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32.

London, Samstag, 16. Aug.

Journal-Fetzen.

Dies Jahr will ich nun meine letzten Reisepflichten bündig abgetan haben; es musste sein, und ich glaube in meiner Wissenschaft damit einige Progresse zu machen. Aber damit soll's auch genug sein – wenn mich nicht doch noch einmal »in spätern Jahren« Italien in seine Garne lockt. Das nächste Jahr aber will ich gewiss in Basel bleiben und nur drei- bis viertägige Ausflüge machen, welche ja genügen für das Bedürfnis des Abwesendgewesenseins, des Sichlosmachens. Auch haben schon Lords für gut befunden, jahrelang daheim zu bleiben, wenn sie zuvor auf Reisen zuviel Geld ausgegeben hatten. Und wäre es nur die Entfernung von meinem Klimperkasten, ich wäre ein Narr, wenn ich ohne zwingende Ursache nächstes Jahr Basel verliesse. Sog. Landaufenthalte werde ich vornehmen, wenn mir sie einmal der Doktor verordnet, und früher nicht; ich hasse dies gemeinsame Faulenzen mit vorgeschriebener Geselligkeit und mit dem gemeinsamen Herumträmpelen. Wer gutmütig genug ist, wird dabei geistig total aufgenützt; man gibt sich eine enorme Mühe, stumpfe Leute unterhalten zu helfen, und muss froh sein, wenn sie nicht die unvermeidlich eintretende Halbvertraulichkeit zu törichtem Zeug missbrauchen.

Sie sehen, wie sehr meine Gedanken von dem an sich höchst schätzenswerten London sich allgemach abwenden, aber ich harre aus bis zum 3. oder 4. September. Mit dem Gros des Notizenmachens bin ich so ziemlich fertig; jetzt beginnt das Nachholen, das dritte, vierte, fünfte Betrachten der Kunstwerke, wobei nicht selten die Erfahrung gemacht wird, dass man bei der ersten Betrachtung und damaligen Notiz müsse dumm gewesen sein zum Heufressen. Ich kenne das schon von Italien und anderswo her.

Gestern kam ich im Southkensington zu demjenigen Ankauf, der mir der erstaunlichste schien: für einen kleinen Reliquienkasten, bloss von vergoldetem Kupfer mit Email und Elfenbein, hat man bei der Vente Soltikoff auf einem Brett 2142 Pfund bezahlt. Aber es ist eben bei nur mässigem Einzelwert der Elfenbeinreliefes eine pièce de milieu, welche als Schlusspunkt des ganzen, enorm reichen Ganges dient; das kleine Ding hat die Form einer Kirche a croce greca mit einer niedlichen Emailkuppel, und deshalb musste man es haben. Was jene ehemalige Sammlung Soltikoff betrifft, deren grösste Prachtsachen jetzt hier sind, so will ich dem Fürsten Soltikoff nichts Böses nachgesagt haben, aber meine Phantasie ist gezwungen, all dem Sakristeiraub nachzusinnen, all der geheimen Bestechung und Gewissensbedrängung halbberechtigter Verkäufer, ohne welche ein solch enormer Haufe von Schätzen nicht zusammenkommt. Die Engländer selber legen bei Gelegenheit das Bestreben an den Tag, sich und die Welt zu beruhigen; an der Krone des Königs Theodoros von Abyssinien steht die Notiz, derselbe habe sie einem Vorgänger entrissen gehabt – ergo. In den Händen des englischen Volkes aber bekommt man die Sachen doch noch zu sehen, während das, was von Rothschild in Paris, von Oppenheim und Konsorten an Kirchenschätzen usw. aufgekauft wird, den Augen der Menschen verschwindet. Und diese Juden haben einen ganz aparten Eifer für christliche Kirchensachen, soviel ich aus Notizen über Verkäufe sehen kann.

Samstag nachts.

Wie ich eben aus dem Majolika-Café heimkomme, überreicht man mir Ihr gestriges zu meinem grossen Jubel. Vor allem die aufleuchtenden Hoffnungen auf wenigstens einen Rest von Markgräfler, der dieses Jahr noch zeitig werden könnte! Das ist für mich als badischen Hauptbummler, der ja allen Weindörfern entlang patrouilliert, eine Lebensfrage. Denn wenn nichts gewachsen ist, fangen die Leute an zu mischeln, wie wir es in den fünf bösen Weinjahren nach 1850 schon einmal mit Schrecken erlebt haben. Verzeihen Sie, dass diese Ihre Nachricht in mir vor allem das lebhafteste Dankgefühl rege machte. – Wenn die Basler Bierwirte heimgesucht werden wegen ihrer schmierigen Pressionen, so gönne ich es den Schuldigen von Herzen, schon wegen der ins Bier gepumpten Kloakenluft, ganz besonders aber wegen der Schläuche, die so recht eine Erfindung unseres liebenswürdigen Jahrhunderts und nur mit Bierverderbnis vereinbar zu denken sind. Den Geymüller grüssen Sie ja sehr nachdrücklich von mir, und suchen Sie ja von ihm zu ergründen, wie weit er mit seinem St. Peters-Text wirklich ist. Ich bin, weiss Gott, nicht ganz ohne Sorgen über diese Publikation.

