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71.

Basel, 12. Mai 1883.

Nehmen Sie mir es nicht für ungut, dass ich Ihren Brief vom 30. März erst jetzt beantworte; im April hatte ich einen bösen Katarrh, der auch jetzt noch nicht gänzlich gewichen ist, und noch als derselbe in seiner Blüte stand, musste ich 20. April das Semester beginnen. Dieses aber ist ein recht mühsames und hält mich Abend um Abend bis 9 Uhr am Schreibtisch, so dass ich die Zeit zu Briefen eigentlich stehlen muss.

Ich beneide Sie um Ihren jugendlichen Feuereifer, womit Sie jetzt die Malerei als etwas Neues und Unvergleichliches ergriffen haben. Während wir Bücherleute es nur mit Schreiben und Reden zu tun haben, bringt doch der Maler etwas Wirkliches zustande, worin er sich und eine Sache gibt und worauf er sich berufen kann. Ahnungsvoll und gross sind Ihre Worte über Studien an Weibsleuten, dergleichen in Paris denn auch eher zu absolvieren ist als anderswo, denn nur in Paris liefert das Weibsstück in seinem Sitzen, Gehen, Lehnen usw. zugleich das Motiv, während man in andern Klimaten gewiss eine ebensogrosse Auswahl der blossen schönen Formen hat. Ach, Sie glauben nicht, was für kuriose Erscheinungen von jungen Deutschinnen man jetzt seit Beginn des Reisestromes hier wahrnimmt! Vielleicht hie und da hübsch geboren, aber auf Mädchengymnasien verhockt, odiös mit den Schultern vorwärts, auf der Nase ein Lorgnon oder auch schon die Brille, von irgendeinem Schimmer unbewusster Anmut keine Spur! Was Engländerinnen betrifft, welchen bisweilen die grösste Schönheit nicht zur Anmut verhilft – deren sehen Sie in Paris genug.

Ich meinesteils bin ganz darauf vorbereitet, in den Sommerferien eine schöne Gegend, eigentlich aber eine gründliche Kur gegen den Katarrh und dessen Nebenumstände, aufzusuchen und die grossen Städte und Galerien diesmal liegen zu lassen. Man wird eben in Gottes Namen älter.

Der hiesigen Kunstausstellung gehe ich fortwährend systematisch aus dem Wege und geniesse von dieser Seite tiefen Frieden.


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