Gärtner, Winzer, Schiffer, Räuber, Krieger und vornehme Städter, große Herren und Leibeigene.«

»Auch erblicken wir darin«, sagte ich, »den Menschen auf allen seinen Lebensstufen, von der Geburt herauf bis ins Alter; auch alle häuslichen Zustände, wie die wechselnden Jahreszeiten sie mit sich führen, gehen an unseren Augen vorüber.«

»Und nun die Landschaft!« sagte Goethe, »die mit wenigen Strichen so entschieden gezeichnet ist, daß wir in der Höhe hinter den Personen Weinberge, Äcker und Obstgärten sehen, unten die Weideplätze mit dem Fluß und ein wenig Waldung, sowie das ausgedehnte Meer in der Ferne. Und keine Spur von trüben Tagen, von Nebel, Wolken und Feuchtigkeit, sondern immer der blaueste reinste Himmel, die anmutigste Luft und ein beständig trockener Boden, so daß man sich überall nackend hinlegen möchte.

Das ganze Gedicht«, fuhr Goethe fort, »verrät die höchste Kunst und Kultur. Es ist so durchdacht, daß darin kein Motiv fehlt und alle von der gründlichsten besten Art sind, wie z. B. das von dem Schatz bei dem stinkenden Delphin am Meeresufer. Und ein Geschmack und eine Vollkommenheit und Delikatesse der Empfindung, die sich dem Besten gleichstellt, das je gemacht worden! Alles Widerwärtige, was von außen in die glücklichen Zustände des Gedichts störend hereintritt, wie Überfall, Raub und Krieg, ist immer auf das schnellste abgetan und hinterläßt kaum eine Spur. Sodann das Laster erscheint im Gefolg der Städter, und zwar auch dort nicht in den Hauptpersonen, sondern in einer Nebenfigur, in einem Untergebenen. Das ist alles von der ersten Schönheit.«

»Und dann«, sagte ich, »hat mir so wohl gefallen, wie das Verhältnis der Herren und Diener sich ausspricht. In ersteren die humanste Behandlung, und in letzteren, bei aller naiven Freiheit, doch der große Respekt und das Bestreben, sich bei dem Herrn auf alle Weise in Gunst zu setzen. So sucht denn auch der junge Städter, der sich dem Daphnis durch das Ansinnen einer unnatürlichen Liebe verhaßt gemacht hat, sich bei diesem, da er als Sohn des Herrn erkannt ist, wieder in Gnade zu bringen, indem er den Ochsenhirten die geraubte Chloe auf eine kühne Weise wieder abjagt und zu Daphnis zurückführt.«

»In allen diesen Dingen«, sagte Goethe, »ist ein großer Verstand; so auch, daß Chloe gegen den beiderseitigen Willen der Liebenden, die nichts Besseres kennen, als nackt nebeneinander zu ruhen, durch den ganzen Roman bis ans Ende ihre Jungfrauschaft behält, ist gleichfalls vortrefflich und so schön motiviert, daß dabei die größten menschlichen Dinge zur Sprache kommen.

Man müßte ein ganzes Buch schreiben, um alle großen Verdienste dieses Gedichts nach Würden zu schätzen. Man tut wohl, es alle Jahr einmal zu lesen, um immer wieder daran zu lernen und den Eindruck seiner großen Schönheit aufs neue zu empfinden.«


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