Heute war ich im Parlamentspalast, man kann wieder hinein, da gestern das Parlament vertagt worden ist. Ich weiss noch, welchen fast ungeteilten Eindruck mir das Werk 1860 machte, seither hat aber das Studium des Gotischen, zumal des Englisch-Gotischen solche Progresse gemacht, dass man jetzt, zumal in all den prächtigen Boiserien, sehr viele Mängel, ja gänzlichen Mangel an Empfindung sieht. Einiges bleibt auf alle Zeiten grossartig, besonders die octagonal Hall in der Mitte, und höchst feierlich wirkt das ausschliessliche Oberlicht, indem in Sälen wie in Korridoren alle Wände unten geschlossen und nur oben in Fenstern geöffnet sind. Der Viktoria-Turm, wo die Königin vorfährt, mit der ganz kolossalen untern Halle, wirkt majestätisch. Aber alle Korridore und Türen im Innern sind eng, weil sie eben gotisch sein mussten. Ich möchte gern den Hohn eines Italieners hierüber anhören.

Gestern war ich auch in Westminster zu derjenigen Zeit, da man mit einem Tross anderer Sterblichen durch den Chor, Chorumgang usw. und in die Kapelle Heinrichs VII. (eigentlich einen überaus prachtvollen zweiten Chor) geführt wird. Dort ganz hinten bestattet das königliche Haus seine Gäste, wie z. B. einst die beiden jung in England gestorbenen Brüder des Louis Philippe – und so war auch jetzt eine der hintern Nischen abgesperrt, und Arbeiter hämmerten und meisselten darin – es hiess: für Lulu. Jeder honette Engländer begreift, dass dies anständig ist gegenüber Fürstenfamilien, mit welchen man festliche Empfänge austauschte, als sie noch am Glücksrad oben waren, und die radikalen Zeitungsschreiber lässt man hierzulande kläffen und erkundigt sich nicht gleich ängstlich, wie weit man »ihren Ideen Rechnung tragen« müsse. Noch eines war im Chor, Chorumgang und Chorkapellen von Westminster anders als Anno 1860: es sass alles dicht und voll von Aquarellisten und Ölfrevlern, welche den Tross von blossen Neugierigen (die sich von einem Kirchendiener mit Explikation herumführen lassen) ungefähr mit denjenigen Mienen betrachteten, welche ich an den Kopisten im Louvre bei der Weltausstellung von 1867 bemerkt hatte. Auf ihren Antlitzern stand lesbarlich geschrieben: wenn Euch doch nur der … holte. – Die Lichteffekte usw. in den verschiedenen Kapellen, die Durchblicke usw. sind natürlich längst numeriert! man kauft das Zeug in water-colours als Anblick Nr. 4, Nr. 7 usw. (Dieses lüge ich hinzu, es kann aber kaum anders sein.)

Sonntag morgen.

Endlich ein solider Regentag, und noch dazu ein Regensonntag, und in London! Vielleicht forciere ich nachmittags noch eine dritte Fahrt nach Hamptoncourt, wenn es sich irgend aufhellt. Sonst bleibe ich daheim hocken und sortiere Notizen und Photographien. Wie unendlich besser als in München und Dresden ist man doch hier dran! lauter Originalphotographien von bedeutend viel mehr Umfang als Kabinettphotographien und zu 1 Shilling das Stück, seit ich den Morelli heruntergeboten habe – während ich in München und Dresden blosses Kabinettformat, meist nur nach Stichen und Lithographien, mit ¾ Shilling bezahlen muss. Das kommt einzig davon her, dass hier kein Monopol existiert.

Wegen des Royal Aquarium muss ich doch noch bemerken, dass, was ich sonst auf Erden im Fach Café-chantant und Tingeltangel kannte, zwergähnlich ist im Vergleich damit. Das Aquarium ist nicht ein vergrößerter Tingeltangel, sondern ein verkleinerter Krystallpalast von Sydenham, sonst würde ich gar nicht davon gesprochen haben. Wir Londoner übersehen blosse Bagatellen.

Herrliches Essen! ich bin in meinem Leben noch nie so völlig nach meinem Geschmack genährt gewesen und gebe doch für Mittag- und Abendessen kaum je 6 Franken in summa aus. Wenn nicht die Wohnung teuer wäre, so könnte ich den Aufenthalt für eine moderne grosse Stadt wohlfeil nennen. Im System hat das Essen am meisten von dem in Wien, das ja bei Ihnen nicht schlecht angeschrieben ist. Von einer Kraftsuppe und einer Fleischspeise mit Kartoffeln werde ich pumpsatt; dazu ein schwarzer Kaffee ecco tutto. Herrlich ist, dass man zu Wein und Bier nicht genötigt wird; das Bier müssen sie ja über die Gasse holen, von der nächsten Bar, nämlich der Engländer trinkt gar kein anderes als ganz frisches; – statt dessen gilt der herrliche Kaffee, den sie in der Restauration machen, völlig als Äquivalent. Wein wird nur abends von mir konsumiert. Ich habe im Majolika-Café einen feinen, aber etwas versoffenen Reverend kennen gelernt, der mich freilich für seine church hat pressen wollen, worauf ich nicht eingehen konnte.


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