Dante Alighieri
Die Göttliche Komödie
Dante Alighieri

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Zweiundzwanzigster Gesang

  1. Schon hinter uns geblieben war der Engel,
    Der unsern Schritt zum sechsten Kreis gekehrt
    Und mir getilgt ein Zeichen meiner Mängel.
  2. Sie, deren Wunsch Gerechtigkeit begehrt,
    Sie riefen: "Heil dem Dürstenden!" und schwiegen,
    Und ohne weitres war ihr Sinn erklärt.
  3. Ich, leichter als auf andern Felsenstiegen,
    Ging aufwärts, den behenden Geistern nach,
    Und sonder Mühe ward der Kreis erstiegen.
  4. "An Lieb’, entzündet von der Tugend," sprach
    Mein Meister nun, "ist andre stets entglommen,
    Wenn sichtbar nur hervor die Flamme brach.
  5. Darum, seit Juvenal hinabgekommen
    Zum Höllenvorhof, und mit uns vereint,
    Von dem ich, wie du mich geliebt, vernommen,
  6. War ich in Liebe dir so wohlgemeint,
    Wie wir sie selten Niegesehnen weihen,
    So, daß nun kurz mir diese Stiege scheint.
  7. Doch sprich und wolle mir als Freund verzeihen,
    Löst mir zu große Sicherheit den Zaum,
    Und wolle Kunde mir als Freund verleihen:
  8. Wie fand der Geiz doch – ich begreif es kaum –
    Bei solcher Weisheit, wie dein eifrig Streben
    Errungen hat, in deinem Busen Raum?"
  9. Hier sah ich Lächeln jenes Mund umschweben,
    Dann sprach er: "Jedes Wort aus deinem Mund,
    Zeugt’s nur von Liebe, muß mir Freude geben.
  10. Oft werden uns von außen Dinge kund,
    Die falsche Zweifel in der Seel’ erregen,
    Weil tief verborgen ist ihr wahrer Grund.
  11. Du scheinst – die Frage zeigt’s – den Wahn zu hegen,
    Daß mich der Geiz auf Erden einst geplagt,
    Vielleicht weil ich in diesem Kreis gelegen.
  12. Jetzt wisse, daß ich ihm zu sehr entsagt,
    Und dieses Unmaß hab’ ich hier in Schlingen
    So viele tausend Monden lang beklagt.
  13. Dort unten müßt’ ich, Steine wälzend, ringen,
    Hätt’ ich dein zürnend Warnen nicht gehört:
    Zu was kannst du die Menschenbrust nicht zwingen.
  14. Verfluchter Durst nach Gold, der uns betört! –
    Die ernste Mahnung hört’ ich dich verkünden
    Und ward aus eitlen Träumen aufgestört.
  15. Daß nur zu offen meine Hände stünden,
    Dies ward mir nun in meinem Geiste klar,
    Mit Reu’ ob dieser und der andern Sünden.
  16. Wieviel’ erstehn einst mit verschnittnem Haar,
    Weil bis zum Tod sie nicht erkannt, daß Sühne
    Durch Reu’ auch diesem Fehler nötig war.
  17. Wisse, die Schuld, die auf des Lebens Bühne
    Sich einer andern g’rad’ entgegensetzt,
    Verliert zugleich mit ihr hier ihre Grüne.
  18. Drum sahst du mich bei jenen Scharen jetzt
    Der Reuigen, die einst der Geiz bezwungen;
    Drum hat das Gegenteil mich herversetzt."
  19. "Zur Zeit, da du der Waffen Graus gesungen.
    Die Jokasten Gram zu Gram gefügt,"
    Sprach jener, dem das Hirtenlied gelungen,
  20. "War, wenn, was Klio aus dir singt, nicht trügt,
    Nicht durch den Glauben noch dein Herz gelichtet,
    Bei dessen Mangel keine Tugend g’nügt.
  21. Nun, welche Sonne hat die Nacht vernichtet,
    Welch irdisch Licht, daß du an deinem Kahn
    Die Segel dann, dem Fischer nach, gerichtet?"
  22. Und er: "Du zeigtest mir zuerst die Bahn
    Zu dem Parnaß und seinen süßen Quellen
    Und warst mein erstes Licht, um Gott zu nah’n.
  23. Dem, der bei Nacht geht, warst du gleichzustellen,
    Dem seine Leuchte selbst kein Licht verleiht,
    Um hinter ihm die Straße zu erhellen,
  24. Indem du sprachst: Erneuert wird die Zeit,
    Ich seh’ ein neu Geschlecht vom Himmel steigen
    Und Ordnung herrschen und Gerechtigkeit.
  25. Durch dich ward mir der Ruhm des Dichters eigen,
    Durch dich ward ich den Christen beigeseIIt;
    Wie? Soll sich dir in klarem Bilde zeigen.
