Dante Alighieri
Die Göttliche Komödie
Dante Alighieri

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Fünfzehnter Gesang

  1. So viel, als bis zum Schluß der dritten Stunde,
    Vom Tagsbeginn des Wegs die Sphäre macht,
    Die wie ein Kindlein tanzt im ew’gen Runde,
  2. So viel des Weges halt’, eh’ noch vollbracht
    Ihr Tageslauf, die Sonne zu vollbringen;
    Dort war es Vesperzeit, hier Mitternacht.
  3. Auf jenen Pfaden, die den Berg umringen,
    Schien uns die Sonne mitten ins Gesicht,
    Weil wir jetzt g’rade gegen Westen gingen.
  4. Da fiel ein Glanz mit lastendem Gewicht
    Mir auf die Stirn, mich mehr als erst zu blenden.
    Ich staunt’, und was es war, begriff ich nicht.
  5. Schnell deckt’ ich mir die Augen mit den Händen
    Als wie mit einem Schirm, daß vor der Glut
    Die schwachen Blicke Schutz und Ruhe fänden.
  6. Gleich wie der Strahl vom Spiegel, von der Flut
    Nach jenseits hüpft, und dann beim Aufwärtssteigen,
    So wie vorher beim Niedersteigen tut,
  7. Weil er von Linien, die sich senkrecht neigen,
    So hier wie dort abweicht in gleichem Zug,
    Wie uns die Kunst und die Erfahrung zeigen;
  8. So ward mein Auge jetzt in jähem Flug
    Getroffen vom zurückgeworfnen Lichte,
    Drob ich’s in Eile schloß und niederschlug.
  9. "Was, süßer Vater, ist dies? Dem Gesichte
    Will, was ich tue, nicht zum Schutz gedeih’n.
    Es scheint, als ob der Glanz hierher sich richte!"
  10. Drauf er: "Nicht staune, wenn in solchem Schein
    Noch blendend dir des Himmels Diener nahen.
    Ein Bote kommt und lädt zum Steigen ein.
  11. Bald wird, was erst die Augen tränend sahen,
    Dir so zur Lust, als du nur Fähigkeit,
    Sie zu empfinden, von Natur empfahen."
  12. Der Engel sprach zu uns voll Freudigkeit:
    "Geht dorten ein auf minder schroffen Stiegen,
    Als jene sind, die ihr gestiegen seid."
  13. Indem wir nun zusammen aufwärts stiegen,
    Sang’s hinter uns: "Heil den Barmherz’gen, Heil!"
    Und wieder klang’s: "Sei froh in deinen Siegen!"
  14. Und da wir beid’ allein, und minder steil
    Die Treppen waren, dacht’ ich: Noch im Gehen
    Wird Lehre wohl vom Meister dir zuteil.
  15. "Was mochte Guido bei dem Gut verstehen,
    Das Ausschluß der Genossenschaft gebeut?"
    Ich sprach’s, gewandt, ihm ins Gesicht zu sehen.
  16. "Weil stets sein Hauptfehl ihm den Schmerz erneut"
    Sprach drauf Virgil, "will er dich weiser machen
    Und tadelt drum, was er nun schwer bereut.
  17. Denn euer Sehnen geht nach solchen Sachen,
    Die Mitbesitz verringert, die durch Neid
    In eurer Brust der Seufzer Glut entfachen.
  18. Doch möchten in des Himmels Herrlichkeit
    Des Menschen Wünsch’ ihr rechtes Ziel erkennen,
    War’ eure Brust von solcher Angst befreit.
  19. Je mehrere dies Gut ihr eigen nennen,
    Je mehr besitzt des Guts ein jeder dort,
    Je stärker fühlt er sich in Lieb’ entbrennen."
  20. "Noch fass ich nichts," versetzt’ ich meinem Hort,
    "Und mindre Zweifel hat vorher das Schweigen
    In meiner Seel’ erweckt, als jetzt dein Wort.
  21. Kann höher je der Reichtum vieler steigen,
    Wenn man ein Gut verteilt, als wenn es nicht
    Gemeinsam wäre. Sondern einem eigen?"
  22. Und er: "Weil, nur auf Erdengut erpicht,
    Dein Geist noch nicht den höhern Flug gewonnen,
    Drum schöpfst du Finsternis aus wahrem Licht.
  23. Des Himmels unaussprechlich große Wonnen,
    Sie eilen so ins liebende Gemüt,
    Wie nach dem Spiegel hin der Strahl der Sonnen
  24. Sie geben sich je mehr, je mehr es glüht,
    Und reicher strömt die ew’ge Kraft hernieder,
    Je freudiger des Herzens Lieb’ erblüht.
