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Gravedona am Comer See,
Dienstag, 30. Juli 1878.
Ich fange einen Brief an Sie an, ohne zu wissen, wo ich selbigen schliessen werde, nach einem grossen, weiten Vormittagsbummel zwischen lauter steilen, engen Gassen, Gärten, hochhingepfiffenen Kirchlein usw. Summa ich ging wie zwischen lauter verschobenen Theaterdekorationen.
Freitag abend fuhr ich noch bis Zürich. Samstag vormittag nach Chur und von hier nachts elf Uhr über den Splügen; Sonntag gegen Mittag langte ich in Chiavenna an, vom Frieren auf dem Berg gleich in den wunderbaren heissen Süden, wo über die Gartenmauern Feigenbäume und hohe Oleander herüberschauen. Das ganze Nest ist zwischen haushohe Höllenbrocken eines urweltlichen Felssturzes eingenistet, zwischen welchen, je nach dem Reflex, gedeiht von Pflanzen, was nur wachsen kann, da zu der spanischen Hitze auch noch reichliches fliessendes Wasser kommt. Dazu einige einfach gute Vestiboli mit Säulen gegen den Hof und mit Aussicht auf lauter Wein- und Felshalden, denn den Himmel sieht man nur, wenn man den Kopf ganz nach oben dreht. Abends bei der Lorettokirche mit der Aussicht auf das ganze Nest hinab war ich glückselig.
Gestern früh bei einem ersehnten und köstlichen feinen Regen fuhr ich an den Comer See. NB. auf dem Bock beim Postillon, der mir seine Decke über die Knie legte, mit meinem aufgespannten Schirm, so dass ich ganz trocken blieb. Dann von Colico per Dampfer hieher, wo ich zwar das sogenannte »gute« Hotel geschlossen fand, dafür aber in einem echten Lombardenalbergo mich ganz vortrefflich befinde. Aus meinem Fenster sehe ich, wenn ich auf dem Bette leitsche Dialekt: behaglich liege., vier Bergkirchen, wovon die oberste schwindelnd hoch. Von Fleischwaren habe ich bisher in Italien nichts verzehrt als Koteletten, welche in der hiesigen Kneipe den höchsten Grad von Vortrefflichkeit erreicht haben. Dazu esse ich minestra di paste, in Butter gebackene grosse Bohnen (eine Delice! schmeckt wie Kastanien) und trinke einen heissen, aber vorzüglichen Barbera. In den beiden schmierigen kleinen Cafés hier habe ich einen Caffè (NB. nero) zu 20 Centesimi gefunden, von welchem es mir rätselhaft ist, dass in einem Lande mit Eingangszöllen, wie sie Italien hat, ein so vorzüglicher Kaffee gebraut werden kann.
Es sind nun wohl in Gravedona zwei merkwürdige romanische Kirchen und anderes mehr – aber was will das heissen gegen die majestätische Villa auf Felsen direkt über dem See, welche 1586 Kardinal Tolomeo Galli bauen liess und zwar durch Pellegrino Tibaldi. – Quadratisch, vier gewaltige Loggien auf den Ecken, in der Mitte mit einem Riesensaal, der durch zwei Stockwerke geht und sich in drei Fenstern gegen eine Vorhalle nach dem See hin öffnet. In dieser Vorhalle ist zwischen zwei Säulen und rechts und links Pilaster von rotem Marmor eine Aussicht eingefasst, wie man sie eben nur am Comer See hat. Die Lieblingsfronte Tibaldis aber ist die Gartenfronte, wo das Hauptgeschoss der Seefronte zum Erdgeschoss wird, weil der Garten höher liegt. Ich weiss, ich habe grässliche Formen gezeichnet und der offene Mittelbau ist mir viel zu engbrüstig geraten, auch zeichne ich jonische und toskanische Säulen wie gestreckte Bratwürste, aber ich weiss auch, Sie verzeihen mir Die Bleistift-Zeichnung geben wir im Faksimile..
Dieser Bau wurde im Innern nie fertig, und es wäre eine herrliche Aufgabe, diese volte à specchio und andere Gewölbe aller Art zu stukkieren und zu malen! Der Bau als solcher ist vollkommen gut erhalten und gesund. Vom Kardinal erbten ihn die Duchi del Vitto zu Neapel, welche zur grössten Seltenheit hinkamen und nicht hindern konnten, dass certi gentiluomini del paese sich bisweilen im Erdgeschoss einnisteten und unterschiedliche Orgien hielten. Erst 1819 verkaufte der letzte del Vitto das Ding an den Oheim des jetzigen Besitzers, des Advokaten Pero, und nun ist alles voll Kokonwirtschaft, mit dem bekannten Duft, der mich von (meine fast vertrocknete Tinte ist nach guter italienischer Sitte mit etwas rotem Wein aufgefrischt worden, und ich fahre fort:) der mich von Anno 46 von Neapel her anheimelt, wo ich auch die Kokons als Bestände eines Palazzo bei Portici kennen lernte unter Aufsicht des Herrn Major, der kurz vorher die letzte Maitresse des verstorbenen Duca di San Weissnichtwas mit Mühe ausgetrieben hatte. So ist nun auch in Palazzo Pero die Ehrbarkeit eingezogen. In der Mitte des Riesensaales an einem mächtigen Tisch zwischen vier Kokonleserinnen thronte die Mutter des jetzigen Herrn, eine grosse alte Donna Lombarda mit bedeutenden, ehemals gewiss bildschönen Zügen und ringsum andere Tische mit Kokonleserinnen, und als ich im Garten zeichnete, tönte aus einem Saale der Arbeiterinnen ein stattlicher Gesang, worin jene tiefen Altstimmen vorklangen, die man bei uns mit der Laterne suchen muss. – Abends war Signor Pero in der Wirtschaft, d. h. wir sassen all' italiana in der Küche und tranken unter langen Gesprächen einen sehr guten Vino nostrano, den man neben dem Barbera auch nicht verachten darf, da er doch nicht so auf die Nerven haut. Es war das erste Mal in meinem doch schon so langen Leben, dass ich mit dem Besitzer eines klassischen Riesenbaues kneipte, und der Mann kam mir ganz venerabel vor.
Die Zigarren, welche ich rauche, sog. Cigari di Roma zu 10 Cents, sind etwas besser, als ich sie zu finden fürchtete, und ungefähr so geblieben wie vor zwei Jahren. Man muss ja heutigen Tages immer Gott danken, wenn irgendwas nicht jährlich teurer und schlechter wird. – Dagegen haben die Mailänder Tabaksdebitanten dieser Tage der Regie die Erklärung abgegeben, sie könnten die sog. Cigari Sella nicht mehr übernehmen; es wolle sie eben niemand mehr kaufen, seitdem sie nicht mehr wie früher aus Kohlblättern, sondern aus Maisblättern gefertigt würden. (Gott allein und die Regie weiss, mit Hilfe welcher Sauce.)
An der Decke meines Zimmers wiederholt sich viermal symmetrisch ein Zierrat, ein Mittelding zwischen einem Donnerkeil des Zeus und einer Krawatte oder Schlips. Man möchte sich denjenigen herumziehenden Mailänder Stubenmaler vorstellen können, in dessen Gemüt das drohende Pathos und die persönliche Eleganz so ineinanderflossen.
Heute bleibe ich noch hier und fahre wahrscheinlich morgen nach Lecco, vielleicht schon nach Bergamo.