- So viel, als bis zum Schluß der dritten Stunde,
Vom Tagsbeginn des Wegs die Sphäre macht,
Die wie ein Kindlein tanzt im ew’gen Runde,
- So viel des Weges halt’, eh’ noch vollbracht
Ihr Tageslauf, die Sonne zu vollbringen;
Dort war es Vesperzeit, hier Mitternacht.
- Auf jenen Pfaden, die den Berg umringen,
Schien uns die Sonne mitten ins Gesicht,
Weil wir jetzt g’rade gegen Westen gingen.
- Da fiel ein Glanz mit lastendem Gewicht
Mir auf die Stirn, mich mehr als erst zu blenden.
Ich staunt’, und was es war, begriff ich nicht.
- Schnell deckt’ ich mir die Augen mit den Händen
Als wie mit einem Schirm, daß vor der Glut
Die schwachen Blicke Schutz und Ruhe fänden.
- Gleich wie der Strahl vom Spiegel, von der Flut
Nach jenseits hüpft, und dann beim Aufwärtssteigen,
So wie vorher beim Niedersteigen tut,
- Weil er von Linien, die sich senkrecht neigen,
So hier wie dort abweicht in gleichem Zug,
Wie uns die Kunst und die Erfahrung zeigen;
- So ward mein Auge jetzt in jähem Flug
Getroffen vom zurückgeworfnen Lichte,
Drob ich’s in Eile schloß und niederschlug.
- "Was, süßer Vater, ist dies? Dem Gesichte
Will, was ich tue, nicht zum Schutz gedeih’n.
Es scheint, als ob der Glanz hierher sich richte!"
- Drauf er: "Nicht staune, wenn in solchem Schein
Noch blendend dir des Himmels Diener nahen.
Ein Bote kommt und lädt zum Steigen ein.
- Bald wird, was erst die Augen tränend sahen,
Dir so zur Lust, als du nur Fähigkeit,
Sie zu empfinden, von Natur empfahen."
- Der Engel sprach zu uns voll Freudigkeit:
"Geht dorten ein auf minder schroffen Stiegen,
Als jene sind, die ihr gestiegen seid."
- Indem wir nun zusammen aufwärts stiegen,
Sang’s hinter uns: "Heil den Barmherz’gen, Heil!"
Und wieder klang’s: "Sei froh in deinen Siegen!"
- Und da wir beid’ allein, und minder steil
Die Treppen waren, dacht’ ich: Noch im Gehen
Wird Lehre wohl vom Meister dir zuteil.
- "Was mochte Guido bei dem Gut verstehen,
Das Ausschluß der Genossenschaft gebeut?"
Ich sprach’s, gewandt, ihm ins Gesicht zu sehen.
- "Weil stets sein Hauptfehl ihm den Schmerz erneut"
Sprach drauf Virgil, "will er dich weiser machen
Und tadelt drum, was er nun schwer bereut.
- Denn euer Sehnen geht nach solchen Sachen,
Die Mitbesitz verringert, die durch Neid
In eurer Brust der Seufzer Glut entfachen.
- Doch möchten in des Himmels Herrlichkeit
Des Menschen Wünsch’ ihr rechtes Ziel erkennen,
War’ eure Brust von solcher Angst befreit.
- Je mehrere dies Gut ihr eigen nennen,
Je mehr besitzt des Guts ein jeder dort,
Je stärker fühlt er sich in Lieb’ entbrennen."
- "Noch fass ich nichts," versetzt’ ich meinem Hort,
"Und mindre Zweifel hat vorher das Schweigen
In meiner Seel’ erweckt, als jetzt dein Wort.
- Kann höher je der Reichtum vieler steigen,
Wenn man ein Gut verteilt, als wenn es nicht
Gemeinsam wäre. Sondern einem eigen?"
- Und er: "Weil, nur auf Erdengut erpicht,
Dein Geist noch nicht den höhern Flug gewonnen,
Drum schöpfst du Finsternis aus wahrem Licht.
- Des Himmels unaussprechlich große Wonnen,
Sie eilen so ins liebende Gemüt,
Wie nach dem Spiegel hin der Strahl der Sonnen
- Sie geben sich je mehr, je mehr es glüht,
Und reicher strömt die ew’ge Kraft hernieder,
Je freudiger des Herzens Lieb’ erblüht.
