Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Montag abend, den 15. Januar 1827

Nach Vollendung der ›Helena‹ hatte Goethe sich im vergangenen Sommer zur Fortsetzung der ›Wanderjahre‹ gewendet. Von dem Vorrücken dieser Arbeit erzählte er mir oft. »Um den vorhandenen Stoff besser zu benutzen,« sagte er mir eines Tags, »habe ich den ersten Teil ganz aufgelöset und werde nun so durch Vermischung des Alten und Neuen zwei Teile bilden. Ich lasse nun das Gedruckte ganz abschreiben; die Stellen, wo ich Neues auszuführen habe, sind angemerkt, und wenn der Schreibende an ein solches Zeichen kommt, so diktiere ich weiter und bin auf diese Weise genötigt, die Arbeit nicht in Stocken geraten zu lassen.«

Eines anderen Tages sagte er mir so: »Das Gedruckte der ›Wanderjahre‹ ist nun ganz abgeschrieben; die Stellen, die ich noch neu zu machen habe, sind mit blauem Papier ausgefüllt, so daß ich sinnlich vor Augen habe, was noch zu tun ist. Sowie ich nun vorrücke, verschwinden die blauen Stellen immer mehr, und ich habe daran meine Freude.«

Vor mehreren Wochen hörte ich nun von seinem Sekretär, daß er an einer neuen Novelle arbeite; ich hielt mich daher abends von Besuchen zurück und begnügte mich, ihn bloß alle acht Tage bei Tisch zu sehen.

Diese Novelle war nun seit einiger Zeit vollendet, und er legte mir diesen Abend die ersten Bogen zur Ansicht vor.

Ich war beglückt und las bis zu der bedeutenden Stelle, wo alle um den toten Tiger herumstehen und der Wärtel die Nachricht bringt, daß der Löwe oben an der Ruine sich in die Sonne gelegt habe.

Während des Lesens hatte ich die außerordentliche Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenstände bis auf die kleinste Lokalität vor die Augen gebracht waren. Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine, alles trat entschieden vor die Anschauung, so daß man genötiget war, sich das Dargestellte gerade so zu denken, wie der Dichter es gewollt hatte. Zugleich war alles mit einer solchen Sicherheit, Besonnenheit und Herrschaft geschrieben, daß man vom Künftigen nichts vorausahnen und keine Zeile weiter blicken könnte, als man las.

»Eure Exzellenz«, sagte ich, »müssen nach einem sehr bestimmten Schema gearbeitet haben.«

»Allerdings habe ich das,« antwortete Goethe; »ich wollte das Sujet schon vor dreißig Jahren ausführen, und seit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach ›Hermann und Dorothea‹, wollte ich den Gegenstand in epischer Form und Hexametern behandeln und hatte auch zu diesem Zweck ein ausführliches Schema entworfen. Als ich nun jetzt das Sujet wieder vornehme, um es zu schreiben, kann ich jenes alte Schema nicht finden und bin also genötigt, ein neues zu machen, und zwar ganz gemäß der veränderten Form, die ich jetzt dem Gegenstande zu geben willens war. Nun aber nach vollendeter Arbeit findet sich jenes ältere Schema wieder, und ich freue mich nun, daß ich es nicht früher in Händen gehabt, denn es würde mich nur verwirrt haben. Die Handlung und der Gang der Entwickelung war zwar unverändert, allein im Detail war es doch ein ganz anderes; es war ganz für eine epische Behandlung in Hexametern gedacht und würde also für diese prosaische Darstellung gar nicht anwendbar gewesen sein.«

Das Gespräch lenkte sich auf den Inhalt. »Eine schöne Situation«, sagte ich, »ist die, wo Honorio, der Fürstin gegenüber, am tot ausgestreckten Tiger steht, die klagende weinende Frau mit dem Knaben herzugekommen ist, und auch der Fürst mit dem Jagdgefolge zu der seltsamen Gruppe soeben herbeieilt. Das müßte ein treffliches Bild machen, und ich möchte es gemalt sehen.«

»Gewiß,« sagte Goethe, »das wäre ein schönes Bild; – doch«, fuhr er nach einigem Bedenken fort, »der Gegenstand wäre fast zu reich und der Figuren zu viele, so daß die Gruppierung und Verteilung von Licht und Schatten dem Künstler sehr schwer werden würde. Allein den früheren Moment, wo Honorio auf dem Tiger kniet und die Fürstin am Pferde gegenüber steht, habe ich mir wohl als Bild gedacht; und das wäre zu machen.« Ich empfand, daß Goethe recht hatte, und fügte hinzu, daß ja dieser Moment auch eigentlich der Kern der ganzen Situation sei, worauf alles ankomme.