  26. Vom wahren Glauben schwanger war die Welt
    Schon überall; es streuten diesen Samen
    Die Boten ew’gen Reichs ins weite Feld.
  27. Mit deinem oft berührten Worte kamen
    Die neuen Pred’ger sämtlich überein,
    Drum folgt’ ich denen, die ihr Wort vernahmen.
  28. Sie schienen mir so heilig und so rein –
    Und als sie Domitian verfolgte, machten
    Mich weinen ihre Klag’ und ihre Pein.
  29. Und ihnen beizustehn war all mein Trachten,
    Da mir so redlich ihre Sitt’ erschien;
    All andre Sekten mußt’ ich drum verachten.
  30. Eh’ dichtend, ich an Thebens Flüsse zieh’n
    Die Griechen ließ, hatt’ ich die Tauf empfangen,
    Obwohl ich äußerlich als Heid’ erschien,
  31. Und ein versteckter Christ verblieb aus Bangen;
    Und ob der Lauheit hab’ ich mehr als vier
    Jahrhunderte den vierten Kreis umgangen.
  32. Sprich jetzo du, der du den Schleier mit
    Gehoben hast vom Heile, das ich preise,
    Denn Zeit genug beim Steigen haben wir:
  33. Wo Freund Terenz, wo Varro ist, der Weise,
    Cäcilius, Plautus? – sprich, ich bitte sehr,
    Ob sie verdammt sind und in welchem Kreise?"
  34. "Sie, ich und mancher sonst," erwidert’ er,
    "Wir sind beim Griechen, jenem blinden Alten,
    Den Musenmilch getränkt, wie keinen mehr,
  35. Im ersten Kreis der blinden Haft enthalten;
    Oft sprachen wir von jenem Berge schon,
    Wo unsre süßen Nährerinnen walten.
  36. Dort ist Euripides, Anakreon
    Mit vielen Griechen, die der Lorbeer krönte,
    Mit dem Simonides und Agathon.
  37. Auch sie, von welchen einst dein Lied ertönte,
    Antigone, Ismene, so gebeugt,
    Wie einst, da sie um den Verlobten stöhnte.
  38. Auch jene, die das Kind, das sie gesäugt,
    Rückkehrend von Langia, tot gefunden,
    Und Daphne, von Tiresias erzeugt."
  39. Die Dichter schwiegen beide jetzt und stunden,
    Vom Steigen frei und von der Felsenwand,
    Und sah’n umher, das Weitre zu erkunden.
  40. Die fünfte Dienerin des Tages stand
    Am Wagen schon, um seinen Lauf zu leiten,
    Der Deichsel FIammenspitz’ emporgewandt.
  41. "Wir kehren, denk’ ich, unsre rechten Seiten",
    Begann mein Herr, "zum freien Rande hin,
    Um, wie wir pflegen, um den Berg zu schreiten."
  42. So ward Gewohnheit unsre Führerin;
    Auch Statius winkte Beifall dem Genossen,
    Drum gingen wir mit sorgenfreiem Sinn,
  43. Sie mir voraus, ich einsam, unverdrossen,
    Ging hinterdrein, den Reden horchend, fort,
    Die meinem Geist der Dichtung Tief’ erschlossen.
  44. Doch machte bald der Dichter süßes Wort
    Ein Baum mit würzig duft’gen Äpfeln schweigen.’
    Inmitten unsers Weges stand er dort;
  45. Und wie die Tann’ aufwärts, von Zweig zu Zweigen
    Sich enger abstuft, so von Sproß zu Sproß
    Er niederwärts, erschwerend das Ersteigen.
  46. Auf jener Seite, wo der Weg sich schloß,
    Fiel klares Naß vom hohen Felsensaume,
    Das auf die Blätter sprühend sich ergoß.
  47. Da nahte sich das Dichterpaar dem Baume,
    Aus dessen Zweigen eine Stimm’ erscholl:
    "Die Speise hier wird teuer eurem Gaume."
  48. "Der Hochzeit nur, um ganz und ehrenvoll
    Sie auszurichten, galt Marias Sinnen,
    Nicht ihrem Mund, der für euch sprechen soll. ,
  49. Nur Wasser tranken einst die Römerinnen;
    Nicht Königskost hat Daniel gewollt,
    Um reichen Schatz der Weisheit zu gewinnen.
  50. Die Urzeit war so schön wie lautres Gold,
    Als Eichen noch dem Hunger leckre Speisen
    Und Nektar jeder Bach dem Durst gezollt.
  51. Heuschrecken hat und Honig einst zu speisen
    Der Täufer in der Wüste nicht verschmäht,
    Und hoch und herrlich ist er drob zu preisen,
  52. Wie’s offenbart im Evangelium steht."

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