- Wir waren auf dem Gipfel jener Stiegen,
Wo sich des Berges zweiter Abschnitt zeigt,
Des Bergs, der läutert, die hinaufgestiegen.
- Hier, wo man auf den zweiten Vorsprung steigt,
Der, gleich dem ersten, rings die Höh’ umwindet,
Nur daß ein Bogen noch sich schneller beugt,
- Hier ist kein Bild, und jedes Zeichen schwindet,
Daher man glatt den Weg und das Gestad
Von des Gesteins schwarzgelber Farbe findet.
- "Dafern wir harrten, bis der Führer naht,"
So sprach Virgil darauf, "hier säumig stehend,
So wählten wir zu spät wohl unsern Pfad."
- Dann macht’ er, festen Blicks zur Sonne sehend,
Für die Bewegung seinen rechten Fuß
Zum Mittelpunkt, sich mit dem linken drehend.
- "O süßes Licht, du flößest den Entschluß
Zum neuen Weg mir ein, du führ’ uns weiter,"
Begann er, "wie ein treuer Führer muß.
- Du wärmst die Welt, du machst sie hell und heiter;
Nie wandle man, wenn sich dein Glanz verhehlt,
Drängt nicht die Not, und er sei unser Leiter."
- Soviel man hier auf eine Miglie zählt,
So weit schon gingen wir auf jenen Pfaden
In wenig Zeit, vom regen Trieb beseelt.
- Ein Geisterzug flog längs den Felsgestaden,
Gehört, doch nicht gesehn, herbei und schien
Zum Tisch der Lieb’ uns freundlich einzuladen.
- Der erste Geist rief im Vorüberflieh’n:
Sie haben keinen Wein! Die Worte klangen
Dann nochmals hinter uns im Weiterzieh’n.
- Und eh’ sie, sich entfernend, ganz verklangen,
Da rief: Ich bin Orest! – ein zweiter Geist,
Und war im schnellen Flug vorbeigegangen.
- "O", sprach ich, "Vater, sage, was dies heißt?"
Da klang die dritte Stimm’ in meine Frage
Und rief: Liebt den, der Böses euch erweist.
- Und er: "Du findest hier des Neides Plage!
Gegeißelt wird er hier, doch Liebe schwingt
Der strengen Geißel Schnur zu jedem Schlage.
- Doch wisse, daß der Zügel anders klingt.
Du wirst ihn hören, eh’ im Weitergehen
Dein Fuß zum Passe der Verzeihung dringt.
- Versuch’ es jetzo, scharf dorthin zu spähen,
Und vor uns wirst du Leute, langgereiht,
An dieser Wand des Felsens sitzen sehen.
- Da öffnet’ ich sogleich die Augen weit
Und sah die Schatten an der Felsenhalle,
An Farbe dem Gesteine gleich ihr Kleid.
- Und näher hört’ ich sie mit lautem Schalle
"Bitte für uns, Maria!" brünstig schrei’n,
"Michael und Petrus und ihr Heil’gen alle!"
- Möcht’ einer noch so hart und grausam sein,
Vor Mitleid wäre doch sein Herz entglommen,
Hält’ er, wie ich, gesehn der Armen Pein.
- Denn als ich nun so nahe hingekommen,
Daß ich Gebärd’ und Angesicht erkannt,
Da ward mein Herz durchs Auge schwer beklommen.
- Ihr Anzug war ein schlechtes Bußgewand;
Sie lehnten sich an sich und ihren Rücken
Sie allesamt an jene Felsenwand;
- Den Blinden gleich, die Not und Hunger drücken,
Und die an Ablaßtagen bettelnd stehn,
Und, Kopf an Kopf gedrängt, sich kläglich bücken,
- Indem sie, um das Mitleid zu erhöh’n,
Nicht minder mit den jämmerlichen Mienen,
Als mit den lauten Jammerworten fleh’n.
- Und, gleich den armen Blinden, war auch ihnen
Den bangen Schatten, welchen ich genaht,
Der Glanz des Himmelslichts umsonst erschienen.
- Gebohrt war durch die Augenlider Draht,
Ihr Auge, wie des Sperbers, ganz vernähen;
Der, wild, nicht nach des Jägers Willen tat.
- Mir aber schien es unrecht, daß ich sehend,
Doch ungesehn dort ging, drum wandt’ ich mich
Zum weisen Rat, nach seiner Meinung spähend.