Noch hatte ich an dem Gelesenen zu bemerken, daß diese Novelle von allen übrigen der ›Wanderjahre‹ einen ganz verschiedenen Charakter trage, indem darin alles Darstellung des Äußern, alles real sei. »Sie haben recht,« sagte Goethe, »Innerliches finden Sie in dem Gelesenen fast gar nicht, und in meinen übrigen Sachen ist davon fast zuviel.«

»Nun bin ich neugierig, zu erfahren,« sagte ich, »wie man sich des Löwen bemeistern wird; daß dieses auf eine ganz andere Weise geschehen werde, ahne ich fast, doch das Wie ist mir gänzlich verborgen.« – »Es wäre auch nicht gut, wenn Sie es ahneten,« sagte Goethe, »und ich will es Ihnen heute nicht verraten. Donnerstag abend gebe ich Ihnen das Ende; bis dahin liegt der Löwe in der Sonne.«

Ich brachte das Gespräch auf den zweiten Teil des ›Faust‹, insbesondere auf die ›Klassische Walpurgisnacht‹, die nur noch in der Skizze dalag, und wovon Goethe mir vor einiger Zeit gesagt hatte, daß er sie als Skizze wolle drucken lassen. Nun hatte ich mir vorgenommen, Goethen zu raten, dieses nicht zu tun, denn ich fürchtete, sie möchte, einmal gedruckt, für immer unausgeführt bleiben. Goethe mußte in der Zwischenzeit das bedacht haben, denn er kam mir sogleich entgegen, indem er sagte, daß er entschlossen sei, jene Skizze nicht drucken zu lassen. »Das ist mir sehr lieb,« sagte ich, »denn nun habe ich doch die Hoffnung, daß Sie sie ausführen werden.« – »In einem Vierteljahre«, sagte er, »wäre es getan, allein woher will die Ruhe kommen! Der Tag macht gar zu viele Ansprüche an mich; es hält schwer, mich so sehr abzusondern und zu isolieren. Diesen Morgen war der Erbgroßherzog bei mir, auf morgen mittag hat sich die Großherzogin melden lassen. Ich habe solche Besuche als eine hohe Gnade zu schätzen, sie verschönern mein Leben; allein sie nehmen doch mein Inneres in Anspruch, ich muß doch bedenken, was ich diesen hohen Personen immer Neues vorlegen und wie ich sie würdig unterhalten will.«

»Und doch«, sagte ich, »haben Sie vorigen Winter die ›Helena‹ vollendet, und Sie waren doch nicht weniger gestört als jetzt.« – »Freilich,« sagte Goethe, »es geht auch, und muß auch gehen, allein es ist schwer.« – »Es ist nur gut,« sagte ich, »daß Sie ein so ausführliches Schema haben.« – »Das Schema ist wohl da«, sagte Goethe, »allein das Schwierigste ist noch zu tun; und bei der Ausführung hängt doch alles gar zu sehr vom Glück ab. Die ›Klassische Walpurgisnacht‹ muß in Reimen geschrieben werden, und doch muß alles einen antiken Charakter tragen. Eine solche Versart zu finden ist nicht leicht. Und nun den Dialog!« – »Ist denn der nicht im Schema mit erfunden?« sagte ich. »Wohl das Was,« antwortete Goethe, »aber nicht das Wie. Und dann bedenken Sie nur, was alles in jener tollen Nacht zur Sprache kommt! Fausts Rede an die Proserpina, um diese zu bewegen, daß sie die Helena herausgibt; was muß das nicht für eine Rede sein, da die Proserpina selbst zu Tränen davon gerührt wird! – Dieses alles ist nicht leicht zu machen und hängt sehr viel vom Glück ab, ja fast ganz von der Stimmung und Kraft des Augenblicks.«


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