  25. Erhebt die Seel’ erst aufwärts ihr Gefieder,
    Dann liebt sie mehr, je mehr zu lieben ist,
    Denn eine strahlt den Glanz der andern wieder –
  26. Und g’nügt mein Wort dir nicht, in kurzer Frist
    Wird dort von dir Beatrix aufgefunden,
    Durch welche du dann ganz befriedigt bist.
  27. Jetzt sorge nur, daß bald von deinen Wunden
    Die fünf sich schließen wie das erste Paar,
    Das von der Stirn durch Reu’ und Leid geschwunden."
  28. Schon wollt’ ich sagen: Deine Red’ ist klar!
    Da war ich an des andern Kreises Saume,
    Wo schnell mein Wort gehemmt durch Schaulust war.
  29. In einen Tempel schien, von wachem Traume
    Dahingerissen, meine Seel’ entfloh’n,
    Und Leute sah ich viel in seinem Raume.
  30. Am Eingang schien mit süßem Mutterton
    Und zärtlicher Gebärd’ ein Weib zu sagen:
    "Was hast du dies an uns getan, mein Sohn?
  31. Wir suchten dich voll Angst seit dreien Tagen,
    Ich und der Vater" – sprach’s, und wundersam
    Schien sie vom Weh’n der Luft davongetragen.
  32. Drauf vors Gesicht mir eine zweite kam,
    Von Zähren naß, die – wohl war’s zu erkennen –
    Dem Aug’ entpreßte zornerzeugter Gram.
  33. Sie rief: "Willst du den Herr’n der Stadt dich nennen,
    Ob deren Namen Götter sich gegrollt,
    Wo Strahlen jeder Wissenschaft entbrennen,
  34. Dann, Pisistrat, zahl’ ihm der Frechheit Sold,
    Der’s wagte, deine Tochter zu umfassen!"
    Allein der Herr, der liebreich schien und hold,
  35. Entgegnet’ ihr, die also rief, gelassen:
    "Wird jener, der uns liebt, von uns verdammt,
    Was tun wir dann an solchen, die uns hoffen?"–
  36. Dann sah ich eine Schar, von Zorn entflammt,
    Und einen Jüngling dort, von ihr gesteinigt,
    Tod! Tod! so schrien sie wütend allesamt.
  37. Er beugte sich, schon bis zum Tod gepeinigt,
    Des Last ihn zu der Erde niederrang,
    Doch seinen Blick dem Himmel stets vereinigt,
  38. Und fleht’ empor zu Gott in solchem Drang:
    "Vergib der Wut, die gegen mich entbrannte!"
    Mit einem Blicke, der zum Mitleid zwang.
  39. Als meine Seele sich von außen wandte
    Zurück zu dem, was wahr ist außer ihr,
    Und ich nun den nicht falschen Wahn erkannte,
  40. Da sprach mein Führer, der, nicht weit von mir,
    Mich gleich dem Schläfer, der erwacht, erblickte:
    "Nicht halten kannst du dich! Was ist mit dir?
  41. Bereits seit einer halben Stunde knickte
    Dein Knie, du taumeltest, dein Auge brach,
    Als ob dich Schlummer oder Wein bestrickte."
  42. "O süßer Vater, hörst du’s an" – dies sprach
    Ich drauf zu ihm – "so will ich dir verkünden,
    Was mir erschien, als mir die Kraft gebrach."
  43. "Ob mir entgegen hundert Masken stünden,"
    Entgegnet’ er, "und deckten dein Gesicht,
    Doch würd’ ich, was du denkst, genau ergründen.
  44. Das, was du sahst, du sahst’s, damit du nicht
    Dich ungemahnt verschlössest jenem Frieden,
    Des Strom hervor aus ew’ger Quelle bricht.
  45. Was ist dir? fragt’ ich nicht, wie der danieden
    Zu fragen pflegt, des Auge nicht mehr schaut,
    Sobald die Seel’ aus seinem Leib geschieden.
  46. Die Füße dir zu kräft’gen, fragt’ ich laut,
    Denn treiben muß man so den wachen Trägen,
    Den Tag zu nützen, eh’ der Abend graut."
  47. Wir gingen beid’ in sinnigem Erwägen
    Dem Abend zu und sah’n, soweit man kann,
    Der Sonne tiefem Strahlenglanz entgegen.
  48. Und sieh, ein Rauch kam nach und nach heran,
    Der, schwarz wie Nacht, sich bis zu uns erstreckte,
    Und nirgends traf man Raum zum Weichen an,
  49. Daher er bald uns Aug’ und Himmel deckte.

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