- Erhebt die Seel’ erst aufwärts ihr Gefieder,
Dann liebt sie mehr, je mehr zu lieben ist,
Denn eine strahlt den Glanz der andern wieder –
- Und g’nügt mein Wort dir nicht, in kurzer Frist
Wird dort von dir Beatrix aufgefunden,
Durch welche du dann ganz befriedigt bist.
- Jetzt sorge nur, daß bald von deinen Wunden
Die fünf sich schließen wie das erste Paar,
Das von der Stirn durch Reu’ und Leid geschwunden."
- Schon wollt’ ich sagen: Deine Red’ ist klar!
Da war ich an des andern Kreises Saume,
Wo schnell mein Wort gehemmt durch Schaulust war.
- In einen Tempel schien, von wachem Traume
Dahingerissen, meine Seel’ entfloh’n,
Und Leute sah ich viel in seinem Raume.
- Am Eingang schien mit süßem Mutterton
Und zärtlicher Gebärd’ ein Weib zu sagen:
"Was hast du dies an uns getan, mein Sohn?
- Wir suchten dich voll Angst seit dreien Tagen,
Ich und der Vater" – sprach’s, und wundersam
Schien sie vom Weh’n der Luft davongetragen.
- Drauf vors Gesicht mir eine zweite kam,
Von Zähren naß, die – wohl war’s zu erkennen –
Dem Aug’ entpreßte zornerzeugter Gram.
- Sie rief: "Willst du den Herr’n der Stadt dich nennen,
Ob deren Namen Götter sich gegrollt,
Wo Strahlen jeder Wissenschaft entbrennen,
- Dann, Pisistrat, zahl’ ihm der Frechheit Sold,
Der’s wagte, deine Tochter zu umfassen!"
Allein der Herr, der liebreich schien und hold,
- Entgegnet’ ihr, die also rief, gelassen:
"Wird jener, der uns liebt, von uns verdammt,
Was tun wir dann an solchen, die uns hoffen?"–
- Dann sah ich eine Schar, von Zorn entflammt,
Und einen Jüngling dort, von ihr gesteinigt,
Tod! Tod! so schrien sie wütend allesamt.
- Er beugte sich, schon bis zum Tod gepeinigt,
Des Last ihn zu der Erde niederrang,
Doch seinen Blick dem Himmel stets vereinigt,
- Und fleht’ empor zu Gott in solchem Drang:
"Vergib der Wut, die gegen mich entbrannte!"
Mit einem Blicke, der zum Mitleid zwang.
- Als meine Seele sich von außen wandte
Zurück zu dem, was wahr ist außer ihr,
Und ich nun den nicht falschen Wahn erkannte,
- Da sprach mein Führer, der, nicht weit von mir,
Mich gleich dem Schläfer, der erwacht, erblickte:
"Nicht halten kannst du dich! Was ist mit dir?
- Bereits seit einer halben Stunde knickte
Dein Knie, du taumeltest, dein Auge brach,
Als ob dich Schlummer oder Wein bestrickte."
- "O süßer Vater, hörst du’s an" – dies sprach
Ich drauf zu ihm – "so will ich dir verkünden,
Was mir erschien, als mir die Kraft gebrach."
- "Ob mir entgegen hundert Masken stünden,"
Entgegnet’ er, "und deckten dein Gesicht,
Doch würd’ ich, was du denkst, genau ergründen.
- Das, was du sahst, du sahst’s, damit du nicht
Dich ungemahnt verschlössest jenem Frieden,
Des Strom hervor aus ew’ger Quelle bricht.
- Was ist dir? fragt’ ich nicht, wie der danieden
Zu fragen pflegt, des Auge nicht mehr schaut,
Sobald die Seel’ aus seinem Leib geschieden.
- Die Füße dir zu kräft’gen, fragt’ ich laut,
Denn treiben muß man so den wachen Trägen,
Den Tag zu nützen, eh’ der Abend graut."
- Wir gingen beid’ in sinnigem Erwägen
Dem Abend zu und sah’n, soweit man kann,
Der Sonne tiefem Strahlenglanz entgegen.
- Und sieh, ein Rauch kam nach und nach heran,
Der, schwarz wie Nacht, sich bis zu uns erstreckte,
Und nirgends traf man Raum zum Weichen an,
- Daher er bald uns Aug’ und Himmel deckte.
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