- Er, der sogleich erriet, weswegen ich
Noch stumm, auf ihn die Blicke fragend lenkte,
Sprach: "Rede jetzt, doch kurz und sinnig sprich."
- An jener Seite, wo der Fels sich senkte,
Ging mir Virgil, wo leicht zu fallen war,
Weil kein Geländer dort den Rand verschränkte;
- Zur andern Seite saß die fromme Schar,
Und durch die grause Naht gepreßte Zähren,
Die ihre Wangen netzten, nahm ich wahr.
- "Ihr, sicher, euch im Lichte zu verklären,"
Begann ich nun, "das einzig euer Traum,
Das einzig euer Wunsch ist und Begehren,
- Die Gnade lös’ euch des Gewissens Schaum
Und mache drin auf reinem lauterm Grunde
Der Seele klaren Fluß zum Strömen Raum.
- Doch bitt’ ich euch, gebt mir gefällig Kunde:
Ist eine Seel’ aus Latium hier? – Ich bin
Für sie vielleicht dann hier zur guten Stunde."
- "O Bruder, jede Seel’ ist Bürgerin
Von einer wahren Stadt – doch willst du fragen,
Ob ein’ in Welschland lebt als Pilgerin."
- So schien’s, von mir noch etwas fern, zu sagen,
Daher ich, weil ich fast das Wort verlor,
Sogleich beschloß, mich weiter vor zu wagen.
- Und eine wartete, so kam mir’s vor,
Auf Antwort, und, um’s deutlicher zu zeigen,
Hob sie, dem Blinden gleich, das Kinn empor.
- "Du," sprach ich, "die sich beugt, um aufzusteigen,
Warst du’s, die Antwort gab, so magst du mir
Jetzt deinen Ort und Namen nicht verschweigen."
- "Ich war von Siena, und mit diesen hier",
So sprach sie, "läutr’ ich mich vom Lasterleben,
Und weinend fleh’n um Gottes Gnade wir.
- Sapia hieß ich, ob ich gleich ergeben
Der Torheit war, denn mir schien andrer Leid
Weit größre Lust, als eignes Glück zu geben.
- Doch zweifelst du an meinem tollen Neid,
So höre nur! – Die Jugend war verflossen,
Und abwärts ging der Bogen meiner Zeit,
- Als nah bei Colle meine Landsgenossen
Den kampfbereiten starken Feind erreicht;
Da bat ich Gott um das, was er beschlossen.
- Drauf wird ihr Heer geschlagen und entweicht,
Und ich, erblickend, wie der Feind es jage,
Fühl’ eine Lust, der keine weiter gleicht,
- So daß ich kühn den Blick gen Himmel schlage
Und rufe: Gott, nicht fürcht’ ich mehr dich jetzt!
Der Amsel gleich am ersten warmen Tage.
- Nach Gottes Frieden sehnt’ ich mich zuletzt
Am Rand des Lebens, aber meine Schulden,
Durch Reue wären sie nicht ausgewetzt,
- Wenn Pettinagno meiner nicht in Hulden
Gedacht in seinem heiligen Gebet;
Noch müßt’ ich vor dem Tore harrend dulden.
- Doch wer bist du, der offnen Auges geht,
So scheint’s, um unsern Zustand zu erkunden,
Und dessen Atem noch beim Sprechen weht?" –
- "Mit Draht wird einst mein Auge hier durchwunden,"
So sprach ich, "doch ich hoffe kurze Frist,
Weil man’s nur selten scheel vor Neid gefunden.
- Mehr als das Leid, ob des du traurig bist,
Hat Sorge mir die untre Qual bereitet.
Schon fühl’ ich, wie die Bürde drückend ist."
- Und sie: "Wer also hat dich hergeleitet,
Daß du, um rückzukehren, hier erscheinst?"
"Er, der dort schweigend steht, hat mich begleitet.
- Ich leb’, erwählter Geist, und wenn ich einst
Jenseits als Sterblicher für dich bewegen
Die Füße soll, so fordre, was du meinst."
- "So Neues sagtest du," sprach sie dagegen,
"Daß es dir sicher Gottes Huld bewährt.
Verwende drum dein Fleh’n zu meinem Segen.
- Ich bitte dich, bei allem, was dir wert,
Wirst du dich je im Tuscierland befinden,
So sei zum Bessern dort mein Ruf gekehrt.
- Beim eiteln Volk wirst du die Meinen finden,
Das Talamon verlockt zum Hoffnungswahn;
Und wie bei Dianas Quelle wird er schwinden,
- Doch setzen mehr die Admirale dran."
|